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Die Luhmannsche Lektion

Peter Sloterdijk spricht vom „Archipel Luhmann“, bei dessen Bereisung man auf dem Hintergrund nicht-identischer Lektüremengen irgendwann zu einer Art „Luhmanngrammatik“ finde, „aufgrund welcher man sich mit anderen Touristen in Luhmannland – und wohl auch mit wenigen wirklichen Einwohnern, sollte man sie treffen – doch halbwegs konsonant verständigen kann“ (Sloterdijk, in: Luhmann Lektüren, Berlin 2010, S. 93). Aber warum könnte es denn von Interesse sein, Luhmanns Archipel überhaupt zu bereisen und sich der „Luhmannschen Lektion“ auszusetzen (vgl. ebd. S. 92)? Siehe auch: "Gebrauche niemals den Imperativ!"

Peter Sloterdijk behauptet, dass Niklas Luhmanns Werk eine reale und radikale Vermehrung des Patrimoniums moderner Theoriekultur verkörpere… „Deswegen wird der Ausdruck ‚nach Luhmann‘ nicht eine von den üblichen Verabschiedungen vergangener Positionen im Fortgang des bloßen Zeitgeschehens bedeuten, sondern – dessen bin ich sicher – eine authentische Schwellenformel (ebd. S.92).“

Ein Jahr nach Niklas Luhmanns Tod – 1998 – strahlte der SWR2 unter dem Titel „Freiburger Vorträge – Niklas Luhmann – Beobachtungen der Moderne“ sechs Vorträge aus, von denen fünf endlich im Jahre 2010, herausgegeben von Wolfram Burckhardt, in einem vom Kulturverlag Kadmos edierten Bändchen: „Luhmann Lektüren“ erstmals in gedruckter Form erschienen sind.

Ich selbst war bei meinen Wanderungen durch „Luhmannland“ bereits im Jahr 1999 auf die Tonträger der Carl-Auer-Verlags gestoßen, die dankenswerter Weise die im Gedenken an Niklas Luhmann organisierte Vorlesungsreihe einem breiteren Hörerkreis zugänglich machte. Eine gedruckte Form der Vorträge lag hingegen nicht vor. In einer Dachkammer im abgelegenen Nordflügel des A-Gebäudes der Uni Koblenz – noch auf dem Oberwerth – reifte der Gedanke, das nur auf den Tonträgern zugängliche, gesprochene Wort in eine les- und damit nachvollziehbarere Form zu bringen. Zu meinem fünfzigsten Geburtstag 2002 habe ich mir meine eigene Festschrift zusammengebastelt. Im Anhang des Buches „Ich sehe was, was du nicht siehst!? Komm in den totgesagten Park und schau! (Koblenz, 2002) sind wesentliche Passagen der Vorlesungsreihe erstmals in Schriftform festgehalten und zusammengestellt worden.

Warum diese zeitaufwändige Mühe - gab es doch damals schon eine Reihe von redlichen Versuchen, in die Luhmannsche Version der Systemtheorie einzuführen (Peter Fuchs 1992, 1997, 1999; Detlef Horster 1997; Detlef Krause 1999; Walter Reese-Schäfer 1999 und 2003 noch Margot Berghaus und z.B. Christian Schuldt)?

Mit Erscheinen des oben erwähnten Bändchens aus dem Kadmos-Verlag ist mir noch einmal sehr deutlich geworden, warum ich mir diese Vorträge in tagelangen Anstrengungen einer mühsamen Transkription zugänglich gemacht habe. Neben den Anmerkungen von Norbert Bolz (S.34-52) und Peter Fuchs (S. 53-69) scheint mir insbesondere Peter Sloterdijks Vortrag: „Luhmann, Anwalt des Teufels – Von der Erbsünde, dem Egoismus der Systeme und den neuen Ironien“ (S. 91-158) geeignet, auf der einen Seite die erkenntnis- und gesellschaftstheoretischen Prämissen und Folgen des Luhmannschen Ansatzes auf den Begriff zu bringen, so wie er andererseits dazu zwingt, zentrale und damit unausweichliche ethische Aspekte zu thematisieren:

Norbert Bolz beschreibt die Vorgehensweise von Niklas Luhmann im Kontext einer sogenannten „Kybernetik zweiter Ordnung“, die uns lehre zu sehen, „dass man nicht sehen kann, was man nicht sehen kann“ – und vor allem – im Sinne der Definition des blinden Flecks – „dass man nicht sehen kann, dass man nicht sehen kann, was man nicht sehen kann“. Der blinde Fleck einer Beobachtung, so Bolz weiter, sei die Bedingung ihrer Möglichkeit, woran schließlich jede Vernunft zerschelle. Die Frage, welches Theoriedesign denn die Einsicht in die eigene Blindheit erträglich mache und sich durch das Wissen um ihren blinden Fleck nicht blockiere, beantworte Niklas Luhmann letztlich mit der Metapher, dass auch Wissenschaftler nur Ratten seien, die andere Ratten im Labyrinth aus irgendeiner gut gewählten Ecke heraus beobachteten. Aber keine Theorie könne voraussagen, wie die Ratten laufen. Es gebe nur die Chance der besseren Beobachtungsmöglichkeiten (vgl. Bolz, a.a.O., S. 51).

Peter Sloterdijk (S. 142f.) beschreibt diese Bescheidenheit als ein „Theorietreiben auf der Stufe der dritten Ironie“. Sie fördere eine Neigung zum Desengagement von fixen Meinungspositionen, weil das systemische Denken von sich her eine Komparatistik der Illusionen nahelege:

Sloterdijk konstatiert, dass die Intellektuellen, die für sich einen höheren Ernst reklamierten, weil sie sich als Fürsprecher einer Realität ersten Grades, einer unmittelbaren Not oder einer unabgekühlten Wut aufträten, genau diese Einsicht verweigerten. Die Entbindung der ungeheuerlichen Gewaltexzesse im 20. Jahrhundert und ihre Fortsetzung bis in die Gegenwart hinein schreibt Sloterdijk in Anlehnung an die Luhmannsche Haltung der „Selbstdesinteressierung“ dem allen Weltbeschreibungen erster Ordnung inhärenten Paranoia-Potential und dem von ihm gebundenen und entbundenen Gewaltpotential zu: „Wo immer Menschen anfangen, ihre Weltbilder distanzlos zu bewohnen und ihre Einteilungen des Seienden im ganzen als eine Arena realer Kämpfe zu erleben, dort sind sie der Versuchung ausgesetzt, für ihre Identitätskonstrukte bis zum bitteren Ende zu kämpfen und für ihre Fiktionen zu töten (ebd., S. 153).“

Dass sich die dringende Empfehlung „den Realitätsglauben als eine auswechselbare Größe“ zu begreifen, nicht nur als notwendige Theorieskepsis empfiehlt, sondern auch im Kontext von „therapeutischen Grundlagenreflexionen“ ratsam erscheint, verdeutlicht die entschiedene Alltagsrelevanz und –tauglichkeit des Luhmannschen Denkens: „Luhmann sagt hier in Übereinstimmung mit Leitsätzen des Radikalen Konstruktivismus,

 therapeutische Praxis dürfe nicht länger als erfolgreiche Anpassung des Subjekts an eine vorgeblich objektive Realität verstanden werden, sondern als Austausch eines unlebbaren Realitätskonstrukts gegen ein weniger unerträgliches (ebd., S. 151f.).“

In sprachlicher Variation laufen die Versuche, den Angelpunkt des Luhmannschen Denkens zu orten, immer wieder auf die Relativierung (nicht nur) aller Theoriebemühungen hinaus. Dieter Lenzen hat dies einmal mit der Formulierung auf den Punkt gebracht, dass jede Form der Repräsentation von Außenwelt immer nur eine bestimmte Form der Selbstrepräsentation sein könne. Ausrichtung und Konsequenzen des Luhmannschen System-Umwelt-Verständnisses, die Unterscheidung von biologischen, psychischen und sozialen Systemen (mit ihren jeweils spezifischen operativen Modi) sollen hier nur beiläufig thematisiert werden (siehe die Folienfolge zur Frage: „Was ist Kommunikation?“).

Peter Sloterdijk würdigt Niklas Luhmann viel mehr noch und sehr grundsätzlich als „advocatus diaboli“ und ruft ihn als Kronzeugen auf gegen einen Prozess, „den das paulinische und vornehmlich das augustinische Christentum gegen den Menschen und seinen transzendenten Verderber, den Teufel, angestrengt hat, indem es die Gattung der Sterblichen als Wesen beschrieb, die von einem frühen Moment ihrer Geschichte an unter die Knechtschaft des peccatum originale (oder der ersten Sünde) geraten seien (ebd. S. 98).“

Von dort aus entwickelt Sloterdijk in ständiger Referenz auf Niklas Luhmann seinen Feldzug gegen die maßlose „Kulpabilisierung des Menschen“. Als die „heiße Stelle“ in diesem „epochalen Entübelungsmanöver“ fasst er die Frage nach der Selbstbezüglichkeit des Menschen ins Auge und postuliert gemeinsam mit Niklas Luhmann eine grundsätzliche „Unschuldsvermutung gegen Systeme“ (vgl. ebd. S. 122):

„Indem Luhmann das gesamte Feld des Relationsverhaltens von Systemen zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz nüchtern exponiert und zur Neubeschreibung freigibt, bewirkt er eine erheiternde De-Eskalation in allem, was die Kulpabilisierung des Menschen anbelangt. Die Ironie des Verfahrens besteht darin, die Menschen von der weltbildarchitektonisch motivierten Überbelastung als angeblich unmäßig in sich selbst eingekrümmte Subjekte zu emanzipieren und sie teilnehmen zu lassen an der Quasi-Unschuld naturwüchsiger, systemisch bedingter Selbstreferentialität, von der wir wissen, dass sie nur eine notwendige und unvermeidliche Ausschlagrichtung eines allgemeinen Referenzverhaltens darstellt, das nicht anders kann, als ständig zwischen Selbstpol und Fremdpol zu oszillieren – und dies bei einem systemnotwendigen Primat des Inneren (ebd. S. 125).“

Mit Verweis auf Odo Marquard (1981) und die „moralkritische Bibliothek der Moderne – mit Beiträgen von Montaigne bis Cioran und von Bacon bis Luhmann“ – spricht Sloterdijk von einem „permanenten Referendum zur Dekulpabilisierung des Menschen“ (vgl. ebd. S. 99). Im Sinne der weiter oben erwähnten „Unschuldsvermutung gegen Systeme“ weist Peter Sloterdijk allerdings auf eine neue Qualität in der Argumentation Luhmanns hin: Das wichtigste Entlastungsmotiv werde von ihm aus der modernen Biologie und Metabiologie übernommen. Sie zeige, dass Selbstbezüglichkeit nicht etwas sei, was erst nach der Entstehung von Ich-Bewusstsein ins Spiel komme: „Vielmehr treten Selbstverhältnisse schon auf der ersten Stufe des Lebens auf, insofern dieses als Inbegriff selbstschöpferischer Prozessordnungen beschrieben werden muss. Das Selbst der Autopoiesis lebendiger Systemeinheiten spiegelt eher die Güte der gelungenen Schöpfung als eine narzißtische Revolte wider – denn Organismen sind als Intelligenzverkörperungen verfasst, an denen sich die Doppelbewegung des Selbst- und Fremdbezugs von Anfang an beobachten lässt (ebd. S. 127).“

Wie – fragt Peter Sloterdijk – lassen sich aus diesen Erkenntnissen Argumente ableiten, die selbst jene beeindrucken müssten, die nicht so leicht loskämen „vom Phantasma der sprachvermittelten integralen Selbstreflexion der Gesellschaft in der Gesellschaft oder von höherstufigen Subjektivitäten in ihrer Geschichte“? Natürlich – räumt er mit Luhmann ein – könnten in höheren Organismen Selbstbezüge auch die Form von Sich-Erleben und symbolvermitteltem Selbstbewusstsein annehmen. Doch gebe es keine Form, die in der Lage sei, sich selbst vollständig zu reflektieren oder zu repräsentieren: „Sie sind, um es anders auszudrücken, nicht darauf ausgelegt, die Wahrheit über sich in sich zu haben (ebd. S. 127).“

 Sloterdijk erläutert diesen Sachverhalt am anspruchvollsten Beispiel überhaupt:

Es gibt kein menschliches Gehirn, und es kann aus prinzipiellen Gründen keines geben, das bis ins einzelne wüsste, wie es selbst funktioniert, geschweige denn eines, das sich bei laufendem Betrieb eine komplette Repräsentation seiner historischen und strukturellen Betriebsbedingungen – im Sinne eines hierjetzt aktuellen, in Totaltransparenz zu sich gekommenen Geistes – gegenwärtig halten könnte. Weil die dem Bewusstsein vorauslaufende und von ihm abgewandte Autopoiesis des Systems einen uneinholbaren Vorsprung vor seinen Selbstrepräsentationen im Bewusstsein besitzt, ist evident, dass Selbstbezüge immer einen gewissen funktionalen Sinn haben – und dies in aller Normalität und weit vor allen Problemen maligner Selbstbetonung. Es existiert in dieser Hinsicht weder ein sich selbst bis auf den Grund durchsichtiges noch ein freies, zur Revolte und zum bösen Selbstgenuss prädisponiertes Ego, das als Zentrale einer schuldhaften Verweigerung der Kommunion mit allen anderen Organismen oder Ko-Subjekten fungieren könnte. Aber es existieren ohne Zweifel fehlgesteuerte oder misslungene Autopoiesen, die – wenn man ihnen abhelfen will – in therapeutischer Einstellung studiert werden müssen. Das Gehirnbeispiel ist hierfür zwingend gültig (ebd. S. 128f.).“

Letzterer Hinweis deutet zweifellos an, dass es sich hier nicht umgekehrt um eine Theorie der radikalen Dekulpabilisierung oder ein schlichtes „anything goes“ handelt. Eine „systemisch neutralisierte Selbstreferentialität“ kann man sich dann vorstellen als eine permanente Schwingung, als eine „bistabile Oszillation“: „Ein korrekt funktionierender Referenz-Oszillator, sagen wir ein Bewusstsein menschlicher Qualität, verliert sich weder ganz an die Welt als den Fremdreferenzpol, noch versinkt er ganz in sich als den Selbstreferenzpol. Vielmehr weicht er kraft einer permanenten Selbstjustierung sowohl vor dem Positivismus als auch vor dem Autismus zurück (ebd. S. 129f.).“

Peter Sloterdijk meint, die Luhmannsche Normalität sei die Normalität des Ungeheuren, das sich in Selbstordnungen des Lebendigen eine Verfassung gebe – vielmehr zahlreiche lokale Verfassungen: „Wenn ich also für Luhmanns Lektion einen zusammenfassenden Ausdruck finden sollte, so würde ich vorschlagen, seinen Beitrag zur Theoriekultur der Zukunft als einen Fundamentalinnozentismus zu bezeichnen (ebd. S. 131).“

Sloterdijk verweist darauf, dass „Innozentismus“ im hier gebrauchten fundamentalen Sinn sowohl einen juristischen wie auch einen philosophischen Anteil enthält. Er meine zum einen eine unter guten Anwälten und Therapeuten anzutreffende Grundhaltung, die von der Unschuldsvermutung gegenüber Subjekten und Systemen geprägt sei. Zum anderen sei ihm an dem Nachweis gelegen, dass menschliche Selbstbezüglichkeit „eine zu schwache Adresse ist, um ihr das ganze Dossier der Anklage gegen die Weltmissstände zuzustellen“.

„Es ist Luhmanns große theoriestrategische Intuition, das metaphysisch überspannte Freiheitsmotiv im Aufbau von Handlungssystemen samt ihrer ethischen Begründungen auf ein Maß zurückzuführen, das zu einer vernünftigen Zurücknahme der Beschuldigungsdispositionen geneigt macht (ebd. S.133).“

Zuletzt seien Vorbehalte und kritische Hinweise Sloterdijks nicht unterschlagen, vor allem, wenn er darauf hinweist, dass die „sozial- und systemnaturalistischen Optionen“ dieses Ansatzes ihre Bewährungsprobe nicht bestanden hätten und dass Luhmann mit seinem Konstrukt „Weltgesellschaft“ eine Idealisierung in eigener Sache in die Welt gesetzt habe.

Wie allerdings sollte eine Bewährungsprobe – wir beobachten gegenwärtig die politische Krise in der Ukraine (oder schon seit längerem das desaströse Geschehen in Syrien) – von Akteuren erfolgreich bestanden werden, die sich nach dem Gewalt- und Paranoia-Potential ihrer Weltbilder erster Ordnung ausrichten? Die Tatsache, dass es kaum je eine Theorieform gegeben hat, „die sich so explizit abhängig wusste vom schützenden Klima ihrer kulturellen Nische“ spiegelt doch eben den Weg zu einer „Anthropologie zweiter Ordnung“, zu einem „Existentialismus zweiter Ordnung“ oder gar zu einer „Erotik zweiter Ordnung“. Und einer Theorie, die als sozialwissenschaftliche Relativitätstheorie erscheint, lässt sich zu allerletzt die Weigerung von Akteuren – gleich auf welcher Bühne – vorwerfen, die sich der Luhmannschen Lektion beharrlich verweigern. Daher soll zum Schluss Peter Fuchs das Wort haben, das uns an den nicht hintergehbaren Kern einer jeden Zivilgesellschaft erinnert:

„Wenn irgendjemand - ob Frau, ob Mann – behauptet, er/sie habe einen privilegierten Zugang zur Welt, dann erdröhnen für mich im Hintergrund die Sirenen des Faschismus: Viele Menschen sind benachteiligt oder gar getötet worden im Namen der Behauptungen anderer Menschen, sie hätten privilegierte Weltzugänge. Claude Levi-Strauss hat irgendwann einmal gesagt, dass wir lebende Wesen im Schoß des Lebendigen seien, alle, würde ich hinzufügen, und nicht irgendeines auf besondere Weise (Peter Fuchs 1997, S. 62).“

 

 Literaturhinweise: