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Theodor W. Adorno: Minima Moralia.

Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951), eine aphoristische „Diagnose einer global organisierten Unmündigkeit“ (so im Wikipedia-Beitrag zu lesen).

Was Theodor W. Adorno teils in den Minima Moralia zusammenträgt, ist mit obigem Verdikt einer grundlegenden global organisierten Unmündigkeit nur unzureichend beschrieben. Organisierte Unmündigkeit vermittelt den Anschein, Unmündigkeit sei zuvorderst das Ergebnis von außen auf uns zukommender Entmündigungsstrategien, und man könne sie – nur willensstark genug – zurückweisen. Nehmen wir einmal die Nummer 105 seiner Aphorismen-Sammlung – Nur ein Viertelstündchen (Theodor W. Adorno: Minima Moralia, Frankfurt 1969, S. 217f.). Das ganze geballte Elend unserer Existenz, das Adorno unter das Generalverdikt setzt: Es gibt kein richtiges Leben im falschen (Conclusio aus Nummer 18: Asyl für Obdachlose) tritt uns entgegen im Kontext einer Allerweltserfahrung: Ausgangspunkt ist eine schlaflose Nacht. Adorno war bei Abfassung des dritten Teils seiner Aphorismen eben erst 43 Jahre alt, stand allerdings – wenn auch aus sicherer Distanz – unter dem Eindruck des faschistischen Terrors in Europa, dem er sich widerwillig durch Flucht entzogen hatte. Für die Schlaflose Nacht sieht er ein formelhaftes Äquivalent:

„Qualvolle Stunden, ohne Aussicht auf Ende und Dämmerung hingedehnt in der vergeblichen Anstrengung, die leere Dauer zu vergessen.“

Adorno (er)findet für dieses – uns Älteren vermutlich sattsam bekannte – Phänomen eine atmosphärisch eindringliche, wenn nicht gar aufdringliche, gleichwohl faszinierende Bildsprache:

„Entsetzen aber bereiten schlaflose Nächte, in denen die Zeit sich zusammenzieht und fruchtlos durch die Hände rinnt. Einer löscht das Licht aus in der Hoffnung auf lange Stunden der Ruhe, die ihm helfen möchten. Aber während er nicht die Gedanken beschwichtigen kann, vergeudet sich ihm der heilsame Vorrat der Nacht, und bis er fähig wäre, unter den brennend geschlossenen Augen nichts mehr zu sehen, weiß er, daß es zu spät ist, daß ihn bald der Morgen aufschrecken wird.“

Hält man Adornos Schreckensszenario für ein wahrhaftes Abbild oft erlittener Schlaflosigkeit der geschilderten Art, kommt man nicht umhin von einer Tag-Nacht-Gleiche auszugehen, in der der sich im nächtlichen Horror die taggleiche Grunderfahrung widerspiegelt, dass es eben kein richtiges Leben im falschen gibt. Denn was sich

„in solcher Kontraktion der Stunden offenbart, ist das Gegenbild der erfüllten Zeit Denn] wenn in dieser die Macht der Erfahrung den Bann der Dauer bricht und Vergangenes und Zukünftiges in die Gegenwart versammelt, so stiftet Dauer in der hastig schlaflosen Nacht unerträgliches Grauen.“

Was der Mensch für ein richtiges, erfülltes Leben unabdingbar benötigt, um der leeren Dauer zu entgehen – so könnte man meinen – wäre mit den Worten Adornos die Macht einer Erfahrung, die den Bann der Dauer bricht und Vergangenes und Zukünftiges in einer heilsamen Gegenwart versammelt. Eine heilsame Gegenwart – eine Gegenwart, die uns einen Blick in den Spiegel gestattet, ohne uns entsetzt abwenden zu müssen meinetwegen von dem Berserker der Vergangenheit, der alles in die Tonne gekloppt hat, was ihm hätte etwas wert sein können/müssen; eine Gegenwart, die uns einen Blick in den Spiegel gestattet, ohne uns entsetzt abwenden zu müssen meinetwegen vor der schuld- und schmerzgeplagten Kreatur, der die Scherben ihrer Vergangenheit vor Füßen, liegen und die für die Zukunft, die da noch bleibt/droht, mit Einsamkeit, Verdruss und Missachtung der Anderen – mit den Worten Adornos: mit unerträglichem Grauen zu rechnen hat.

Liest man weiter, kann man auch danach noch gewiss sein, dem Grauen nicht so ohne weiteres zu entkommen. Das Menschenleben werde zum Augenblick, nicht indem es Dauer aufhebe, sondern indem es zum Nichts verfalle, zu seiner Vergeblichkeit erwache im Angesicht der schlechten Unendlichkeit von Zeit selber. Denn:

„Im überlauten Ticken der Uhr vernimmt man den Hohn der Lichtjahre auf die Spanne des eigenen Daseins. Die Stunden, die als Sekunden schon vorbei sind, ehe der innere Sinn sie aufgefaßt hat, und ihn fortreißen in ihrem Sturz, melden ihm, wie er samt allem Gedächtnis dem Vergessen geweiht ist in der kosmischen Nacht.“

Was uns zu leben noch gelassen ward, erscheint Adorno als kurze Galgenfrist:

„Vielleicht ist die von der Gesellschaft widerruflich zur Verfügung gestellte Lebensquote bereits aufgebraucht. Solche Angst registriert der Körper in der Flucht der Stunden. Die Zeit fliegt.“

Nur ein Viertelstündchen das eine. Die Blümlein alle das andere (Aphorismus Nummer 106, S. 218f.). Der Heideggerschen Angstkeule nicht genug. Der nächste Hammer lauert hinter den so unschuldig daherkommenden Blümelein:

„Der Satz, von Jean Paul wohl, die Erinnerungen seien der einzige Besitz, den niemand uns wegnehmen könne, gehört in den Vorrat des ohnmächtig sentimentalen Trostes, der die entsagende Zurücknahme des Subjekts in die Innerlichkeit jenem als eben die Erfüllung einreden möchte, von der es abläßt.“

Gewiss sollte man bei der „Einrichtung des Archivs“ schon gewärtigen, dass Adornos Hinweis folgenreich ist, wenn er meint, das Subjekt beschlagnahme den eigenen Erfahrungsbestand als Eigentum und mache ihn damit wieder zu einem dem Subjekt ganz äußerlichen. Das vergangene Innenleben werde zum Mobiliar, wie umgekehrt jedes Biedermeierstück geschaffen war als holzgewordene Erinnerung. Zumindest halte ich seit 1998 mit der Skizze Niklas Luhmanns zu einer Theorie des Lebenslaufs die Mahnung Adornos wach, Erinnerungen ließen sich nicht und Schubladen und Fächern aufbewahren. Die unauflösliche Verflechtung des Vergangenen mit dem Gegenwärtigen mag ansatzweise vor Willkür und Hybris schützen, damit die Erinnerungen – so Adorno – nicht „wie zarte Tapeten unterm grellen Sonnenlicht verschießen“.

So notiere ich denn zur Übernahme ins Langzeitgedächtnis:

„Die Wechselwirkung von Jetzt und Damals hat darum nicht bloß den rettenden, sondern auch den infernalischen Aspekt: Wie kein früheres Erlebnis wirklich ist, das nicht durch unwillkürliches Eingedenken aus der Totenstarre seines isolierten Daseins gelöst ward, so ist umgekehrt keine Erinnerung garantiert, an sich seiend, indifferent gegen die Zukunft dessen, der sie hegt; kein Vergangenes durch den Übergang  in die bloße Vorstellung gefeit vorm Fluch der empirischen Gegenwart.“

Ja, die seligste Erinnerung an einen Menschen könne ihrer Substanz nach widerrufen werden durch spätere Erfahrung, meint der Doppelleben-erprobte Theodor W. Adorno. Niklas Luhmann hat das im Übrigen schlichter formuliert: Auch er bemerkt, dass vor allem die Vergangenheit nicht ein für allemal gegeben sei. Vielmehr führe der Lebenslauf mit neuen Lagen immer auch zu einer Neubeschreibung seiner Vergangenheit:

„Nach der Scheidung findet man sich wieder als jemand, der das erreicht hatte, was er gewünscht hatte, und dann einsehen mußte, daß es nicht so gut war, wie er gedacht hatte.“ (Lenzen/Luhmann, Frankfurt 1997, S. 21)

Der weiter oben angekündigte Hammer – in etwa auf der Stufe der Adornoschen Einsicht, es gebe kein richtiges Leben im falschen – lautet dann:

Wer aber verzweifelt stirbt, dessen ganzes Leben war umsonst.“

Was hilft denn – um Gottes oder wessen Willen auch immer – gegen solche verbalen Totschläger? Oder anders gefragt: Wie kommt man denn zu einem erfüllten Leben und der Vorstellung, dass das ganze Leben vielleicht doch nicht umsonst war?

Entweder man lebt einfach so drauflos und hält sich fern von grauer Theorie! Hat man aber – vielleicht zu Beginn, ohne es zu merken oder gar zu wollen - Äpfel vom Baum der Erkenntnis zu sich genommen, dann könnte helfen ein Blick in:

Bleibefreiheit

oder

Erfülltes Leben

Die kontinuierliche Drohung, deren er [der Führer] sich bedient und die das eigentliche Wesen dieses Systems ausmacht, richtet sich schließlich gegen ihn selbst. Ob er tatsächlich von Feinden gefährdet ist oder nicht, er wird immer ein Gefühl von Bedrohtheit haben. Die gefährlichste Drohung geht von seinen eigenen Leuten aus, denen er immer befiehlt, die in seiner nächsten Nähe sind, die ihn gut kennen.Das Mittel zu seiner Befreiung, nach dem er nicht ohne Zögern greift, auf das er aber keineswegs ganz verzichtet, ist der plötzliche Befehl zum Massentod. Er beginnt einen Krieg und schickt seine Leute dorthin, wo sie töten sollen. Viele von ihnen mögen dabei selber zugrunde gehen. Er wird es nicht bedauern. Wie immer er sich nach außen stellen mag, es ist ein tiefes und geheimes Bedürfnis von ihm, daß auch die Reihen seiner eigenen Leute sich lichten. Zu seiner Befreiung von Befehlsangst ist es erforderlich, daß auch viele von denen sterben, die für ihn kämpfen. 

Elias Canetti Putin und die Mullahs

1960 – vor vierundsechzig Jahren – hat Elias Canetti Masse und Macht vorgelegt (mir vorliegend in der 29. Auflage bei S. Fischer, Frankfurt 1980). Auf dem Rückdeckel findet sich ein Zitat von Karl Heinz Bohrer: „Wir werden Canettis >Masse und Macht<, so glaube ich, alle zehn Jahre von neuem lesen müssen.“ Bewusst lese ich heute zum ersten Mal, was hätten die Politiker, die Beobachter der (Welt-)Gesellschaft danach schon hätten x-mal, wenigstens sechs Mal hätten lesen können/müssen. Es reichen dabei die letzten fünf Abschnitte. Es gelingt Elias Canetti gleichermaßen die Hybris, die Dummheit und – vor allem – die Urängste der Despoten und Autokraten mit faschistischer Gesinnung auf den Punkt zu bringen. Dies ist deshalb heute so bedeutsam, weil der Kontext mit den Männern, die auf der Bombe sitzen, sich so darstellt, dass der Satz Sinn gibt, mit dem Canetti die Präsentation seiner Untersuchungen autorisiert hat:

Denken wir das Undenkbare – Fühlen wir das Unfühlbare – Schweigen wir, wo wir nicht antworten können? Aron Bodenheimer und Eva Menasse

Aron Bodenheimer lässt für sein Verständnis des Verstehens keine andere Prämisse gelten, als dass es sich um einen Akt handele, der sich jedesmal neu einstelle, neu entwickele, und dieses Erlebnis dem Überdenken zu erschließe: „Dem Nachdenken, das ist: dem Zustimmen, viel eindringlicher aber dem kreativen Widersprechen.“ (in: Verstehen heißt antworten, Stuttgart 1992, Vorwort)

Zur Erinnerung:

Details

 Veröffentlicht: 20. Dezember 2022

Verstehen heißt antworten - so meint Aron Bodenheimer (Stuttgart 1992, S. 169f.).

"Fragen kann krank machen, sagen kann bewahren - selbst wenn der Tod schon vor der Tür steht. Sogar dann, wenn es der nukleare Tod ist, das Ende im atomaren Genozid. - Im Gespräch über diesen treffen wir, es ist nach Tschernobyl, eine Familie an, irgendwo rund um die Erde, und das Kind fragt: 'Was passiert, wenn die Atombombe losgeht?' Dieses Kind hat Eltern, denen Wahrheit die Deutlichkeit der Realität ist, nicht die bewegende Wirkung des Wortes. Und aus dem heraus, was ihnen als Liebe zur Wahrheit gilt, antworten sie ohne weitere Besinnung dem fragenden Kind:

'Dann sind wir alle tot.'

Nur, die Eltern überhören, dass das Kind sich nichts hat vorstellen können: weder unter den Realitäten noch unter den Bedrohungen dahinter, noch unter dem Text und dem Sinn dieser Antwort. Atomare Bedrohung ist diesem Kind, was der Tod jedem Kind ist, und wenn es fragt, was es mit der Bombe auf sich hat, so fragt es, wie und was es sonst zu fragen gewohnt ist, um zu erkunden, wo seine Eltern sind und wer sie ihm sind. Das Kind will wissen, ob es sich seiner Eltern vergewissern darf. Und darauf kann die Antwort nicht heißen: 'Dann sind wir tot', sondern:

'Dann sind wir bei dir.'

Axel Hacke - Danke (:-))

Danke – Axel Hacke, sagt einer, der zum Lachen in der Keller geht (das meint immerhin meine Schwester)

Nun ich habe heute Morgen in einer Viertelstunde Nummer I gelesen aus Deinem Büchlein Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte (schon in der 3. Auflage bei DuMont in Kölle) und habe immerhin geschmunzelt. Axel Hacke schreibt übrigens für Ursula und Anne, Max, Marie, David und Josi – das ist mir sympathisch. Aber sodann rückt schon die Frage in der Vordergrund, wie er das wohl jetzt machen wird. Ich weiß es noch nicht so ganz genau. Ich habe erst das erste von 27 Kapitelchen gelesen. Aber da gelingt dem Axel Hacke etwas – Axel Hacke, im Januar 1956 geboren (der goldene Jahrgang meiner Frau). Wir sind also nur vier schlappe Jährchen auseinander. Und dann passiert’s. Dem Axel Hacke gelingt es, mich unversehens in die frühen 60er Jahre zurück zu katapultieren.

Heute Morgen scheint die Sonne. Es wird gewiss ein heiterer Tag. Und die zwei Sätze, die ich nun lese, lassen mich gespannt erwarten, was da kommen mag: „Wenn ich das Wort heiter höre, denke ich immer zuerst daran, wie gerne ich ein heiterer Mensch wäre, gelassen, entspannt, leicht durch den Tag schwebend. Ich denke an den Neid, wenn ich Menschen begegne, die sich so im Leben bewegen. Zweitens aber fällt mir stets eine Fernsehsendung ein, die in meiner Kindheit überaus beliebt war. Sie hieß Was bin ich? Ein heiteres Beruferaten. Den ersten Satz hat Axel Hacke bei mir abgeschrieben (kleiner Scherz am Rande).

Hannah Arendt - eine besonders kluge Frau!

Bleibt man wach und zapft den guten, alten Wein an, der sich in einer üppigen Bildungsbiografie in den besonderen Jahrgängen offenbart, dann gelangt man zwangsläufig irgendwann auch wieder einmal zu Hannah Arendt (HA). Vor zwanzig Jahren – kurz nach ihrem Erscheinen – hat Claudia mir das Denktagebuch Hannah Arendts geschenkt: Hannah Arendt, Denktagebuch bei Piper München und Zürich, 2002, 2 Bände. Es ist aus gegebenen Anlässen an der Zeit, sich einen gute Flasche der Arendtschen Spätlese  zu gestatten. In den Anmerkungen zu Heft XIII (im zweiten Band, Seite 998) kommentieren die Herausgeberinnen, Ursula Ludz und Ingborg Nordmann:

„Wie dem auch sei, die Eintragung (auf die hier unter anderen Bezug genommen wird, FJWR) reiht sich ein in H.A.s Bemühen um eine Neubestimmung des Politischen, wie es im Denktagebuch erstmals in der Eintragung >Was ist Politik?< (Heft I,21, S. 15ff.) sichtbar wird (vgl. auch Heft II, 30).“

Beginnen wir genau damit und lesen (Erster Band, S. 53):

Der Mensch – die Menschen:
In den totalitären Regimen erscheint deutlich, dass die Allmacht des Menschen der Überflüssigkeit der Menschen entspricht. Darum entspringt aus dem Glauben, dass alles möglich sei, unmittelbar die Praxis, die Menschen überflüssig zu machen, teils durch Dezimierung und generell durch die Liquidierung der Menschen qua Menschen.“ (Hervorhebung, FJWR)

Diese Eintragung hat HA im Januar 1951 in ihrem Denktagebuch vorgenommen – sechs Jahre nach den von den Nazis ins Werk gesetzten Menschheitsverbrechen (im Übrigen ein Jahr vor meiner Geburt). Alle folgenden Hervorhebungen - FJWR)

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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