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Prosit - auf unsere Gesundheit!

Vierzehn Tage Tauchstation – Para-Influenza mit massiver viraler Überlast – so oder ähnlich die Diagnose für ein Krankheitserleben, das mit seinen extremen, sich wellenartig überlagernden Hustenattacken zumindest für mich absolut ungewohnt daherkam. Mit Gesundheit bin ich gesegnet – siebzig Jahre ohne lebensbedrohliche Erkrankung. Selbst die WHO-entlehnte Gesundheitsdefinition, wonach jemand gesund ist, der im Großen und Ganzen von sich sagen kann, ein bio-psycho-soziales Wohlbefinden beschreibe sein Körper-Geist-Erleben samt einer gediegenen sozialen Einbettung, scheint nicht aus der Luft gegriffen.

Auch wenn mein Krankheitserleben nur eine partielle, vorübergehende Phase meinen kann, reicht(e) es zumindest aus, um in der Verbindung von physischer Erschöpfung, gepaart mit extrem reduzierter innerer Antriebskraft und Motivation eine Vorstellung davon zu gewinnen, was dauerhafte Einschränkung meines bio-psycho-sozialen Wohlbefindens wohl bedeuten könnte.

Immerhin habe ich mit Alex Schulmans Verbrenn all meine Briefe einen knapp 300 Seiten umfassenden Roman gelesen und – weil mich seine Abkanzlung im Literarischen Quartett ärgerte – einer gründlichen Analyse unterzogen. Die abstrakte WHO-entlehnte Gesundheitsdefinition gewinnt hier eine äußerst konkrete Gestalt, weil mich Alex Schulmans Schilderungen unvermittelt mit einer – ich glaube Gregory Bateson zugeschriebenen – Definition von Gesundheit konfrontierten. Er meint nämlich irgendwo in seinen gesundheitsbezogenen Ausführungen, gesund sei derjenige, der sich frei in seiner Familie bewegen könne. Der Umkehrschluss mag für den/die ein(e) oder andere(n) mehr Sinn ergeben; zumindest insofern als belastete und belastende familiäre Dynamiken zu einer Vorstellung eines alles in allem bio-psycho-sozialen Wohlbefindens sicherlich quer stehen. Schulmans schonungslose (Selbst-)Analyse öffnet den Blick vor allem auch für die intergenerative Dimension familialer Dynamiken. Es mag durchaus sein, dass sich jemand subjektiv unbefangen und unbeschwert den Genüssen des Lebens hingibt. Eher selten prägt eine solche Grundhaltung - gewissermaßen wie ein roter Faden - das Lebensgefühl über Generationen hinweg das (Selbst-)Erleben aller der Familie Zugehörigen.

Im Zusammenhang mit den Dilemmata des Aggressionskrieges Russlands gegen die Ukraine prägte Wolf Biermann den Aphorismus, die Melancholie sei der Überlebenskampf, den ein kluges Herz wagen müsse: Der Widerspruch zwischen begründeter Verzweiflung und begründeter Hoffnung (ZEIT 44/22, Seite 66). Zutreffender fand ich den Blick (meinen Blick) auf diese Welt – auf die große Welt der bilateralen und internationalen Konfliktherde genauso wie auf die kleine Welt der sozialen Kernbeziehungen (insbesondere in Gestalt schwieriger Dynamiken in Familien) – kaum jemals beschrieben. In Gunthard Webers Zweierlei Glück (Carl-Auer-Verlag, Heidelberg 1997), darin setzt sich Weber mit der systemischen Psychotherapie Bert Hellingers auseinander, kann man unter Hauptkapitel V (Seite 146ff.) folgende Auslassungen zu der Idee eines lebensbestimmenden Grundgefühls bzw. einer entsprechenden Grundstimmung im Sinne Hellingers nachlesen:

„Die Therapeuten, bei denen ich in Chicago war, nannten dieses Grundgefühl (einer grundlegenden Sicherheit) home-base. Das ist der Ort, an dem man sicher sein kann. Der Ausdruck kommt von Baseballspiel. Auf dieses Grundgefühl zieht man sich zurück, und dort hat man den geringsten Streß.“

Ein sicherer Ort also! Der Einzelne – so liest man – fühle sich ganz und vollständig, wenn alle Personen, die zu seinem System gehören, in seiner Seele und in seinem Herzen einen guten und ehrenvollen Platz haben und ihre volle Würde:

„Sie müssen alle da sein. Wer sich nur um sein Ich und sein enges individuelles Glück kümmert, fühlt sich nicht vollständig (a.a.O., S. 146).“

Sei’s drum. Nicht jeder mag sich mit einer solchen Vorstellung von Vollständigkeit identifizieren. Auch ohne sich eines Zynismusverdachts auszusetzen, möchte man doch jedermann und jederfrau zubilligen, dass man sich im Sinne des eigenen Wohlergehens abgrenzt von unliebsamen Familienmitgliedern, selbst wenn es Vater, Mutter oder Großeltern sind. Außenstehende mögen dann vielleicht von einem Wohlergehen zweiter oder dritter Güteklasse reden – was den so Wahrgenommenen immer noch besser und angenehmer erscheint, als sich mit irgendwelchen Arschlöchern auseinanderzusetzen – auch (oder grade auch) wenn sie blutsverwandt sind; hört man doch vielfach die Meinung, Verwandte seien in erster Linie von Gott gegebene Feinde.

Bei Alex Schulman beispielsweise stößt man auf toxische Männlichkeitsbilder, gerahmt von einer pietistisch, religiös unterbauten Spießerkultur im Schweden der 30er Jahre, die von ihrem Zentrum aus betrachtet - hier der großväterlichen Weltsicht - allerdings in Sinne eines Weltbildes erster Ordnung vertreten werden: Die Rollenzuschreibungen von Männern und Frauen sind fix, alternativlos und von einer erbarmungslosen Enge. Der Blick hinter solch ein über Generationen prägendes familiales Klima, gelang bei Alex Schulman nur mit Hilfe einer therapeutischen Intervention. Diese Intervention in Gestalt einer abgespeckten Familienaufstellung öffnete in der Enkelgeneration zum ersten Mal den Blick für ein prägendes Muster. Die Qualität aller Beziehungen zwischen den bedeutsamen Familienmitgliedern sollten in einem intergenerativen Setting schlicht dadurch sichtbar gemacht werden, dass zuträgliche, relativ konfliktfreie Beziehungen durch einen geraden Strich markiert werden sollten, alle konfliktträchtigen und –lastigen Beziehungen hingegen durch eine Zick-Zack-Linie. Für Alex Schulman zeigte sich hier mit dem notwendigen Abstand erstmals eine Struktur, ein Muster im Chaos familialer Dynamiken; für Schulman stellte sich gewissermaßen eine Art Erkenntnis-Schock ein. Dieser nachhaltige Schock war letztlich die Initialzündung für die Suche nach den Quellen toxischer Männlichkeits-Phantasien und –attitüden, die bereits drei Generationen in prägender Weise erfasst hatten.

In Luc Ciompis Vorstellungen zu einer Affektlogik (Stuttgart 1982) ist zu lesen, die Psyche bestehe aus einem "hierarchisierten Gefüge von 'affektlogischen Bezugssystemen', d.h. von internalisierten Denk-, Fühl- und Verhaltensschemata mit untrennbar verbundenen kognitiven und affektiven Anteilen. Sie stellen einen gleichzeitigen (synchronen) Niederschlag der lebensgeschichtlich nacheinander (diachron/synchron) gemachten Erfahrungen dar." Dabei erfasse Gefühl in erster Linie Ganzheiten und Muster; es entstehe und vergehe langsam; sein Instrument und Sitz sei vorwiegend der Körper. Hingegen erfasse das Denken vor allem Teile und Relationen. Und nun kommen entscheidende Hinweise, die die Frage nach dem merkwürdigen Zusammenhang zwischen der Familiendynmik in Alex Schulmans Herkunftsfamilie und den nicht ohne weiteres erklärbaren affektlogischen Irritationen in seiner Persönlichkeitsstruktur beantworten könnten:
Nach der Auffassung Luc Ciompis ist die Wirklichkeit von einem Individuum dann verhaltensökonomisch und harmonisch erfasst, "wenn diese beiden Erfassungsmodi >das gleiche sagen<. Aus ihrer Diskrepanz in Wahrnehmung und Kommunikation ergeben sich spannungsvolle Disharmonien, die zu einer Verwirrung der internalisierten affektlogischen Bezugssysteme und des darauf gegründeten Verhaltens führen können."

Hier handelt es sich wohl um den Stress, von dem sowohl Hellinger als auch viele Therapeuten sprechen, wenn sie mit ihren Patienten auf Irritationen im affektlogischen Bezugssystem stoßen. Nehmen wir einmal ein ganz schlichtes Beispiel aus der klassischen Hellinger-Perspektive:

"Nehmen wir einmal an, ein Mann und eine Frau haben ihren ersten Partner/in verloren und beide haben Kinder, und jetzt heiraten sie und bringen ihre Kinder mit in die neue Ehe. Dann kann die Liebe des Mannes zu seinen Kindern nicht über die neue Frau gehen, und die Liebe der Frau zu ihren Kindern kann nicht über diesen Mann gehen. Dann hat die Liebe zum eigenen Kind aus der früheren Beziehung Vorrang vor der Liebe zum Partner. Das ist ein ganz wichtiger Grundsatz. Man darf das nicht als Dogma verwenden, aber viele Störungen in Beziehungen, in die Kinder mitgebracht werden, kkommen daher, weil der Partner eifersüchtig auf die Kinder wird, und das ist ungerechtfertigt. Die Kinder haben Vorrang. Wenn die Ordnung anerkannt ist, dann klappt das auch meist (a.a.O., Seite 148)."

Der gestrige Abend war insofern bemerkenswert, weil es uns nach Jahrzehnten gelungen ist, einen wunderbaren Abend zu verbringen - in einer Vierer-Konstellation -, dessen Sinnhaftigkeit und Logik aus der schlichten Tatsache ergab, dass es sich bei unserem Gast (mit seiner Partnerin) um den Lieblings-Cousin meiner Frau handelte (die Mütter sind Schwestern). Er erzählte aus seiner langen Arbeit als Sucht-Therapeut und -berater und kam zu dem Resümee, dass er nach der Erfahrung mit vielen hunderten Sucht-Patienten immer deutlicher habe sehen können, wie hilfreich eine Grundhaltung sich erwiesen habe, die sich gemeinsam mit den Patienten auf die Suche nach den Leerstellen ergab - Leerstellen mit Blick auf den Umgang mit Grundbedürfnissen, auf deren positive Beantwortung wir alle fundamental unser Leben lang angewiesen bleiben. Wir, die wir unsere Studien in den 70er Jahren aufnahmen, entsannen uns der prägenden Wirkung, die sich mit der Rezeption der Publikationen Abraham Maslows einstellte. Die von ihm angenommene Taxonomie von Bedürfnissen hat früh schon die Sinne und die Wahrnehmung geschärft für Defizite in der Erziehung und Sozialisation der sogenannten Kriegsgeneration und der Generation der Kriegskinder, die bis in die Enkel- und Urenkelgeneration Auswirkungen haben.

Maslow nahm ja eine Unterteilung in Defizitbedürfnisse (oder Mangelbedürfnisse) und Wachstumsbedürfnisse (oder unstillbare Bedürfnisse) vor, mit der Begründung, die Nichtbefriedigung bestimmter Bedürfnisse – der Defizitbedürfnisse – könne physische oder psychische Störungen zur Folge haben (z. B. Sicherheit – Angst, sozialer Kontakt – emotionale Störungen). Die nachstehende Pyramide mit ihrer Hierarchie wendet sich insbesondere gegen triebtheoretische Auffassungen in der Nachfolge Freuds. Maslow lehnte diese Schulen, ihr Menschenbild und ihre Untersuchungsansätze ab. Vielmehr war er der Ansicht, dass Menschen als grundsätzlich gut angesehen werden können (vgl. zu dieser grundsätzlichen Fragestellung die Philosophische Anthropologie). Der Mensch sei in seiner Ganzheit nicht durch niedere Triebe gesteuert, sondern werde „durch ein angeborenes Wachstumspotential angetrieben“, um sein höchstes Ziel – die Selbstverwirklichung – zu erreichen (optimistische Sicht).

„Destruktivität, Sadismus, Grausamkeit sind (nach Maslow) nicht inhärent (also sie sind keine ureigenen menschlichen Bedürfnisse wie etwa bei Freud), sondern wesentliche Reaktionen auf Frustrationen unserer inhärenten Bedürfnisse.“ (siehe dazu insgesamt den verlinkten Wikipedia-Beitrag).

Heute wissen wir sicherlich mehr denn je, wie entwicklungsfördernd sich die Gewährleistung von Grundbedürfnissen auswirkt. Ob man von Bindung, Zugehörigkeit oder Geborgenheit sprechen mag. Ohne entsprechende Grunderfahrungen der Sicherheit in den sozialen Kernbeziehungen werden die Ausbildung von Urvertrauen, Selbstwertgefühl und Empathie wohl immer defizitär bleiben. Allein aus diesen wechselwirksamen Synergieeffekten, die aus intakten sozialen Kernzbeziehungen resultieren, ist wohl die Frage nach ungedeckten Grundbedürfnissen im Kontext von Suchtkarrieren unverzichtbar. Dass es sich bei Vorstellungen von Homöostase - affektlogisch stets kongruentem Erleben - eher um eine Illusion handelt, ist wohl der Tatsache geschuldet, dass Defizite in der Befriedigung von Grundbedürfnissen eher den Normalfall familiärer Dynamiken beschreiben. Karl Otto Hondrichs Appell Rauft Euch zusammen kommt da eher einer hilflosen Geste gleich, die nachgetragene Korrekturen zum eigenen Driften in den sozialen Kernbeziehungen offenbaren.

Die fünf Stufen in Abraham Maslows Bedürfnispyramide sind sicherlich nicht trennscharf voneinander abzugrenzen. Gleichwohl ergeben sich Entwicklungsdynamiken bis hinein in die Spitze der Pyramide erst auf der Grundlage einer Befriedigung der basalen Gründbedürfnisse: