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Totensonntag - grauschattierte Impressionen mit Peter Sloterdijk und Wolf Biermann

Fraglos Grau: Die Kraft und Konzentration der Lyrik – alle Buntheit mündet in einer Verdichtung zu einem endlos gestuften Grau

Fraglos

Immer wenn die Welt sich offenbart,
Dann werde ich ganz still,
Weil meine Spur, die zielbestimmte Fahrt
Sich wendet und sich ändern will.
Immer wenn sich Größe zeigt,
Verwandle ich mich leise.
Wenn sich ein Irren hin zum Ende neigt,
Werd ich – trotz blinder Flecken – manchmal weise.
Wenn leise Klänge sich verdichten
Und großer Klang entsteht,
Wenn Fragen sich in Fragen lichten,
Ein Hauch von Weisheit uns umweht,
Wenn Farben sich vermischen,
Und Buntheit sich in Grau ergeht,
Wenn aller Hochmut dann verblichen,
Am Horizont ein Hoffen steht,
Dann geh ich auf die Reise
Und frage nicht mehr viel.
Ich wandle einfach still und leise,
mit sanfter Kraft – auch ohne Ziel!

Was ich schon immer wusste, was jetzt auch Peter Sloterdijk weiß: Wer noch kein Grau gedacht hat – Eine Farbenlehre, Berlin 2022

„Das Gleichgültige, das Trostlose, das Ungefähre, das Ungewisse, das Unentschiedene, das Unbestimmte, das in die Länge Gezogene, das Immergleiche, das Eindimensionale, das Tendenzlose, das Irrelevante, das Amorphe, das Nichtssagende, das Bedeckte, das Nebelhafte, das Monotone, das Zweifelhafte, das Mehrdeutige, das leicht Widerwärtige, das in ferner Vorzeit Versunkene, das von Spinnweben Bedeckte, das Aschenfarbige, das Archivarische, das Novembrige, das Februarische – es ist nicht wenig, was unter dem gleichen fahlen Segel über die Gewässer der Alltäglichkeit fährt (Peter Sloterdijk, a.a.O., Seite 10).“

Das ist noch nicht der nachhaltige Nährboden für eine Depression! Es reicht auch nicht – wie Peter Sloterdijk schreibt – „dass Alltagsschwere sich ausbreitet und die Empfindung überhand nimmt, das gewöhnliche Spiel der farblichen Valeurs sei außer Kraft gesetzt.“ Sogar dort sind Zweifel angezeigt, wo es jene „Momente gibt, in denen das Grau, als visuelles Datum und Stimmung in seiner Nähe zur Monotonie die Oberhand gewinnt“. Gleichwohl stimme ich ihm zu, wenn er fortführt, dass – wer im existentiellen Tief versinke – „spürt, wie aus chromatischen Kontrasten die Spannung entweicht: Die Kolorite der Dinge ringsum rinnen in einer neutralen All-Farbe, einem empfundenen Dunkelgrau zusammen (a.a.O., Seite 11).“

Der unterdessen 75jährige Peter Sloterdijk kommt im Prolog zu seiner Grau-Studie unter dem Titel Unter fahlem Segel über die Gewässer der Gewöhnlichkeit zu folgendem Resümee:

„Die polychrome Idylle trügt; die zur Durchmischung einladende Liberalität der Moderne kann die erwünschte Regenbogengesellschaft nicht erzwingen. Zugleich ist es für Entmischung und reinfarbige Identitäten zu spät. Aus der Summe der Einzelfarben entsteht, wie Experimente zeigen, keine leuchtende Allfarbe, vielmehr ergibt sich ein stumpfes bräunliches Grau (a.a.O., Seite 19).“

Nein, die Regenbogengesellschaft können wir nicht erzwingen. Wir können aber das vielschichtige Grau verteidigen, das den Typus unserer westlichen Demokratie gewiss zur besten aller Welten geraten ließ/lässt, die jemals auf dieser Erde Gestalt angenommen hat:

„Grau ist der maßgebliche Farbwert der Gegenwart. In tausend Stufen deklinierbar, erschreckt diese Farbe die Betrachter nicht mehr wie vormals die weiße Dämonie, doch besitzt sie auch nicht die mobilisierende Kraft, die dem Roten und Schwarzen in den Tagen ihrer hohen Attraktorstärke zukam …] Keine Politik der Pigmente wird Graues aus seiner Lethargie reißen, wenn sie auch neugrüne und altrote Kokarden aufsteckt. Jenseits von Gefallen und Mißfallen gibt Grau den Zeitgenossen unserer Tage die farblos Allfarbe der entfremdeten Freiheit zu sehen (a.a.O., Seite 20).“

Oder wie Wolf Biermann meint:

„Melancholie ist der Überlebenskampf, den ein kluges Herz wagen muss:
Der Widerspruch zwischen begründeter Verzweiflung und begründeter Hoffnung.“

 

Grenzgänger

Wenn mein Herz zerfließt
Und alles in mir schreit,
Wenn aller Regen fließt
Und Leben wurzelt breit.
Wenn mein Herz vor lauter Freude weit
Und meine Arme voller Liebe breit,
Wenn alle Unterschiede dann zerfließen
Und Phantasien über alle Ziele schießen.
Wenn ja und aber mich erheitern
Und alle Blicke Horizont erweitern,
Wenn Kleinmut meinen Großmut weckt
Und Liebe unsre Wunden leckt,
Wenn es dann läuft,
Und Sonne meine Seele wärmt,
Und wenn mein Selbst in Liebe sich ersäuft,
Vor lauter Wohlsein nur noch schwärmt,
Wenn letzte Tage winken,
Und Frühjahr sich mit Herbst vermischt,
Wenn Hoffnung und Erfüllung ineinander sinken
Und letzter Unterschied sich dann verwischt,
Wenn Buntes sich in Grau ergeht,
Dann geh ich weg und komme heim
Und ahne jene Grenzen,
Die jenseits bleiben und geheim
Für alle – vor Gräbern und vor Kränzen.