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Selbstbestimmt leben oder sich aus der Hand geben?

Das sind die beiden Spannungspole, die mit der Haltung Rudi Krawitzens einerseits und mit der Haltung Fulbert Steffenskys andererseits markiert sind. 2014 im Zuge der Kontroverse im Deutschen Bundestag hat Edo Reents in der FAZ Position bezogen und betont, das Sterben sei kein Wunschkonzert. Er hat eine Position eingenommen, die an Arroganz und Ignoranz schwerlich zu überbieten ist. Während Rudi den assistierten Suizid im Nachgang zum Urteil des Bundesverfassungsgericht aus 2020 

Zur fundamentalen Bedeutung von Generativität (in meinem Denken und Empfinden):

Ulrich Schnabel fragt: Was macht "Sinn" überhaupt aus, und in welchen Situationen erlebt man ihn?

Niklas Luhmann sagt:

"Sinn gibt es ausschließlich als Sinn der ihn benutzenden Operationen, also nur in dem Moment, in dem er durch Operationen bestimmt wird, und weder vorher noch nachher. Sinn ist demnach ein Produkt der Operationen, die Sinn benutzen, und nicht etwa eine Weltqualität, die sich einer Schöpfung, einer Stiftung, einem Ursprung verdankt. (Ders. in: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1998, S. 44)"

Das hört sich nicht nur brutal an. Es führt zu der schlichten Konsequenz, dass es - wie Luhmann meint - keine von der Realität des faktischen Erlebens und Kommunizierens abgehobene Idealität gebe.

Aber in dieser Konsequenz stecken versteckte Prämissen, die sich nur über eine intensive Befassung mit Luhmanns Systemtheorie enthüllen: Das faktische Erleben meint alles, was innerhalb unserer Bewusstseinssysteme der Fall ist, während das faktische Kommunizieren alles meint, was innerhalb sozialer Systeme der Fall ist und von Beobachtern durch Unterscheidungen markiert wird. Das würde aber auch bedeuten, dass damit konsitutierte Realitäten immer schon - als gewissermaßen atemporale Zerfallsprodukte - einerseits von den synaptischen Spalten verschluckt und andererseits im kommunikativen Rauschen verhallen würden. Niklas Luhmann entzieht sich dieser ernüchternden Klemme, indem er meint:

"Es braucht deshalb ein Gedächtnis, eine 'memory function', die ihm die Resultate vergangener Selektionen als gegenwärtigen Zustand verfügbar machen (wobei Leistungen des Vergessens und des Erinnerns eine Rolle spielen). Und es versetzt sich selbst in den Zustand des Oszillierens zwischen positiv und negativ gewerteten Operationen und zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz. Es konfrontiert sich selbst mit einer für es selbst unbestimmbaren Zukunft, für die gleichsam Anpassungsreserven für unvorhersehbare Lagen gespeichert sind (a.a.O., S., 45f.)."

Kleine persönliche Einlassung: Mir wird nun klarer, warum ich jeden Tag meine 95jährige Schwiegermutter im örtlichen Seniorenstift Laubenhof besuche und von Tag zu Tag gespannt bin, wie es wohl heute gehen mag. Die Eisdecke, die wir jeden Tag gemeinsam betreten wird dünner und dünner; sie trägt noch. Die Operationen, die wir im sozialen System über Kommunikation gemeinsam vollziehen, bedeuten exakt die angedeutete Atemporalität eines Zerfalls, der sich augenblicklich einstellt. Gedächtnis ist nicht beliebig verfügbar, indem es vergangene Selektionen mühelos in gegenwärtige Zustände überführen könnte; die Verfügbarkeit schwindet in einem rasanten Reduktionsprozess, der irgendwann keinen Rest mehr übriglassen wird. Ich werde das dann vermutlich auf dramatische Weise realisieren, insofern unsere gemeinsam gepflegten und über die letzten 20 Monate Tag für Tag aktualisierten Erinnerungsrituale irgendwann keine Resonanz mehr erzeugen werden - je schleichender und sanfter dieser Prozess sich vollziehen wird, umso weniger dramatisch wird er sich in meinem Erleben darstellen. Aber die Konsequenz wird aus der Sicht des Beobachters eine brutale sein: Irgendwann wird es nicht nur keine von der Realität des faktischen Erlebens und Kommunizierens abgehobene Idealiät (als Vorstellungswelt) mehr geben - die Realität selbst wird sich als leer und sinnlos erweisen (das Attribut sinnlos ist hier eigentlich sinnlos, weil es Sinn voraussetzt: Luhmann bemerkt vermutlich überzeugend, wie schwierig es ist, Unsinn bzw. Sinnlosigkeit zu erzeugen. Als Möglichkeit gelingt dies nur, "wenn man einen engeren Begriff des Sinvollen - zum Beispiel: des alltäglich Üblichen, des Erwartbaren - bildet" und dann Unsinn oder Sinnlosigkeit davon unterscheidet). Auch ein goldenes Ehejubiläum reicht nicht ohne Weiteres aus, um mühelos anknüpfen zu können an das, was so faszinierend und so sinngebend bzw. -erfüllend war, wie bei meinen Schwiegereltern beispielsweise das gemeinsame Tanzen.

[Da könnte im übrigen eine Empfehlung Klaus Dörners helfen, der meint: "Was gut tut, ist, von der Faustregel auszugehen, die freilich nur die Erfahrenen kennen, dass es den helfenden oder pflegenden Angehörigen immer schlechter geht als dem Hilfsbedürftigen oder Gepflegten, was übrigens auch und gerade - das schon mal vorab - fürs Sterben gilt" (in: Ders.: Leben und sterben, wo ich hingehöre - Dritter Sozialraum und neues Hilfesystem, Neumünster 2007, S. 86)]

Und nun zu Ulrich Schnabel - in der Sylvesterausgabe der ZEIT (27. Dezember 2018) geht er der Frage nach, was "Sinn" überhaupt ausmache, und in welchen Situationen man ihn erlebe? Manche - meint Schnabel - suchten verzweifelt nach dem Sinn des Lebens, anderen sei er schlicht egal! Ich will mich aufs Wesentliche beschränken. Nach einer kurzen Einführung stellt Ulrich Schnabel fest:

"Als zentral erweist sich allerdings ein Begriff, der quer durch alle Befragungen und Dimensionen als einer der wichtigsten Sinngeber erscheint: die sogenannte Generativität. Damit ist das Bemühen gemeint, etwas an andere Generationen weiterzugeben und zum 'großen Ganzen' beizutragen - etwa indem man Kinder erzieht, Wissen vermittelt, sich politisch engagiert, Musik komponiert oder die Natur schützt. Generativität hat also vor allem mit dem Gefühl zu tun, sich in einen größeren Zusammenhang eingebunden zu fühlen, der das eigene, begrenzte Leben überschreitet und der damit die individuelle Existenz mit Sinn erfüllt - selbst über den Tod hinaus."

Um auf meine alltägliche Erfahrung im generativen Zusammenhang zurückzukommen, stelle ich mir die Frage, was denn eigentlich geschieht, wenn auch der Zugang zu einem (Selbst-)Bewusstein im Kontext von Generativität (bis zur Unkenntlichkeit - bis zum Selbst- und Fremdvergessen) schwindet? Für Fulbert Steffensky tritt damit einer der Fälle ein, wo der Mensch beginnt, sich aus der Hand zu geben (Ders.: Mut zur Endlichkeit - Sterben in einer Gesellschaft der Sieger, Stuttgart 2007). Alles, was Ulrich Schnabel vor allem auch mit dem Rekurs auf Viktor Frankl thematisiert, ist hier noch nicht der Fall. Deshalb kann er mit Fug und Recht sagen, das der Schritt von der "Ego- zur Sinnorientierung" mit Frankl in die Frage mündet: "Was kann ich beitragen, um die Situation insgesamt zu verbessern". Diese Frage beschere im besten Fall Gefühle wie Selbstwirksamkeit und Zugehörigkeit: "Anders gesagt, die Ausrichtung auf andere lässt uns einen Zusammenhang erleben und spüren, dass es nicht egal ist, ob wir existieren."

Ulrich Schnabel, Viktor Frankl, Niklas Luhmann, Fulbert Steffensky bescheren mir also mit ihren Überlegunen und z.B. mit Blick auf meine Schwiegermutter einen reflektierten Zugang zu genau diesem Lebensgefühl, nämlich dass es nicht egal ist, ob ich existiere. Und mit der These Jean Paul Sartres, dass wir "das sind, was wir tun", gewinne ich heute tatsächlich  - sehr viel konsequenter als in meiner Sturm- und Drangphase - einen Zugang zu meinem eigenen Leben. Und zugegeben: Generativität spielt hier eine zentrale Rolle, die sich immer deutlicher für mich herauskristallisiert: In der Auseinandersetzung mit "Hildes Geschichte", in der Auseinandersetzung mit der brutaleren Variante des Alterns sowohl mit Blick auf meinen Schwiegervater als auch meine Schwiegermutter; und hoffentlich auch mit Blick auf meine Kinder und Kindeskinder.

in progress 

Warum Francis Ford Coppola Recht hat -lyrisch gefasst

Das folgende Gedicht ist fast dreißig Jahre alt - meine älteste Tochter ist 37 Jahre, meine jüngere Tochter 35 Jahre alt, meine Enkelkinder sind fünf bzw. drei Jahre alt. Und die Jüngste ist inzwischen gut acht Monate alt. Fangen wir an mit Unsere Kinder (dass meine eigenen Kinder sich dieses Gedicht mit Blick auf ihre eigenen Kinder zu eigen machen mögen, wünsche ich Ihnen von Herzen):

Was ist eine gute Mutter?

Das Thema hatten wir doch gerade eben - muttertagsgeschuldet! Die Versuche, diese Frage zu beantworten, spielen in diesem Blog eine durchaus prominente Rolle. Es fragen Mütter selber danach: Was ist eine gute Mutter? Eva von Redecker entschlackt den Diskurs und enthält sich einer Wertung hinsichtlich der gestellten Frage. Ihre Hinweise zur symbolischen Ordnung der Mutter hingegen sind enorm hilfreich, gerade dann, wenn man sich mit einer wertenden Beantwortung dieser Frage quält. Diese Qualen haben beispielsweise Markus Deggerich so extrem umgetrieben, weil er seine Mutter beinahe umgebracht hätte. Eine andere Frage ist damit verbunden, ob man zwangsläufig einer Ideologie unterliegen muss, wie es das Gedicht Wenn Du noch eine Mutter hast nahelegt (siehe auch Teil II). Nobelpriesträgerin hinterlässt einen ehrlichen und gleichermaßen quälenden 'Eindruck in ihrem Abschied von der Mutter. Vielleicht hilft die nüchterne Feststellung: Jeder Tag ist Muttertag? Und mit dem Themenfeld Mütter und Söhne ist ohnehin ein Problemfeld besonderer Güte markiert. Mädchen und Frauen fragen eher: Bin ich wie meine Mutter? Man kann dem Thema auch eine generationenübergreifende Perspektive geben, indem man nach dem Verhältnis von Großeltern, Eltern und Enkeln (siehe auch Teil II) fragt! Und schließlich kann man sich fragen, was der Tod der eigenen Mutter bedeutet? Die einen werden erwachsen, andere verpassen genau diese Chance.

Grundsätzlich bleibt bei alledem kein Zweifel, dass die aufgeworfenen Fragen und die teils unsäglichen Konflikte wohl zum Leben dazu gehören - natürlich in den unterschiedlichsten Ausprägungen.Wenn dies so ist, bleibt die Frage zu beantworten, wie man mit diesem Befund umgeht. Tief berührt hat mich im Übrigen die feinsinnige Unterscheidung, die Aron Bodenheimer angesichts finaler Grenzsituationen vornimmt.

Heute gebe ich hier ein Textdokument zur Kenntnis - mit Genehmigung der Autorin, die diesen Text in eine Klanggestalt transformiert, die mich zutiefst beeindruckt. Hier zeigt sich, wie zur Anstrengung des Begriffs eine liedhafte Übersetzung gelingt, die das Kunstück fertigbringt, neben dem Adressaten eine ganze Nation von Müttern (und Vätern) aufhorchen zu lassen. Alle Liebe, alle Nöte, alle Konflikte, alle Projektionen finden in einem kleinen Lied eine bleibende Gestalt; ein bleibende Gestalt, weil sie die Gefühlswelt und Nöte von Müttern in der modernen oder meinetwegen postmodernen Gesellschaft auf den Punkt und zum Klingen bringt. Und in der Tat - zum Text muss man das Lied hören, weil erst das Aufgehen des Textes in seiner liedhaften Form zu einem umfänglichen Erleben führt:

 

Der Text (und das Lied - in Vorbereitung):


Von Muttertier zu Pubertier (Tina Schneider – Dedenbach)

Ich bin nicht immer gut gelaunt – genau wie du.

Ich bin nicht immer ganz gerecht – genau wie du.

Was ich wohl immer bin, ist echt – genau wie du.

Und letztlich bin ich nur ein Mensch – genau wie du.

 

Und dieser Mensch, der du da bist, der ist mein Kind.

Egal wie groß, egal wie alt, du bleibst mein Kind.

Und deshalb lieb ich diesen Menschen, dich, mein Kind.

Auch pubertär und nicht ganz fair, ich lieb mein Kind.

 

Und weil ich deine Mutter bin, ist’s wohl normal,

dass ich dir peinlich oder lästig bin manchmal.

Dass du mich hasst, verwünschst, verfluchst wohl hier und da.

Ich weiß, du kannst oft nichts dafür, doch sei dir klar:

 

Auch ich kann nichts für deine Launen, deine Wut,

für deinen Kummer, Misserfolge, den Unmut.

Ich weiß genau, die Achterbahn in dir, sie tut

Dir selbst genau so wie auch mir kein bisschen gut.

 

Auch ich werf dir Grimassen zu hinter der Tür,

flüstere Schimpfwörter dir zu hinter der Tür.

Du darfst mich ruhig verfluchen hinter deiner Tür.

Doch vergiss eines nie da hinter deiner Tür:

 

Niemanden sonst auf dieser Welt lieb ich wie dich.

Und eben deshalb bin ich auch genau durch dich

Verwundbar wie durch keinen sonst und verletzlich.

Denn niemand sonst bedeutet je so viel für mich.

 

Bei allem, was ich tu und lass, mein ich es gut

Mit dir, dem Lebenswerk von mir, dir, meiner Brut.

Ich lass dich leben und erfahren, mach dir Mut

Und doch bleib ich im Hintergrund stets auf der Hut.

 

Ich weiß, vielleicht kannst du das alles erst verstehn,

wenn es dir selbst irgendwann ähnlich wird ergehn.

So hab auch ich als Mutter manches eingesehn,

was ich als Tochter lange Zeit nicht konnt verstehn.

 

Wir sind nicht immer lieb, gerecht und brav und nett.

Doch eines soll man nie verlieren: den Respekt.

Denn den verdiene ich von dir wie du von mir.

Zur Not erinnert uns daran das Liedchen hier.

 

Auch ich kann nichts für deine Launen, deine Wut,

für deinen Kummer, Misserfolge, den Unmut.

Ich weiß genau, die Achterbahn in dir, sie tut

Dir selbst genau so wie auch mir kein bisschen gut.

 

Auch ich werf dir Grimassen zu hinter der Tür,

flüstere Schimpfwörter dir zu hinter der Tür.

Du darfst mich ruhig verfluchen hinter deiner Tür.

Doch vergiss eines nie da hinter deiner Tür:

 

Niemanden sonst auf dieser Welt lieb ich wie dich.

Und eben deshalb bin ich auch genau durch dich

Verwundbar wie durch keinen sonst und verletzlich.

Denn niemand sonst bedeutet je so viel für mich.

Das lyrische Klärwerk (in progress)

In progress bedeutet, dass hier etwas entsteht, das der weiteren Strukturierung harrt. Es bedarf einer solchen weiteren Strukturierung, weil die Fülle an lyrischen Absonderungen ganz unterschiedlichen Motiven folgt. In einem ersten Block bieten politische Kontroversen und Geschehnisse Anlässe. Daneben habe ich neben Naturlyrik und Liebeslyrik der Gelegenheitslyrik ein eigenes Feld eingeräumt. Dies weist darauf hin, dass die lyrische Verdichtung bzw. die Kurzform sich immer wieder anbieten, um die eigene Befindlichkeit auf den Punkt zu bringen. Auch dies greift in gewissern Weise zu kurz, denn über Befindlichkeitsmomente hinaus geraten meine Gedichte häufig zu existentiell geerdeten Blitzlichtern, die über den Moment hinausweisen.

Es hat 72 Jahre gedauert, bis zu der Idee vorzudringen, dass mein Antrieb zur verdichteten, prägnanten lyrischen Form sich dem Bedürfnis verdankt, einen Angelpunkt für die eigene Position zu finden. Meine Bemühungen geschahen und geschehen in einem (historischen) Kontext, der uns (auch uns Nachgeborenen) auferlegt(e) im Sinne der umstrittenen kantischen Lehre vom radikal Bösen zu unterscheiden, ob jemand sich für das Böse entscheidet, weil es böse ist, und eben nicht nur, weil man es fälschlicherweise für gut hält (siehe Boehm/Kehlmann, der bestirnte Himmel über mir – Ein Gespräch über Kant, 2. Auflage, Berlin 2024, Seite 75).

Der Angelpunkt war früh gesetzt mit der Idee, man müsse den Menschen als Zweck statt als Mittel  betrachten. Der Kantsche Universalismus – trotz aller menschlichen Verfehlungen des Herrn Kant – wirkt heute, verbunden mit seinem dreihundertsten Geburtstag angesichts des rasanten Wiederauflebens von Gewalt als Mittel der Politik entschieden nach, weil die kategorische Falschheit von Handlungsoptionen dann greifbar wird, wenn man dieser Idee folgt, die Menschen nicht als Mittel, sondern als Zwecke zu betrachten (was im Übringen nicht bedeutet, dass man selber dieser Idee in seinen alltäglichen Handlungen auch nur nahekommt):

„Man muss über die eigenen und ihre Interessen hinausblicken und sein Verhältnis in einer Gesellschaft freier und deshalb gleicher Wesen begreifen.“ (siehe a.a.O., S. 73f.). So schreibt Kant:

„Die Klasse der Weißen ist nicht als besondere Art in der Menschengattung von der der Schwarzen zu unterschieden; und es gibt gar keine verschiedene Arten von Menschen.“ (Immanuel Kant, >Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse<, Akademie-Ausgabe der Schriften Kants, Band 8, S. 99f. zitiert nach Boehm/Kehlmann, a.a.O., S. 69)

Und Boehm/Kehlmann fragen an gleicher Stelle, wie jemand, der diesen eben zitierten Satz geschrieben hat, immer noch rassistische Anschauungen haben konnte.

Vermutlich ist dies auch einer der Begründungen für die Zitation Jura Soyfers auf der Vorsatzseite des von Boehm und Kehlmann veröffentlichten Buches, wo es heißt:

Das lyrische Klärwerk (in progress)

Die Projekte häufen sich - sie sollten alsbald auch eine lesbare Gestalt annehmen. Der größere Zusammenhang, in den ich dieses Projekt integrieren werde, nimmt bereits Konturen an.

Es hat 72 Jahre gedauert, bis zu der Idee vorzudringen, dass mein Antrieb zur verdichteten, prägnanten lyrischen Form sich dem Bedürfnis verdankt, einen Angelpunkt für die eigene Position zu finden. Meine Bemühungen geschahen und geschehen in einem (historischen) Kontext, der uns (auch uns Nachgeborenen) auferlegt(e) im Sinne der umstrittenen kantischen Lehre vom radikal Bösen zu unterscheiden, ob jemand sich für das Böse entscheidet, weil es böse ist, und eben nicht nur, weil man es fälschlicherweise für gut hält (siehe Boehm/Kehlmann, der bestirnte Himmel über mir – Ein Gespräch über Kant, 2. Auflage, Berlin 2024, Seite 75).

Der Angelpunkt war früh gesetzt mit der Idee, man müsse den Menschen als Zweck statt als Mittel  betrachten. Der Kantsche Universalismus – trotz aller menschlichen Verfehlungen des Herrn Kant – wirkt heute, verbunden mit seinem dreihundertsten Geburtstag angesichts des rasanten Wiederauflebens von Gewalt als Mittel der Politik entschieden nach, weil die kategorische Falschheit von Handlungsoptionen dann greifbar wird, wenn man dieser Idee folgt, die Menschen nicht als Mittel, sondern als Zwecke zu betrachten (was im Übringen nicht bedeutet, dass man selber dieser Idee in seinen alltäglichen Handlungen auch nur nahekommt):

„Man muss über die eigenen und ihre Interessen hinausblicken und sein Verhältnis in einer Gesellschaft freier und deshalb gleicher Wesen begreifen.“ (siehe a.a.O., S. 73f.). So schreibt Kant:

„Die Klasse der Weißen ist nicht als besondere Art in der Menschengattung von der der Schwarzen zu unterschieden; und es gibt gar keine verschiedene Arten von Menschen.“ (Immanuel Kant, >Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse<, Akademie-Ausgabe der Schriften Kants, Band 8, S. 99f. zitiert nach Boehm/Kehlmann, a.a.O., S. 69)

Und Boehm/Kehlmann fragen an gleicher Stelle, wie jemand, der diesen eben zitierten Satz geschrieben hat, immer noch rassistische Anschauungen haben konnte.

Vermutlich ist dies auch einer der Begründungen für die Zitation Jura Soyfers auf der Vorsatzseite des von Boehm und Kehlmann veröffentlichten Buches, wo es heißt:

   
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