Kurzweil mit: KI - KI - KI - KI - KI - KI - KI - KI - KI
Ich habe keine Ahnung von KI. Die ZEIT 32/25 hilft dabei, mein rudimentäres Nichtwissen zu einem defizitären Halbwissen zu entwickeln. An dem langen, langen Interview Kerstin Kohlenbergs (der vorstehende Link zu Kerstin Kohlenberg stammt aus dem Jahr 2016 und war schon seinerzeit der Briefempfängerin zugedacht, die weiter unten in Erscheinung tritt) und Stephan Leberts mit Ray Kurzweil (77), interessiert mich alles und nichts - vor allem aber die Passage, an der Ray Kurzweil uns prophezeit, dass wir auf eine neue Schnittstelle von KI und unseren Gehirnen zusteuern.
Dazu eine kleine Impression: Vorgestern sind wir morgens früh mit der Fähre von Juist nach Norddeich-Mole gefahren - gemeinsam mit Laura, Thomas und Anouk, unserer jüngsten Enkelin - (die/der) allerjüngste wird uns im September beglücken. Diese beiläufig erscheinende Info ist allein deshalb schon wichtig, weil (alle) unsere Enkelkinder in jene Welt hineinwachsen, die Ray Kurzweil in besagtem Interview skizziert. Jedenfalls drängte sich von meinem Platz auf der Fähre immer wieder eine großer, ovaler Tisch in mein Blickfeld. An diesem Tisch saß eine Reisegruppe - bestehen aus einem knappen Dutzend Frauen mittleren Alters. Früher hätten mich vielleicht die Frauen selbst interessiert - an diesem Morgen war es ihr auffällig-unauffälliges Verhalten. Alle - ohne Ausnahme - saßen phasenweise still auf ihrem Platz, den Blick gesenkt. Sie schauten auf ihre Handys, daddelten wo auch immer herum und vermittelten den Eindruck mit sich und der Welt im Einklang zu sein; ja mit sich und der Welt (da draußen im www). Es wurde auch gelacht, zwischendurch geredet. Immer wieder aber senkte sich Schweigen über die Gruppe, begleitet von Kaubewegungen und fingerschnellen Tastvorgängen.
Nun zu der Schlüsselstelle in besagtem Interview und der Verlagerung von Schnittstellen. Kerstin Kohlenberg und Stephan Lebert fragen bzw. bemerken:
Wenn die Maschine aber aus allem menschengemachten Wissen der Welt besteht, wird sie dann nicht, wie wir Menschen, irgendwann auch einen Widerstand gegen ein Ausschalten entwickeln?
Kurzweil: Nicht wenn wir Menschen mit der KI verschmelzen. Das ist der einzige Weg, um mit einer immer intelligenteren KI mithalten und nicht von ihr beherrscht zu werden. Die Verschmelzung wird sich in mehreren Schritten vollziehen. Ich rechne damit, dass wir in vier Jahren, 2029, in der Lage sein werden, die rund 20 Milliarden Neuronen des Neokortex unseres Gehirns in direkte Verbindung mit einem Computer zu bringen. Durch Implantate zum Beispiel
Kohlenberg/Lebert: Der Neokortex ist was noch mal?
Kurzweil: Der evolutionsmäßig jüngste Teil des Gehirns, verantwortlich für höhere kognitive Funktionen wie Denken, Planung und Sprache.
Kohlenberg/Lebert: Und dort sollen dann Implantate eingepflanzt werden?
Kurzweil: Mit diesen Implantaten wird es selbstverständlich zu Interaktionen zwischen unseren Gehirnen und der Technik kommen. Das hört sich an wie Science-Fiction, aber man muss sich das so vorstellen, wie wir heute mit unsren Handys agieren: Wenn uns etwas nicht einfällt, schauen wir auf unserem Handy nach. Das Handy ist nicht in unserem Körper - wobei, wenn ich mir anschaue, wie die Menschen heute schon mit ihrem Handy gewissermaßen verschmolzen sind... In wenigen Jahren wird das, was heute das Handy ist, ein Chip in uns drin sein. Wenn man nach einem Datum oder einem Namen sucht, wird man nicht mehr sagen können, ob die Antwort aus dem eigenen Gehirn oder dem KI-Assistenten auf dem Chip stammt. Das mag heute seltsam klingen, aber es wird so kommen. Mit den simulierten Neuronen können wir den Neokortex austocken, und so wird eine immer größere kognitive Leistung möglich. Die Größe des Gehirns wird nicht mehr dadurch begrenzt sein, was durch den Geburtskanal passt.
Kohlenberg/Lebert: Dann können wir aufhören, unsere Kinder dazu zu bringen, sich Wissen durch Lesen anzueignen?
Kurzweil: Das wird eine große Herausforderung werden. Als ich aufs College ging, hatten wir eine ähnliche Debatte mit den Taschenrechnern. Und tatsächlich beherrschen die Menschen heute die lange Division nicht mehr, also wie man große Zahlen dividiert. Natürlich wollen wir den Menschen das Lesen beibringen, es gibt einige Bücher, von denen wir möchten, dass man sie liest. Wie dieses Buch. (Er zeigt auf sein eigenes und grinst.) Und doch wird die Tendenz, diese Dinge nicht mehr zu lernen, zunehmen.
Kohlenberg/Lebert: Ist das nicht ein Problem?
Kurzweil: Wenn wir die KI mit unsrem eigenen Gehirn verbinden, wird das kein Problem mehr sein, die KI hat jetzt schon ungefähr eine Million Bücher gelesen. Sie wird uns ein ganz neue Art von kulturellem Reichtum eröffnen. Das ist der Kern meiner Definition von Singularität. Wenn wir die Enge unseres Schädels verlassen und zusätzlich mit einem Implantat arbeiten, das Millionen mal schneller ist als unser biologisches Gewebe, kann und wird unser Bewusstsein exponentiell wachsen und unsere Intelligenz sich millionenfach ausdehnen.
Kohlenberg/Lebert: Was wird diese Technologie am Ende mit uns machen?
Ray Kurzweil ist kein Optimist, wie er bekennt. Er versteht sich als Realist! Lest selbst weiter, in einem - selbst für die ZEIT - langen, langen Interview.
Aber auch bei mir hat dieses Interview eine Menge Fragen ausgelöst? Geht man hin und konsultiert Dr. Google, um sich zu vergewissern, ob man über Erlerntes über unser Gehirn noch aktualisieren kann, findet man zum Beispiel Folgendes:
"Das Gehirn ist das Organ, das (selbstredend auch) Emotionen verarbeitet und reguliert, während Emotionen selbst als körperliche und psychische Reaktionen auf innere und äußere Reize verstanden werden können. Verschiedene Gehirnregionen, insbesondere das limbische System und der präfrontale Kortex, spielen eine wichtige Rolle bei der Entstehung, Verarbeitung und bewussten Wahrnehmung von Gefühlen."
Ray Kurzweil mag ein überaus intelligentes Kerlchen sein. Aber ich traue ihm nicht im Entferntesten zu, die komplexen Folgen und Wechselwirkungen auch nur zu erahnen, die er mit seinen Schnittstellenphantasien auslöst. Vermutlich gibt es doch noch einen gewaltigen Unterschied ums Ganze zwischen: Handy in der Hand oder Chip im Kopf. Die folgenden Auslassungen Peter Sloterdijks sind zwar schon 25 Jahre alt. Aber es gibt vermutlich - ich übe mich in Bescheidenheit - noch keinen Anlass, seine Sichtweise grundlegend in Frage zu stellen. Dabei meine ich zu Recht von einer Hypothek zu sprechen, wenn ich davon ausgehe, dass doch kaum jemand will, dass irgendjemand begreift und nachvollziehen kann, wer man wirklich ist bzw. war; einmal ganz abgesehen davon, dass es aberwitzig erscheint und einer Hypbris gleichkommt, davon auszugehen, man wüsste dies selbst und sei sich selbst jederzeit und in jeder Hinsicht vollkommen transparent:
"Wenngleich Organismen Materialisationen ihres Intelligenz- und Erfolgsdesigns darstellen und, dementsprechend, auf die permanente Abtastung und Nachregelung von eigenen Zuständen angelegt sind, so sind sie nirgends darauf eingerichtet, sich in sich selbst vollständig zu reflektieren oder zu repräsentieren. Sie sind, um es anders auszudrücken nicht darauf ausgelegt, die Wahrheit über sich selbst in sich zu haben [...] Es gibt kein menschliches Gehirn, und es kann aus prinzipiellen Gründen keines geben, das bis ins einzelne wüsste, wie es selbst funktioniert, geschweige denn eines, das sich bei laufendem Betrieb eine komplette Repräsentation seiner historischen und strukturellen Betriebsbedingungen - im Sinne eines hierjetzt aktuellen, in Totaltransparenz zu sich gekommenen Geistes - gegenwärtig halten könnte [...] Es existiert in dieser Hinsicht kein sich selbst bis auf den Grund durchsichtiges Subjekt (Peter Sloterdijk in: Luhmann-Lektüren, Berlin 2010, S. 127f.)."
Sieht man einmal davon ab, dass sich KI hier anmaßt einerseits in Konkurrenz zu Marisa zu treten, und dass andererseits Peter ein unfassbare Bestätigung finden würde - allein durch das Einpflanzen eines Mini-Chips, der auf einen Schlag eine Million gelesene Bücher in seine kognitive Verfügungswelt fluten würde (und was ist mit erwartbarenen Emotionen, wenn Anais Nins Delta der Venus (siehe auch: hier) ungefragt auf einmal seinen Neokortex reizen würde???); also sieht man einmal ab von solch individuellen Herausforderungen, bleiben noch andere Fragen.
Ich habe gestern einen Brief an jemanden losgeschickt, der mir viel bedeutet. Ich habe ihn mit der Hand geschrieben und betont, das habe den Vorzug, dass man sich während des Schreibens in einem recht intensiven Prozess des Nachdenkens und Überlegens befindet; allerdings sei das ganze mit dem Nachteil verbunden, dass das, was sich gedanklich im Kopf befinde, durch das Nadelöhr – in diesem Falle eines Kugelschreibers auf’s Papier müsse. Der Stift habe zwar gut in der Hand gelegen und einen relativ flüssigen Schreibvorgang erlaubt. Aber es bedeute eben gleichzeitig – wie Luhmann sagen würde bzw. gesagt hat –, dass Vieles, gemessen an den gedanklichen Prozessen, dass ganz gewiss das Meiste ungesagt bleibe.
Mit Blick auf Ray Kurzweil bin ich zutiefst davon überzeugt, dass zu seinen ganzen Software-Phantasien - mit implantierten Chips - unser Bios hoffnungslos dysfunktional daherkommt. Um im Bild zu bleiben: Kann man sich vorstellen, in einen Trabi den Motor - sagen wir eines Porsche 911 (ganz schnuppe, ob mit 500 oder 700 PS) - einzubauen, und dann damit auch zu fahren? Aber dies ist ja auch nur ein vollkommen untaugliche, unterkomplexe mechanische Anleihe aus der Welt der trivialen Maschinen. Wir sind aber keine trivialen Maschinen. Ray Kurzweil - und dies sei hier noch angefügt - lässt einen Einblick zu in seine Beziehung zur Medizin bzw. in welcher Weise medizin-technische Innovation seinem Bios neue Perspektiven eröffnet:
"Kurzweil krempelt den Ärmel hoch und zeigt auf eine Plastikkapsel an seinem Oberarm. Und erläutert, er habe seit 40 Jahren Diabets:
Meine Bauchspeicheldrüse gibt nicht genügend Insulin ab. Das hier ist eine künstliche Bauchspeicheldrüse. Sie misst die Glukose in meinem Arm und berechnet, wie viel Insulin ich alle fünf Minuten brauche. Ein zweite, etwas größere Kapsel an meinem Körper enthält Insulin, die gibt dann die genaue Menge ab. Sie funktioniert wie eine echte Bauchspeicheldrüse. Gesteuert wird sie allerdings von meinem Telefon. Diese Erfindung gibt es erst seit ungefähl sechs Monaten und nur deshalb, weil Computer immer größere Datenmengen auswerten können. Der wissenschaftliche Fortschritt schreitet so sehr voran, dass sie heute etwa vier Monate für jedes gelebte Jahr zurückbekommen. Du lebst also ein Jahr, bekommst aber vier Monate zurück. Tatsächlich altern Sie jedes Jahr also nur acht Monate. Ich bin gerade 77 geworden. Wir werden an einem Punkt kommen, an dem wir nicht mehr wirklich am Alter sterben werden."
Schöne, neue Welt - ob da unsere Gehirne mithalten. Kurzweils Beispiel ist ja "nur" ein triviales, bei dem die Transformationsregeln vorgegeben sind: Eine künstliche Bauchspeicheldrüse misst die Glukose in seinem Arm und berechnet, wie viel Insulin er alle fünf Minuten braucht. Und er hat die Kohle dazu, die neuesten (medizinischen) Innovationen - eine künstliche Bauchspeicheldrüse - schlichtweg zu kaufen.
Es bleibt der Hinweis, dass wir - bis auf weiteres - wohl als nicht-triviale Maschinen (Heinz von Foerster, übrigens auch ein in die Staaten ausgewanderter Österreicher, wie die Familie Kurzweils - er verfügt über eine unfassbar komplexe, hochinteressante Biografie - der eine, wie der andere) unsere Kreise in dieser Welt ziehen. Dies hat, liebe Kathrin, - in der paradoxalen Welt der Spätmoderne - sowohl entlastende wie belastende Aspekte zur Folge.