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Er kommt in einen Park, setzt sich auf eine Bank, lehnt sich zurück, atmet tief und schließt die Augen. Er lässt es sein, das lange Kämpfen, verlässt sich auf die innere Kraft, spürt, wie ruhig er wird und nachgibt, wie ein Schiff im Wind, im Einklang mit der Vielfalt, dem weiten Raum, der langen Zeit.

Er sieht sich wie ein offenes Haus. Wer hinein will, darf auch kommen, und wer kokmmt, der bringt auch etwas, bleibt ein wenig und geht. So ist dieses Haus ein ständiges Kommen, Bringen, Bleiben und Gehen. Wer als Neuer kommt und Neues bringt, wird alt, indem er bleibt, und es kommt die Zeit da wird er gehen. Es kommen in sein offenes Haus auch viele Unbekannte, die lange vergessen oder ausgeschlossen waren, und auch sie bringen etwas, bleiben ein wenig und gehen. Und auch die schlimmen Gesellen, denen er am liebsten die Türe weisen würde, kommen, und auch sie bringen etwas, fügen sich ein, bleiben ein wenig und gehen. Wer es auch sei, der kommt, er trifft auf andere, die vor ihm kamen und die nach ihm kommen. Und da es viele sind, muss jeder teilen. Wer seinen Platz hat, hat auch seine Grenze, Wer etwas will, muss sich auch fügen. Wer gekommen ist, der darf sich auch entfalten, solange er noch bleibt. Er kam, weil ander gingen, und er wird gehen, wenn andere kommen. So bleibt in diesem Haus genügend Zeit und Platz für alle.

Wie er so dasitzt, fühlt er sich wohl in seinem Haus und weiß sich eins mit allen, die kamen und kommen und brachten und bringen und blieben und bleiben und gingen und gehen. Ihm ist, als sei, was vorher unvollendet war, nun ganz; er spürt, wie ein Kampf zu Ende geht und Abschied möglich wird. Ein wenig wartet er noch auf die rechte Zeit. Dann öffnet er die Augen, blickt sich noch einmal um, steht auf und geht. (Einer Geschichte Bert Hellingers nachempfunden)

Nun bin ich selbst unterdessen 73 Jahre alt und bin - um Hildes Geschichte aufzuschreiben - schon vor vielen Jahren durch die Straßen meiner Heimatstadt gewandert. Diese Straßen, die mir so ungemein vertraut waren, wollte ich noch einmal erleben und durch die Augen meiner Mutter sehen, die vom 15 August bis zum 9.September 1942 ihre Erweckung erlebte und in einen - für unser Verständnis und für unsere Vorstellungskraft - unfassbaren Strudel von Ereignissen geriet, die am 5. Juni 1942 zur Geburt ihrer Tochter Ursula führen sollten - einen Monat vor ihrem achtzehnten Geburtstag.

2003 durfte ich erwachsen werden und meine Mutter auf ihrem letzten Weg begleiten. Merkwürdig wie dankbar ich dem seinerzeitigen Chefarzt des Bad Neuenahrer Maria-Hilf-Krankenhauses, Dr. Kreuter, im Rückblick dafür bin, dass er dafür sorgte, dass ich im Sterbezimmer meiner Mutter ein eigenes Bett bekam. So war es mir möglich, mehr aus Hilflosigkeit und Unerfahrenheit jenes als aus einer Stärke heraus jenes Sterbetagebuch anzufertigen, dass mich tatsächlich Stand halten ließ und diesem Abschied einen besonderen Rahmen, eine eigene Aura verlieh - weit über ihren Tod hinaus begleitet sie mich, hält ihre Hand über mich. Henning Sußebach hat mich auf die Idee gebracht, meinen Blog zu nutzen und Hildes Geschichte noch einmal Kapitel für Kapitel zu erzählen - ganz im Sinne seiner Überzeugungen, die er mit dem Aufschreiben der Geschichte seiner Urgroßmutter verbindet. Hilde, meine Mutter ist inzwischen auch Urgroßmutter, und ich stelle mir vor, dass sie ihre Hand nicht nur über mich hält, sondern über alle, die aus ihr hervorgegangen sind. Bert Hellinger macht uns noch einmal darauf aufmerksam, dass zu diesem Hervorbringen unter Umständen - und Hilde hat solche Umstände erlebt - auch die schlimmen Gesellen gehören. Aber werden wir beispielsweise dem Vater meiner Schwester tatsächlich gerecht, wenn wir ihn als schlimmen Gesellen sehen. Der Ausschluss, das beharrliche Weigern auch jenen Ahnen zu sehen und anzunehmen, dem meine Mutter, die Mutter meiner Schwester, die Großmutter meines Neffen und die Urgroßmutter aller Enkel:innen in Hingebung und Liebe begegnete, verhindert dort anzukommen, wo ich mich wähne - als jemand der irgendwann die Augen öffnet, sich noch einmal umblickt, aufsteht und geht - im Einklang mit sich selbst und seiner Geschichte.

Hildes Geschichte - Das Feuerzeug

Änne war die erste Kellnerin im „Goldenen Pflug“, Hotel und Restaurant in Bad Neuenahr, mitten in der Stadt auf der Hauptstraße, unweit des Bahnhofs (1). Hildchen – wie Änne sie nannte – hatte dort nach der Volksschule ihr Pflichtjahr absolviert. Und da sie ihre Aufgaben zur großen Zufriedenheit der Eigentümer erledigte, hatte ihr die Familie Broicher angeboten zu bleiben. Sie kümmerte sich um die beiden Kinder Doris und Dieter und war zum guten Geist des Hauses geworden.Buch Jupp   Hildes Geschichte

Als die ältere von zwei Mädchen hätte sie – wie man sagt – jeden Jungen ersetzt. So wollte es der Vater, und so hatte er sie erzogen. Sie war vor einem guten Monat 17 geworden; ein Wildfang, wissbegierig und voller Erwartung auf die mondäne Seite des aufstrebenden Kurstädtchens.

Am Abend des 15. August 1941 rief Änne Hildchen zu sich, drückte ihr ein silberfarbenes Feuerzeug in die Hand: „Lauf, schnell die drei Herren können erst wenige Meter weit sein.  Einer von ihnen hat sein Feuerzeug liegen lassen!“

Mit wehenden Haaren und offener Schürze lief Hilde aus der Gaststube und sah drei Männer in Uniform, die soeben im Begriff waren, ein Auto zu besteigen.

„Entschuldigen sie bitte vielmals“, rief Hilde, indem sie die Straße überquerte, „sie haben ihr Feuerzeug vergessen!“ Überrascht drehten sich die drei Herren um, während Hilde abbremste, ins Stolpern geriet und versuchte, die Situation mit einem Knicks zu retten.

„Langsam mein Kind“, erwiderte der ältere der drei Männer und bewegte sich reaktionsschnell auf Hilde zu, fing sie auf und begegnete ihr mit einem breiten, offenen Lachen, indem seine Sonnenbrille zu Boden fiel (2). Hilde spürte, wie ihr das Blut stockte und eine Hitzewelle ihren Körper erfasste. Ihr Kopf schien zu platzen, und ihre Wangen fühlten sich an, wie nach einem heftigen Sonnenbrand. Sie senkte den Kopf und stammelte: „Entschuldigen Sie bitte, mein Herr“, indem sie ihm das Feuerzeug entgegenhielt.

Der Herr von staatlicher Größe hielt sie an den Schultern, richtete sie auf und berührte mit der rechten Hand sanft ihr Kinn. Behutsam richtete er ihren gebeugten Kopf

auf. Dabei senkte er den Oberkörper leicht ab, so dass Hilde wieder in das offene, Buch Jupp   Hildes Geschichte   final 2 page313 image9freundliche Gesicht eines Mannes sah, der in seiner Uniform eine außerordentliche, für Hilde ungewohnte Ausstrahlung entfaltete. „Nicht so schnell, mein Kind“, hörte sie ihn mit einer gleichermaßen sonoren wie freundlichen Stimme sagen.

Hilde sah für Bruchteile von Sekunden in ein Gesicht, dessen Züge sich in ihre Wahrnehmung so unauslöschlich einbrannten, wie die von einem Blitz auf das lichtempfindlichste Papier gebannte Welt; ein Pergament, das in wenigen Sekunden die Geschichte eines ganzen Lebens aufzeichnet und wie eine Geheimgrammatik in ihre Seele tätowierte. Sie ließ das Feuerzeug fallen, drehte sich abrupt um und lief panisch – wie von der Tarantel gestochen – in die Gaststube zurück – mitten in die Arme von Änne. „Was ist denn Kindchen, was ist denn?“ Du siehst ja aus, als hättest du den Leibhaftigen gesehen!“ Hilde lief in die Küche und begann fahrig das Geschirr einzuräumen, wobei in der Hast ein Teller zu Bruch ging. Änne ging in die Küche, wo Hilde unter Tränen die Scherben des zerbrochenen Tellers zusammenfegte. „Was hast du denn Hildchen, lass‘ doch den dummen Teller!“

Änne – zehn Jahre älter als Hilde – richtete sie auf, nahm sie in ihre Arme und hielt sie fest. Sie spürte, wie Hilde zitterte und bebte. Sanft strich sie ihr übers Haar, nahm dann ihr Gesicht in beide Hände, sah sie an und sagte: „Heute Nacht bleibst du bei mir!“

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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