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Danke für Hildes Geschichte (4)

Henning Sußebach hat mich auf die Idee gebracht, meinen Blog zu nutzen und Hildes Geschichte noch einmal Kapitel für Kapitel zu erzählen - ganz im Sinne seiner Überzeugungen, die er mit dem Aufschreiben der Geschichte seiner Urgroßmutter verbindet. Hilde, meine Mutter ist inzwischen auch Urgroßmutter, und ich stelle mir vor, dass sie ihre Hand nicht nur über mich hält, sondern über alle, die aus ihr hervorgegangen sind. Bert Hellinger macht uns noch einmal darauf aufmerksam, dass zu diesem Hervorbringen unter Umständen - und Hilde hat solche Umstände erlebt - auch die schlimmen Gesellen gehören. Aber werden wir beispielsweise dem Vater meiner Schwester tatsächlich gerecht, wenn wir ihn als schlimmen Gesellen sehen. Der Ausschluss, das beharrliche Weigern auch jenen Ahnen zu sehen und anzunehmen, dem meine Mutter, die Mutter meiner Schwester, die Großmutter meines Neffen und die Urgroßmutter aller Enkel:innen in Hingebung und Liebe begegnete, verhindert dort anzukommen, wo ich mich wähne - als jemand der irgendwann die Augen öffnet, sich noch einmal umblickt, aufsteht und geht - im Einklang mit sich selbst und seiner Geschichte.

2012, im Februar zu meinem 60sten Geburtstag, lag eine Rohfassung von Hildes Geschichte vor. Ein 60jähriger Mann - zudem noch der Sohn der Protagonistin - versucht sich in den Gemüts- und Gefühlszustand einer 17jährigen zu versetzen. Unsere Verwandtschaft ersten Grades - will sagen, ich glaube meine Mutter ein wenig zu kennen - macht mich glauben, dass mir dies vollumfänglich gelungen ist. Nun gut - alle Hybris mal bei Seite: Allein die Tatsache, dass Hilde zwischen dem 15. August und dem 9. September eine in jeder Hinsicht galaktische Metamorphose erfuhr, dass sie sowohl körperlich wie auch in ihrem gesamten affektiv-emotionalen Dasein einen dynamischen Entwicklungsschub von solch energetischer Srahlkraft zuließ und in sich auslebte mit der Konsequenz schon am 9. September gebenedeit unter den Frauen zu sein, zeigt mir, dass ich in meiner Wahrnehmung und in dem Versuch, diesem Geschehen eine gerinnungs- und damit sprachbildende Injektion zu verpassen, nicht fehl gehe. Ihre Metamorphose zur Frau hin konnte Änne gewiss einfühlsam und hilfeich begleiten. Die Sprengkraft der parallel verlaufenden Veränderungen überforderten ganz sicher auch Änne. Der emotionale Overkill und eine vollkommen aus dem Ruder laufende Affektlogik führten sowohl Änne als auch Hilde weit über ein Erträgliches und ein zu Verkraftendes hinaus. Ohne Änne, die die Patentante der kleinen Ursual werden sollte, hätte sich Hilde gewiss im Orkus des sich auftuenden Schlundes einer erbarmungslosen, jesusvergessenen und moralinsauren katholischen Spießerwelt verloren.

Aber als Cupido seinen Pfeil auf den Weg brachte, war davon weder etwas zu spüren noch zu ahnen.

Wir haben oft darüber gerätselt, wie weltfern und -fremd Hilde in eine Welt hinein katapultiert wurde, die sich offenkundig gänzlich ihrer Vorstellungskraft und auch ihren bescheidenen Wissensgewissheiten entzog. Dass ich selbst in dieser Einschätzung nicht vollkommen fehl gehe, lässt sich am ehesten damit verbürgen, dass dem Katholischen auch in unserer eigenen Erziehung - sowohl in der Erziehung unserer Schwester als auch in unserer, in Willis und meiner Erziehung, eine latente Dominanz zukam. Aufklärung wurde in den beginnenden 60er Jahren noch der Katholischen Kirche überlassen. Meine Schwester hat mir glaubhaft vermittelt, dass auch ihre eigene Schwangerschaft 1961 - zur Unzeit - im Wesentlichen auf Unkenntnis und Unwissen zurückzuführen war.

Hildes Geschichte - Der "Goldene Pflug" und Cupidos Pfeil

Seit sie auf den Beinen war, gingen ihr die abendliche Begegnung und ihre Tölpelhaftigkeit nicht mehr aus dem Sinn. Die Bemerkungen von Änne taten ein Übriges dazu, dass sie nicht aufhören konnte zu grübeln. Vielmehr noch beunruhigte sie ein merkwürdiger Gefühlszustand, den sie nicht zu deuten vermochte: ihre so schon empfindliche Nase spielte ihr ein ums andere Mal Streiche. Obwohl weit und breit niemand – vor allem kein männliches Wesen – in der Nähe war, umnebelte sie ein Gemisch aus herben Parfum- und Tabakdüften. Zu alledem verspürte sie eine Unruhe in der Magengegend und ein leichter Schwindel gab ihr das Gefühl andauernd zu schweben; alles in Allem nicht unangenehm, jedoch höchst beunruhigend. Und dann noch das blöde Gerede von Änne: „Hildchen, Hildchen, so fängt das immer an – du hast dich in den Kerl verguckt!“ Anderseits stimmte das genauso: immer wieder erschien ihr das lachende, offene, freundliche Gesicht dieses „Kerls“, seine weißen, überaus beeindruckenden Zähne, die strahlenden blauen Augen. All das kam ihr vor, wie ein Feuerwerk, nein wie Blitz- und Donnerschlag in Einem. Und immer wurde ihr heiß und kalt, wenn sie diese dunkle, aber überaus warme Stimme erinnerte: „Langsam, mein Kind!“ Ganz kurz nur hatte er sie gehalten, kurz vor dem Hinfallen. Aber es war, als durchführe sie ein Stromschlag – von den Haarspitzen bis zum kleinen Zeh – immer wieder. Niemals zuvor hatte sie so etwas erlebt, und sie kam sich in der Tat vor, wie ein dummes Schaf.

Die Ablenkung durch die Kinder tat Hilde gut. Sie packte Doris in den Kinderwagen, nahm Dieter an der Hand; so ging es zuerst die Poststraße hinunter bis zur Kurgartenbrücke und dann in den Kurgarten zum Springbrunnen. Zuvor hatte sie aber der Herr des Hauses kurz beiseite genommen und gebeten, heute Abend in der Gaststube auszuhelfen; ihm konnte und wollte sie keinen Wunsch abschlagen. Die besondere Verehrung für den Juniorchef des "Goldenen Pflugs" war einerseits seiner überaus freundlichen Art geschuldet. Auf der anderen Seite hatte Hilde das Gefühl, dass Herr Broicher ihr mit besonderer Sympathie begegnete, weil er sie spüren ließ, wie sehr er ihre warmherzige und dennoch strenge Art im Umgang mit den Kindern schätzte.

So verging der Samstag wie im Fluge. Broichers machten sich am Nachmittag zu einem Verwandtschaftsbesuch auf, während Hilde in der Hotelküche half, Gemüse und Kartoffeln für den Abend vorzubereiten. Hilde arbeitete gerne in der Küche. Neben der Köchin, einer Frau mittleren Alters von beeindruckender Körperfülle und der Verbindlichkeit eines Feldwebels und zwei Küchenhilfen, traf Hilde dort auf „Germaine“, eine zwangsverpflichtete Französin aus Toulon. Die wusste sehr wohl zwischen dem Chef des Hauses und der Hausherrin zu unterscheiden. Während der Herr des Hauses von allen Bediensteten und Angestellten aufgrund seiner gleichermaßen strengen wie freundlichen und vor allem gerechten Art im Umgang mit dem Personal geschätzt wurde, begegnete man seiner Frau mit großen Vorbehalten. Germaine freute sich immer „..ilde“ zu sehen. Wenn die beiden in einem Nebenraum der Küche zusammen saßen und das Gemüse fegten, dann kauderwelschte Germaine oft: „Liebes …ildchen, wenn alles vorbei und alle Nazi tot, dann kommst du nach Toulon misch zu Besuch.“ Hilde versuchte dann mäßigend auf Germaine einzuwirken. Aber Germaine war fast fünfzig Jahre alt und fluchte und schimpfte dann allenfalls auf Französisch weiter, so dass wenigstens niemand verstehen konnte, was sie sagte. Einzig Herrn Broicher begegnete sie mit einer freundlich-charmanten bis devoten Haltung, weil sie meinte, er sei eine bon-homme, eine „gut-Mann“. (5 -  Germaine ist auf nachstehendem Foto die dritte Frau von links mit dem gewellten Haar; rechts neben ihr Hilde - unten das Ehepaar Broicher mit ihrem Sohn Dieter)Buch Jupp   Hildes Geschichte   final 2 page313 image26

Als Reserveoffizier, in der ersten Dekade des 20sten Jahrhunderts geboren, sollte der Juniorchef zu Beginn des Jahres 1944 noch einberufen werden und im Hürtgenwald durch Granatsplitter zum Tode hin schwerstverletzt werden. Als man ihn im November 1944 nach Bad Neuenahr überführte und im „Goldenen Pflug“ aufbahrte, so hat Hilde es gesehen und berichtet, schämte sich auch Germaine ihrer Tränen nicht, während sie ihrer Herrin nach der Befreiung und dem Einmarsch ihrer Landsleute in die Schmuckkommode einen großen Haufen Scheiße gesetzt hat.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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