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Danke für Hildes Geschichte (19) - immer mit dem Verweis auf J. Lear!

Henning Sußebach hat mich auf die Idee gebracht, meinen Blog zu nutzen und Hildes Geschichte noch einmal Kapitel für Kapitel zu erzählen - ganz im Sinne seiner Überzeugungen, die er mit dem Aufschreiben der Geschichte seiner Urgroßmutter verbindet. Hilde, meine Mutter ist inzwischen auch Urgroßmutter, und ich stelle mir vor, dass sie ihre Hand nicht nur über mich hält, sondern über alle, die aus ihr hervorgegangen sind. Bert Hellinger macht uns noch einmal darauf aufmerksam, dass zu diesem Hervorbringen unter Umständen - und Hilde hat solche Umstände erlebt - auch die schlimmen Gesellen gehören. Aber werden wir beispielsweise dem Vater meiner Schwester tatsächlich gerecht, wenn wir ihn als schlimmen Gesellen sehen. Der Ausschluss, das beharrliche Weigern auch jenen Ahnen zu sehen und anzunehmen, dem meine Mutter, die Mutter meiner Schwester, die Großmutter meines Neffen, meiner Kinder und meiner Nichten und die Urgroßmutter aller Enkel:innen in Hingebung und Liebe begegnete, verhindert dort anzukommen, wo ich mich wähne - als jemand der irgendwann die Augen öffnet, sich noch einmal umblickt, aufsteht und geht - im Einklang mit sich selbst und seiner Geschichte.

Ein kurzes, knappes Kapitel - eine Heimkehr, die verbrieft ist. Die Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht teilte mir mit Schreiben vom 26.2.2013 - die Familie hatte mich zur entsprechendne Rechersche autorisiert - unter anderem zur Kategorie Verwundung/Lazarettaufenthalte folgendes mit:

15.08.1941 Reservelazarett Ahrweiler - Erkrankung - Zugang: von Lazarettzug 682 Abgang: 09.09.1941 dienstfähig zur Panzer-Ersatz-Abteilung 33, St. Pölten
Dies bedeutet, dass Franz Streit unmittelbar von Remagen aus nach St. Pölten gefahren sein muss - ich habe ihm noch einen Aufenthalt in Salzburg eingeräumt. Was dies im Einzelnen bedeutet haben mag, kann ich nicht wissen. Was ich aber den mir zugestellten Informationen entnehmen kann, ist folgendes: Franz Streit ist vom Kriegslazarett 220 am 17.03.1942 als "garnisonsverwendungsfähig" wiederum in die "Heimat" mit dem Verweis "Ersatz-Truppe" entlassen worden. Sein Sohn Werner wird am 30.12.1942 geboren werden (wer rechnen kann, der möge rechnen), ein gutes halbes Jahr nach seiner Schwester Ursula, die am 5.6.1942 das Licht der Welt erblicken wird.

Aus Franz Streit sind zwei beurkundete Kinder hervorgegangen (Gert und Werner) - und eben Ursula, in deren Geburtsurkunde der Vermerk steht: Vater unbekannt), Erst mehr als 50 Jahre nach ihrer Geburt sollten die drei sich finden. Vermutlich gehört es zu den gravierendsten kriegsbedingten Kollateralschäden, wenn Kinder ihrer Herkunft distanziert oder abweisend gegenüberstehen. Wir wissen heute, wie sehr diese Abwehr persönlichkeitsprägende Auswirkungen zeitigt. Als Bruder meiner Schwester begreife ich es als großen Segen, mit dem Licht, dass wir in ihre väterliche Herkunft tragen konnten, auch eine enge geschwisterliche Bindung erleben zu dürfen, die diese drei Geschwister zueinander und miteinander entwickelt haben. Gert ist inzwischen leider verstorben - ihm sei in diesem Kommentar gedacht!

Was ich hier zum ersten Mal erzähle, bezieht sich auf die erste Kontaktaufnahme meiner Schwester, die über unsere Recherschen eine Telefonnummer in die Hände bekam. Man mag sich vorstellen, mit welch innerer Unruhe und mit welch - möglicherweise - überbordenden Erwartungen und Hoffnungen sie diese Telefonnummer damals wählte. Sie geriet an einen Neffen Franz Streits, der ihr nach den ersten wenigen Sätzen, mit denen sie sich vorstellen wollte, auf den Kopf zusagte: "Auf Ihren Anruf haben wir fast vierzig Jahre gewartet." Ein unverhoffter Glücksfall, war dieser Neffe - Wolfgang -, der Sohn der Lieblingsschwester Franz Streits, doch genauestens informiert. Was hatte sich vor vierzig Jahren zugetragen? Werner, der jüngere der beiden Söhne Franz Streits, versehen mit der deutschen Staatsbürgerschaft, diente in einem Panzerregiment - just in jener heißen Phase des Kalten Krieges, verbunden mit dem Mauerbau in Berlin in den frühen 60er Jahren. Er war zu seiner Familie nach Mistelbach/Österreich auf Urlaub gefahren und war von seinem älteren Bruder, Gert (seines Zeichens österreichischer Staatsbürger), mit den Worten empfangen worden: "Bei uns zu Hause herrscht mächtig Qualm!" Gert erzählte Werner, dass die Tante Juliane in einem Streit der Mutter, Gerda, geraten hatte, den Franz endlich mal von seinem Podest zu holen, jeder wisse doch, dass der noch eine (uneheliche) Tochter in Deutschland habe. Franz Streit hatte sich auf seinem letzten Heimaturlaub seiner Mutter anvertraut und ihr erzählt, dass er eine Tochter in Deutschland habe - eben jene Ursula, die seit 1988 nicht nachgelassen hatte, nach ihren väterlichen Wurzeln zu suchen. Franz Streits Mutter konnte dieses Geheimnis offensichtlich nicht für sich behalten und hatte sich ihrer Tochter, Juliane, anvertraut, Franzens Lieblingsschwester. In besagtem Streit hatte Juliane ihrer Schwägerin anscheinend einen unbotmäßigen Totenkult vorgehalten und ihr ins Gesicht gesagt, dass der Franz wohl alles andere als ein Heiliger gewesen sei - immerhin habe er sich seiner Mutter anvertraut und ihr gestanden, ein uneheliches Kind in Deutschland zu haben.

Darüber hinaus gab es weder Namen noch identifikationsträchtige Hinweise. Wolfgang, der Neffe Franz Streits, erzählte Ulla, dass ihre einzige Hoffnung darin bestanden habe, dass irgendwann dieser Anruf kommen möge. Die Erleichterung und Beglückung auf Seiten Ullas muss übergroß gewesen sein. Von da an ging alles seinen erhofften Gang. Seit mehr als 25 Jahren pflegt Ulla intensiven Kontakt sowohl nach Wien, wo Gert bis zu seinem Tod gelebt hat und nach Trostbert im Chiemgau, wo Werner mit seiner Familie lebt.

Und mit Unterstützung der Brüder meiner Schwester konnte ich Hildes Geschichte nun endlich erzählen.

 

Hildes Geschichte - Franz kehrt heim

Franz war um die Mittagszeit in St. Pölten. Nachdem er sich in seiner Kaserne gemeldet hatte und seinem Urlaubsgesuch stattgegeben wurde, machte er sich auf den Weg nach Mistelbach. Er hoffte, dass seine Postkarte noch vor ihm angekommen war, denn an einer „Überraschung“ war ihm nicht gelegen. Zwar wuchs die Freude über ein Wiedersehen schier ins Maßlose, hatte er doch seinen Sohn zuletzt vor einem halben Jahr gesehen als er gerade eben zu laufen begann. Doch Franz war durchaus verunsichert. Und wenn er heute seine Gerda in die Arme schließen würde, dann war es an ihm, den Irrsinn der letzten Tage und Wochen in seinem Herzen zu bewahren und zu verschließen. Aber darin hatte Franz ja durchaus eine gewisse Routine, um nicht zu sagen Meisterschaft entwickelt. Er bewahrte und schützte seine Familie vor all dem Wahnsinn, den der Krieg ihn hatte erfahren lassen. Ja, die „Meisterschaft“ beruhte auf einer wirksamen Abschattung all jeder dunklen Flecken, die nun einmal mit Krieg, Besatzung und Partisanenaktivitäten auf dem Balkan unabdingbar verbunden waren. Und warum sollte ihn jetzt das gerade Gegenteil belasten? Was er in Neuenahr mit Hilde erlebt hatte, irritierte ihn zwar selbst in ungekannter Weise, aber es war keineswegs dazu angetan, um hier in Mistelbach die Welt auf den Kopf zu stellen.

So vorbereitet und innerlich gefestigt betrat Franz am späten Nachmittag des 10. September 1941 sein Haus in Mistelbach. Und die Freude, ja der Überschwang und die Herzlichkeit, mit der er empfangen wurde, öffnete die Welt zu jeder Sehnsuchtswelt, wie sie nur Soldaten und Soldatenfrauen überhaupt jemals in ihren Herzen tragen können. Franz gelang es kaum sich all der Liebkosungen und der überbordenden Buch Jupp   Hildes Geschichte   final 2 page313 image71 Freude zu erwehren, mit der ihn seine Gerda geradezu überschüttete. Sie hatten den Abend, die Nacht und den nächsten Morgen, bevor Franz um die Mittagszeit zurück in die Kaserne musste. Mit brennender Geduld, dem Hunger der lange Darbenden und dem Durst der lange Dürstenden ließen Franz und Gerda die ganze Welt der Liebenden zu und saßen am Morgen wie die Kinder vor einer langen, langen Landverschickung mit bangen Herzen und schmerzenden Sorgen zusammen. Franz nahm Gert auf seinen Schoß und ließ ihn hüpfen bis er vor Lust kreischte; (13) er herzte seinen Sohn, setzte ihn auf die Tischkante, hielt ihn, sah ihn lange an, strich ihm über die blonden Locken, vertrieb seine Tränen und wollte dem Wüten der ganzen Welt Einhalt gebieten. Er erklärte Gerda alles und dennoch wenig genug, was seinen Weg – soweit er vorhersehbar war – anging. Ähnlich wie Hilde beschwichtigte er sie in ihrer ängstlichen und sorgenvollen Haltung. Er versprach ihr, wenn alles gut gehe, spätestens zum Osterfest im kommenden Jahr wiederzukommen, wenn es denn überhaupt so lange dauere. Dabei kamen ihm die am Vorabend während des Essens gehörten Meldungen über die großen Erfolge an der Ostfront durchaus zupass. Konnte er Gerda doch so immerhin die Hoffnung geben, der Russe stehe höchstwahrscheinlich kurz vor der Kapitulation und vielleicht sei alles schon zu Ende, bevor er zu seiner Division stoße. Ein bisschen glaubte und hoffte Franz tatsächlich, dass es so kommen könnte. Der Abschied war auf diese Weise ein wenig mehr von dieser Hoffnung gemildert als dass ihm nur der reine Schmerz der Verlorenen ohne Hoffnung anhaftete.

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© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund