William Stern III Gemütsbewegungen des ersten Lebensjahres
Meine jüngste Enkelin ist heute genau 56 Tage auf dieser Welt; das sind acht Wochen bzw. zwei Monate. Heute Morgen war unsere Kleinste hellwach. Alles, was William Stern so akribisch protokolliert und auch versucht einzuordnen, lässt sich bei Lia-Sophie - wie bei allen gesunden Säuglingen - nun in ersten Ausdrucks- und Hinwendungsbewegungen beobachten. Die folgende Passage - die Seite 96 von insgesamt 523 Seiten - gebe ich hier im Originaltext wieder, weil sich für die Eltern (und Großeltern) alleine auf dieser Seite, deren Text vor mehr als 110 Jahren entstanden ist, jene Beglückungen wiederfinden, die William Stern (mit seiner Frau Clara) an seinen eigenen Kindern beobachtet und protokolliert hat (siehe dazu unbedingt die Würdigung von Günther Stern-Anders seinen Eltern gegenüber):
KAPITEL VII
Gemütsbewegungen des ersten Lebensjahres
I. Lust und Unlust und ihr Ausdruck
"Wir hatten früher gesehen, daß wir schon den ersten dumpfen Bewußtseinszuständen des Neugeborenen eine gewisse Gefühlsbetonung zuerkennen müssen, und daß von den beiden Gefühlsrichtungen die Unlust zunächst intensiver ist als die Lust, zum mindesten sehr viel deutlicher nach außen hervortritt. Die gewaltig Entwicklung des Gemütslebens im ersten Jahre bekundet sich erstens in der Verschiebung der normalen Gefühlslage zur Lustseite hin, zweitens in einer ständigen Vermannigfachung und Verfeinerung der Gefühlsregungen.
Das Wort Schillers vom >glücklichen Säugling< trifft zum mindesten für das gesunden und wohlbehütete Kind im wesentlichen zu. Gewiss gibt es unlustvolle Gemütsbewegungen von mancherlei Art, über die weiter unten zu sprechen sein wird, doch bilden sie gewöhnlich nur kürzere Unterbrechungen einer chronischen Behaglichkeits- und Freudigkeitsstimmung.
Wenn ein halbjähriges Kind eine Stunde im Tage weint und schreit, so ist es schon ziemlich viel; die übrige wache Zeit aber ist dann von jauchzendem Lebensgefühl, der Aufnahme wohlschmeckender Nahrung, angenehmen Gebadetwerden, behaglichem Lallen, eifrigem Spielen, lustvollem Strampeln, staunendem Beobachten, Freude über die lieben Gesichter, die es umgeben, erfüllt.
Es gehört zu den schönsten Erlebnissen junger Elternschaft, die ersten Ankündigungen der Lustzustände im Kinde zu beobachten: zuerst nur den etwas gesteigerten Glanz der Augen, ein leises Hochziehen der Mundwinkel, dann vereinzelte leise, summende Behaglichkeitslaute, das ausgesprochene Lächeln, das richtige laute Lachen und endlich das krähende Jauchzen und vergnügte Lallen - eine Stufenleiter der Ausdrucksbewegungen, die schon im ersten Lebenshalbjahr durchlaufen wird. Hier tritt uns bereits spefizisch Menschliches in dem Säugling entgegen, der sonst noch fast auf animlischer Stufe steht, denn das Tier kennt kein Lächeln und Lachen. Später kommen noch andere Ausdruckformen der Lust hinzu, insbesondere Hinwendungsbewegungen zu dem lusterregenden Gegenstand: das Sichanschmiegen, das weite Öffnen der Ärmchen, das Sichtfestkrallen in Haar und Bart geliebter Personen und anderes mehr."
