Die Lesung - Vergangenheit und Zukunft berühren sich in der Gegenwart
Was haben Biografiearbeit, die aktuellen Flüchtlingsbewegungen und die Lebensumstände meiner Elterngeneration miteinander zu tun?
Über eine Lesung in der BBS August Horch in Andernach
Ich selbst habe die Frage: Was wäre wenn...? auf doppelte Weise beantwortet: Das (Vor)Lesen hat mir Spaß gemacht. Ich habe mich gewissermaßen in eine Trance gelesen. Und für eine Veranstaltung, die aufgrund widriger Umstände keinerlei vorbereitende Absprache und Koordination ermöglichte, war das Ganze ein Erfolg; ein Erfolg für Petra Rotarius, die ihr Projekt im Rahmen ihres Fachabiturs erfolgreich abschließen konnte. Und es war der Versuch, verschiedene Perspektiven miteinander zu verknüpfen. Die zweite Antwort beinhaltet eine Lehre für künftige Vorhaben: Es bedarf eines Rahmens, der verdeutlicht, warum "Hildes Geschichte" eine Botschaft bereit hält, die auch heute noch aussagekräftig ist.
Rose Merfels, die einen langen, einführenden Brief verlesen ließ, weil sie persönlich nicht anwesend sein konnte (wie alle drücken ihrem Mann, Mario, nach seiner Herz-OP die Daumen), betonte die individuell und familiendynamisch heilsame Bedeutung von Biografiearbeit - vor allem auch im generationenübergreifenden Zusammenhang. Dies schließt den Umgang mit unvermeidbaren Verlusterfahrungen ein, denn der Lebenslauf besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen (Niklas Luhmann).
Das Kontingente in jedem Lebenslauf war der Fokus in den Ausführungen von Maruan Patscha und Selim Özen. Die beiden sprachen als Vertreter der AWO Rheinland e.V. (Abteilung für Migration und Interkulturelle Öffnung). In den teils traumatisierenden Lebensläufen vieler Flüchtlinge, entscheidend geprägt von Vertreibung, Gewalt und Flucht, prägen sich die Ergebnisse politischer Umbrüche im nahen Osten aus, deren Lösung gegenwärtig nicht wirklich absehbar ist. Mir ist es an dieser Stelle wichtig - bei aller dumpfen Blödigkeit an den Rändern der Gesellschaft (Dunkeldeutschland) - ein insgesamt verändertes Klima in der Mitte unserer Gesellschaft zu betonen. Im Deutschlandradio Kultur hörte ich heute Morgen im Rahmen einer Sendung über Integration die Aussage eines Koblenzers namens Karim, der berichtete vor 25 Jahren als Flüchtling syrisch-libanesicher Abstammung nach Koblenz gekommen zu sein. Seine Aussage war über alle Maßen beeindruckend, weil er davon berichtete, wie umfassend und allgegenwärtig die Hilfsbereitschaft der Koblenzer sei. Sein Fazit ist für mich persönlich deshalb so bemerkenswert, weil er betonte, dass dies anders sei als in den 90er Jahren, also zu der Zeit, als Herr Karim nach Deutschland bzw. nach Koblenz kam.
Ich habe meinen Part am vergangenen Donnerstag damit begonnen, insbesondere Herrn Patscha und Herrn Özem zu danken. Als Hochschullehrer an der Universität Koblenz, der vorwiegend mit Lehramtsstudierenden zu tun hat, fällt mir auf, dass der Anteil von Studierenden mit Migrationshintergrund zugenommen hat und dass viele dieser jungen Menschen ihren Migrationshintergrund bewusst wahrnehmen und ihre daraus resultierenden Erfahrungen und Kompetenzen in die Bewältigung der gegenwärtigen Migrations- und Flüchtlingsbewegungen einbringen. Die Kompetenzen und Erfahrungen von Herrn Patscha und Herrn Özem und der vielen Menschen mit Migrationshintergrund sind unverzichtbar und reichern das Engagement der "Deutschen" mit einem zusätzlichen Ressourcenpool an. Dies unterscheidet die 90er Jahre mit ihren düsteren Auswüchsen (Hoyerswerda, Rostock u.a.) von der heutigen Zivilgesellschaft.
Der kulturelle Referenzrahmen dieser Zivilgesellschaft unterscheidet sich wiederum galaktisch von einem Referenzrahmen, wie ihn Sönke Neitzel und Stefan Welzer für die nationalsozialistische Gewaltherrschaft des "tausendjährigen Reiches" beschrieben haben. Zu zweigen, wie ein solcher Referenzrahmen das Denken, Handeln und Fühlen junger Menschen beeinflusst hat, ist ein zentraler Nebeneffekt von "Hildes Geschichte". Und es geht dabei um die merkwürdigen Interferenzen und Widersprüche, die sich aus den Einflüssen der NS-Ideologie und den konservativ-reaktionären Wirkungen des Katholizismus im Rheinland ergaben.
Eingeleitet habe ich meine Lesung mit zusammenfassenden Hinweisen, die sowohl eine historische wie auch eine familiendynamische Einordnung von "Hildes Geschichte" ermöglichen (siehe den Brief an Nico Hofmann). Wir erleben ja erst seit wenigen Jahren, wie große Geschichte auf individuelles Erleben heruntergebrochen wird; und dies nicht nur für die Kriegsgeneration, sondern auch für ihre Kinder und Enkel (siehe: Ein Abend mit Sabine Bode). Für die Lesung selbst war der Zeitrahmen eindeutig zu knapp. Die Kapitelauswahl beschränkte sich auf den Beginn und dir Erfüllung einer unnmöglichen Liebe zu Kriegszeiten; der Liebe einer Siebzehnjährigen zu einem 27jährigen Soldaten (siehe: "Gespräch mit Franz Streit"). Dass diese Liebe sich in einem übersaus spezifischen historischen, kulturellen und sozialen Klima ergibt, erschließt sich erst, wenn man dem dramatischen, mit Schwangerschaft und Geburt verbundenen Scheitern dieser Liebe Raum gibt.