Was bleibt?
Ist die letzte Ahne gegangen, rückt man im generativen Geschehen zwangsläufig in die vorderste Reihe. Die Sorge und die Fürsorge den alten Eltern gegenüber endet mit deren Tod. Man schaut zurück und legt sich Rechenschaft ab. Das eigene Sterben und der eigene Tod treten stärker in den Vordergrund. Und alles, was man angesichts des Todes der Nächsten getan, unterlassen, erlebt, beobachtet und gesagt hat, fällt als Segen oder als Fluch auf einen zurück. Unserem Bestatter und unserem Pfarrer Lucas gegenüber habe ich darum gebeten, mir im Rahmen des Trauergottesdienstes für meine Schwiegermutter die Totenrede zu gestatten, Ihr sozusagen die letzte Ehre zu erweisen. Totenreden sind ein heikles Unterfangen, nicht zuletzt, weil wir uns in der Regel vom nihil nisi bene de mortuis (nichts, wenn nichts Gutes über die Toten) leiten lassen.
Ich habe mir immer den Segen der mir anvertrauten Nahen erhofft und bin mir sicher, dass ich jeweils mit deren Segen nach ihrem Ableben durch mein weiteres Leben gehen konnte. Die zentrale Erfahrung dahinter, war ganz schlicht, dass der Mensch vor allem ist, weil er sich verdankt. Bei allem, was im Zentrum meiner beruflichen und privaten Lebenswelt stand, kommt es mir heute darauf an auf einen schlichten Zusammenhang zu verweisen, der allerdings dazu taugt, das Wesentliche im Leben zu betonen. 1996 veröffentlichte Hartmut von Hentig - eine tragisch-widerwärtige Schlüsselfigur der deutschen (Schul-)Pädagogik - ein schmales Bändchen mit dem Titel Bildung. Zu Beginn (auf Seite 15) stellt Hartmut von Hentig eine Frage, "in der gleichermaßen wissenschaftliche Neugier, bürgerliche Besorgnis, eine philosophische Haltung zum Ausdruck kommen könnte - 'Was bildet den Menschen?'."
„Stellte mir jemand diese Frage, ich antwortete, ohne zu zögern und mit dem – seltenen – Gefühl, etwas unanfechtbar Richtiges zu sagen: ‚Alles!‘ – Alles, selbst wenn es langweilt oder gleichgültig lässt oder abschreckt. Dann ist dies die bildende Wirkung. ‚Alles‘, weil der Mensch ein – wundersam und abscheulich – plastisches Wesen ist: veränderbar, beeinflussbar, reduzierbar, steigerungsfähig auch gegen seinen Willen, gegen seine Einsicht, gegen seine Natur. Er lässt sich durch geeignete Maßnahmen dazu bringen, Gewichte von zwei Zentnern zu stemmen, mit Hurra in den Tod zu stürmen, sich – auch angesichts einer überwältigenden Lebensmittelfülle – von Körnern oder Salatblättern zu ernähren, sich – unter Qualen – Sonnenbräune zuzulegen wie auch – mit komplizierten Vorsichtsmaßnahmen oder unter Entbehrungen – diese zu vermeiden. Eine einzige Geste eines anderen, in seinem Gemüt gespeichert, kann ihn ein Leben lang mit Eifersucht oder Hass oder Hypochondrie erfüllen, ein einziges Wort ihn mit Sehnsucht oder Heilsgewissheit oder Verblendung schlagen. Der Mensch hat aus diesem Grund als einziges Lebewesen Geschichte. Anders als die übrige Kreatur ist er fast unbegrenzt auf Formung angelegt. Ist diese gewollt, nennt man sie Bildung.“
Es kommt mir - und es ist mir immer schon angekommen - auf die fett markierte Passage. Als überaus kränkungsoffene und -sensible Wesen wissen wir alle intuitiv, was damit gemeint ist. Und es gibt sicherlich eine nicht geringe Anzahl von erfahrenen Psychotherapeuten, die das prozesshafte Geschehen der von Hartmut von Hentig angesprochenen Formung in ihren ganz und gar verheerenden Auswirkungen beschreiben und belegen könnten, wenn junge Menschen nicht nur mit einer einzigen Geste, sondern z.B. mit fortgesetztem Missbrauch geschlagen werden. Hartmut von Hentig hat auf mein eigenes (schul-)pädagogisches Denken maßgeblichen Einfluss gehabt. Und der Gedanke ist einigermaßen unerträglich ebenso wie das Reklamieren einer bürgerlichen Besorgnis wie Hohn klingt, dass er - Hartmut von Hentig - während der Niederschrift seines Essays in keiner Weise Kenntnis gehabt haben soll, von der zentralen Rolle seines Lebensgefährten Gerold Becker im Zusammenhang mit den Missbrauchsgeschehnissen an der Odenwaldschule.
Der Einstieg über Hartmut von Hentigs Reflexionen zum Bildungsbegriff dient hier eigentlich der umgekehrten Erfahrung, die aber genau so wenig die Mächtigkeit beziehungsgestaltender Haltungen - vor allem in früher und frühester Kindheit zu überschätzen vermag. Dazu mache ich nun eine Anleihe bei Botho Strauß und stelle sie in den lebensumspannenden Kontext, der gleichermaßen alltägliche Begegnungen mit meinem Enkelsohn - das ist aufbrechendes Leben schlechthin - und meiner Schwiegermutter - das ist abschiedliches Leben schlechthin - reflektieren:
"Einige Augenblicke mit Menschen waren erfüllt von Zuwendung, die unanfechtbar bleibt, und man darf sagen: jawohl, da war man nicht allein, da ist man zusammengerückt, da hat man was Gutes erlebt. In einer einzigen gelungenen Umgangsform steckt schon mehr Glück, als man verkraften kann. Kaum je sind dies Momente körperlichen Begehrens, der Wolllust gewesen. Die Erinnerung selbst ist zärtlich, ist ein Geschenk der Sublimation (Botho Strauß - Paare, Passanten, München 1991, S. 63)."
Botho Strauß hat mir schon mehrfach den Mut zur eigenen Zumutung vermittelt. Dass die Erinnerung selbst z ä r t l i c h sei, manifestiert sich in den letzten Begegnungen mit meiner Schwiegermutter und ereignet sich jeden Tag auf's Neue in den Begegnungen mit Leo, dem Urenkel von Leo und Theo. Unzweifelhaft kulminiert in den gelungenen Umgangsformen - Botho Strauß verknappt sie auf singuläre Erscheinungen - mehr Glück als man - zumindest sprachlich - festhalten kann. In den von Strauß angedeuteten Erfahrungen erfüllt sich etwas, von dem nur diejenigen wissen können, die solcher Glücksmomente teilhaftig werden; teilhaftig werden meint das Aufbrechen monadischer Gefangenschaft - noch im Sterbeprozess selbst. "Einige Augenblicke [...] erfüllt von Zuwendung, die unanfechtbar bleibt." Sie sind gleichsam die Wegzehrung auf dem Weg zum eigenen unausweichlichen Ende. Sie sind die milde Sonne, die Welt in einem anderen Licht erscheinen lässt. Das ist jenes Licht, von dem auch Fulbert Steffensky spricht und mit dem er sein Büchlein Mut zur Endlichkeit - Sterben in einer Gesellschaft der Sieger (Stuttgart 2007) ausklingen lässt:
„Der Dank lehrt uns das Leben zu lieben. Ich erzähle eine persönliche Geschichte. Ich habe den dramatischen Zusammenbruch meiner Frau (Fulbert Steffensky war der Ehemann Dorothee Sölles) zehn Jahre vor ihrem Tod erwähnt. Wir haben Wochen um ihr Leben gebangt. Dann erholte sie sich, langsam und vollständig. Sie und wir haben gelernt, dass das Leben Frist ist. Und dies gab unserem Leben eine neue Intensität. Wir lernten die Selbstverständlichkeiten des Lebens als große Gaben zu schätzen. Dass ein neuer Morgen kam, war nicht mehr selbstverständlich, das Lachen unserer Enkel und dass wir zusammen weiter leben durften, waren nicht mehr selbstverständlich. Der Alltag hatte einen neuen Glanz. Wir haben die Bäume anders gesehen, wir haben unsere Liebe intensiver erfahren, wir haben gelernt, was Brot und was Zeit ist. Wir haben die Gaben des Lebens als uns ungeschuldete und als unverdienbare kennen gelernt. Die Dankbarkeit ist wie eine neue Schöpfung der Dinge. Und auch der nach zehn Jahren erfolgte Tod meiner Frau hat diese Dankbarkeit nicht durchstreichen können. Wer weiß, dass er sich verdankt, ist des Lebens fähig, vielleicht auch des Sterbens.“