Die Wahrheit hat Gründe, ihre Gründe nicht sehen zu lassen
Nun verliere ich mich also in den unendlichen Weiten der eigenen Biografie - als Solist und selbstredend dennoch immer relational, in Beziehungswelten stehend und agierend. Nach den ersten 110 Seiten spüre ich, dass ich soeben erst begonnen habe und das 1000 Seiten nicht ausreichen würden, ein verrücktes Leben in seiner Stetigkeit, in seinen Abstürzen und Achterbahnen zu erzählen. Alleine heute Morgen - an diesem Karfreitag - wenn ich mit meiner Frau gemeinsam (wie so oft) in ausgedehnten Frühstücken (manchmal an Feiertagen oder Sonntagen) bis in den späten Vormittag die (gemeinsame) Welt Revue passieren lasse, stehen wir beide gleichermaßen fassungslos vor dem, was sich da offenbart. Kleine Splitterchen dieser Offenbarungen sind in meinen Aufzeichnungen enthalten. Die kleine folgende Passage findet sich in Kapitel 19: "Ich schreibe, also bin ich" und bildet ein großes, vielfarbiges, facettenreiches Denk- und Dankmotiv zu dem, was mir, was uns geschenkt worden ist - der Mensch ist (auch), weil er sich verdankt!
Ja, die Wahrheit hat Gründe, ihre Gründe nicht sehen zu lassen! Um diese Blockade zu überwinden hilft nur eines: Ich muss das Pferd – meine Geschichten – von hinten aufzäumen; die beiden Kapitel 20 und 21 stehen daher in einem zeitlich umgekehrten Verhältnis zueinander. Diese Vorgehensweise bietet den großen Vorteil, dass ich mich sozusagen rückwärts hineinarbeite in eine verrückte Welt, die ich eher ungläubig betrachte ob der Tatsache, dass ich sie überlebt habe. Bereits die Mohnfrau stellt den Versuch dar, das schier Unglaubliche begreifbar zu machen. Ich möchte es erneut versuchen. Dirk Baecker hilft meine Vorgehensweise und meine Motive präzise zu entziffern. Es hilft zunächst einmal mit Blick auf die letzte große Krise zu verdeutlichen, dass mir eine unendlich lange – und zuletzt steile – Lernkurve die Chance eröffnet hat, Handeln zurück in Kommunikation zu übersetzen. Ein überaus delikate und bemerkenswerte Konstellation über Wochen und Monate – und in modifizierter Form über Jahre – hat nicht verhindert, dass wir – Claudia und ich – glücklich sind, in diesem Jahr vor unserer Rubinhochzeit zu stehen. Allein in dieser Tatsache manifestiert sich das vorstellbare Glück in seiner umfänglichsten Dimension: Wir begegnen uns heute – nach vierzig Jahren – mit Blick auf ein fürsorgliches Finale. Wir sind gesegnet mit unseren Kinder und Schwiegerkindern. Unsere Kinder haben uns – in einem unmittelbaren Umfeld, das Abstand und Nähe ermöglicht. Wir haben unsere Kinder und inzwischen zwei Enkelkinder, und es könnten mehr werden. Generativität erleben wir als großes Glück. So bedeutet das späte Glück – einen starken Anker in den erodierenden sozialen Gefügen; ein solides Fundament der Bindung, der Geborgenheit, der Zugehörigkeit und der Entschiedenheit in einer dynamischen Welt.
Mir ist beim Aufschreiben meiner Geschichten - die bei den wenigen Lesern schon den Vorbehalt hören ließen, das sei doch alles sehr chaotisch, so sehr deutlich geworden, dass auch die Großen der Literatur so ganz unterschiedliche Wege nehmen, der prinzipiellen Unerzählbarkeit eines Lebens Herr zu werden. Das gelingt natürlich niemandem, nicht einem Seethaler in seiner Spärlichkeit oder einem Grossmann, einem Pascal Mercier (Peter Bieri), und erst recht nicht einem Karl Ove Knausgard (in seinen endlos ausufernden und ermüdenden Pseudodialogen). Je glatter, eleganter und bruchloser eine Geschichte daherkommt, um so weniger hat sie mit dem Leben zu tun. Das gilt merkwürdiger Weise nicht für Bernhard Schlink!!! Für mich sind mit dem Aufschreiben von Geschichten gleichermaßen unlösbare Klemmen verbunden; die Schere regiert im Kopf - zu Recht.
Halbwegs authentisch komme ich mir da vor, wo ich ganz bei mir bleibe - beispielsweise in Kapitel 1 "Am Anfang war die Tat". Hilfreich für mich sind Koautorenschaften, die ich mir selbst geschaffen habe, zum Beispiel in den festen Blogsparten: "Demenztagebuch" oder auch "Hildes Geschichte" - und selbstredend durch das gesamte Bloggeschehen, durch das ich mir selbst Rechenschaft ablegen kann über die maßgeblichen Einflüsse und Anregungen aus Literatur, Journalismus und Wissenschaft.
Aber auch da - wie schon in Kurz vor Schluss - kann man gleichzeitig sagen: Der Nebelkerzen sind zu viele - Offenbaren und Enthüllen vs. Verdecken und Verhüllen; das sind die zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Ohne dies ignorieren zu wollen, möchte ich dennoch - mehr als zwanzig Jahre nach meiner Zeit bei der IGST in Heidelberg - sagen, dass die Haltung eines wohlwollenden Hypothesisierens auch dem eigenen Lebenslauf gegenüber - und erst recht mit Blick auf die bedeutsamen Anderen - eine gute Ausgangsposition markiert. Wohlwollend zu schauen beinhaltet eher versöhnliche als spaltende Blickwinkel einzunehmen - wohlwissend, dass damit alles andere als das Aufsetzen einer rosaroten Brille gemeint ist.