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Für Karen Köhler

Papas Konturen nennt sie den Beitrag im ZEIT-Magazin (33/22). Sie werde ihn niemals vergessen verspricht Karen Köhler – immerhin schon 48 Jahre alt – ihrem Papa: „Nur weiß sie nicht, wie das gehen soll.“

Der Papa ist gestorben – im Alter von 72 Jahren: „Zwischen der Diagnose und der Buche im Trauerwald lagen nur knapp vier Monate.“ Karen Köhler gibt ihren Aufzeichnungen jene Rasanz, die sich im Sterbeprozess widerspiegelt – gewissermaßen in einer Art Telegrammstil:

„Alles ging schwindelerregend schnell, wir kamen mit dem Begreifen der Teildiagnosen (Metastasen überall), den Behandlungsversuchen (palliative Chemo nicht vertragen, Bestrahlung nicht vertragen), der Betreuungsorganisation (Apothekentür: Dingdong. Ich: Guten Tag, ich komme, um das Opium für meinen Vater abzuholen) nicht wirklich hinterher und mussten in kurzer Zeit sehr viele Entscheidungen treffen.“

Karen Köhler geht in den Ausnahmezustand, begleitet ihren Vater pflegend und kümmert sich um das Bürokratische ihrer Eltern. Auch hier telegrammartige Skizzen, die den Wahnsinn im beschleunigten Sterben spiegeln: den bevorstehenden Tod wie eine Bugwelle vor sich herschieben, von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag leben:

„Wir (mit Mutter und Schwester) behaupteten mit aller Kraft Normalität in dieser beschissenen Ausnahmesituation.“ Und bei alledem: „Wir erlebten auch Schönes, lachten, aßen Erdbeeren und Pommes Schranke, weinten als Familienklumpen im Bett und kraulten seine Arme.“

Danke, verehrte Frau Köhler, für den Begriff und das Bild des Familienklumpens – ich übernehme ihn/es ist in mein Langzeitgedächtnis; so lange es noch hält (ich bin selbst 70 Jahre alt, habe auch zwei Töchter und weiß sowohl um das schnelle, unerwartete wie das schleichende, aber unabwendbar sich ereignende Sterben).

Ich springe einmal in die sichtbar werdenden subtilen Differenzen, die sich aus der Wahrnehmung und vermutlich den unterschiedlichen Haltungen in der Auseinandersetzung mit dem Tod für die Töchter auf der einen Seite und die Mutter auf der anderen Seite ergeben. Karen Köhler versucht ihrem Vater „den besten Abschied zu ermöglichen“. Und die Auflösung der Mietwohnung, in der Karen Köhler und ihre Schwester aufgewachsen sind, gerät für die Schwestern zu einer Zumutung (weil sie neben dem symbolischen auch den punmittelbaren, handfesten Abschied manifestiert?) während sie der Mutter offenkundig vorkommt wie eine Erlösung, weil sie „einen richtigen Neuanfang wollte“. Da liegt es nahe, dass „sie fast alles loswerden wollte“.

Karen Köhler gibt uns nun ein kleines Rätsel auf. Sie stellt sich angesichts der Rasanz, der existentiellen Schnitte, die Frage, wie das denn gehen könnte, den Vater nicht zu vergessen und bemerkt dabei ganz offenkundig nicht, wie sehr sie dem Vater ein Monument schafft alleine schon durch die Gestaltung der wenigen Seiten im ZEIT-Magazin, ausgestattet mit – zugegebenermaßen – wenigen, aber doch offenkundig für sie und ihren Vater eindrücklichen Fotodokumenten. Karen Köhler entwirft ein subtiles Mosaik mit Erinnerungen - gleichermaßen ikonografisch wirksamen wie emotional tiefgründigen und gleichermaßen wortmächtigen Auslassungen. So droht sie uns allen mit der sympathischen Aussicht, dass es am 2. September durchaus sein könne, dass da eine gewisse „Person an einer Verkehrskreuzung steht und in den Himmel jault, genau um 17 Uhr. Kann sein, dass ich das bin.“

Zuvor gibt sie in ihrem Text Einblicke, die den Eindruck erwecken, hier zelebriere und bettele jemand um eine Art nachzutragende Liebe, die das Kind in der Rolle fixiert, „es gut zu machen“ und die den Vater immer noch erreichen will als denjenigen, der „stolz auf mich ist… Ich will verdammt noch mal immer noch, dass er stolz ist“.

Welcher Vater könnte stolzer sein, als der Vater Karen Köhlers. Karen Köhler, die die Pflöcke eingeschlagen hat und bereits über jene Rituale verfügt, von denen anderen nicht einmal träumen können:

„Manchmal fahre ich zur Buche. Seinen Flachmann habe ich dabei, mit Amaretto gefüllt. Er mochte den gerne, ich eigentlich nicht, viel zu süß und zu klebrig, aber wenn ich jetzt unter der Buche hocke, an der ein Plastikschild hängt mit seinem Namen drauf, dann kippe ich einen Schluck Amaretto auf den Platz, an dem ich die Urne weiß, und einen in meinen Mund. Ich hocke mich hin und spreche mit ihm. So, als sei er noch da.“

Und Karen Köhler sollte sich um Himmelswillen nicht irritieren lassen von den Freudinnen und Freunden, die milde lächeln, wenn sie erzählt, dass ihr Vater ihr Zeichen gibt, dass er ihr die schönsten und größten Sternschnuppen schickt, denn wie sie sagt sie selbst so tröstlich und selbstsicher: „Im Universum geht schließlich keine Energie verloren.“

Wenn eine weiß, wie das gehen soll - den eigenen Papa nicht zu vergessen, dann ist das Karen Köhler!