<<Zurück

 
 
 
 

Gibt es etwas Neues beim Vermessen der Lust?

"Mein Sex! Selbstbewusst, mutig, tabulos!" Das ist die Ergebnisliste in Kurzform, die der SPIEGEL (21/2015, S. 102-110) in seiner neuesten Ausgabe gewissernmaßen als Headline montiert. Aber ist denn nicht schon alles gesagt? Vielleicht kann man - was man weiß bzw. was man wissen könnte - immer wieder anders sagen. Der achtköpfige Thinktank in Sachen Sex beginnt jedenfalls mit einer Fragebatterie, die Frauen und Männer gleichermaßen neugierig machen könnte:

"Sind die Frauen heute alle aufgeklärt und selbstbestimmt, gieren sie nach Sex wie die Kerle, lieben sie Pornos und vergnügen sie sich mit erotischen Spielen jeder Variante? Oder sind sie immer noch das prüdere Geschlecht, diejenigen, die darauf warten, erwählt zu werden, statt selbst auszusuchen? Geht es den Frauen am Ende gar nicht so sehr um Sex, sondern vielmehr oder immer noch um die große Liebe? Und schließlich bekommen sie, was sie wollen?"

Dass die Wissenschaft seit geraumer Zeit versucht, diese Fragen zu beantworten - "ohne Scheu, ohne Stereotype" - ist möglicherweise die eigentliche Botschaft. Die AutorInnen weisen wohl zu Recht darauf hin, dass Befragungen zum "Thema Sex" häufig unzuverlässig seien und Modetrends folgten. Sie beziehen sich in ihrer Analyse auf eine Längsschnittstudie - "Studentische Sexualität im Wandel" -, bei der Frauen und Männer im Jahr 1966 erstmals zu ihrem Liebesleben befragt wurden. Der zentrale Befund:

Lieber Bert, kann man das Ende verschieben oder gar aussetzen?

Ich bin inzwischen 63 Jahre alt und habe im steten Leben ein unstetes geführt. Dankbar bin ich allen bedeutsamen anderen dafür, dass mit zunehmendem Alter ein stetes Leben die Planken findet, an denen Orientierung möglich ist. Ihr wisst, wie sehr ich Niklas Luhmanns Sicht folge, wonach der Lebenslauf eine Form darstellt, dessen Elemente aus Wendepunkten bestehen, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Vor mehr als 20 Jahren ist jener Wendepunkt zu markieren, in dessen Folge - vor allem im Rückblick - eine Fokussierung auf Wendepunkte einsetzt, immer verbunden mit der Frage, welche Ressourcen, welche Formen von Resilienz, die Wende (m)eines Lebenslaufs an einem jeweiligen Tiefpunkt ermöglichen. Gunthard Weber war mir ein wichtiger Begleiter in der tiefsten Orientierungslosigkeit. Ihm ist zu danken, dass aus den Hellingerschen Einsichten keine Ideologie geworden ist, sondern eine Haltung, wie sie am Ende im "Rasthaus" (siehe "Hildes Geschichte", S. 3 und 4) sichtbar wird:

"Wie er so dasitzt, fühlt er sich wohl in seinem Haus und weiß sich eins mit allen, die kamen und kommen und brachten und bringen und blieben und bleiben und gingen und gehen. Ihm ist, als sei, was vorher unvollendet war, nun ganz; er spürt, wie ein Kampf zu Ende geht und Abschied möglich wird. Ein wenig wartet er noch auf die rechte Zeit. Dann öffnet er die Augen, blickt sich noch einmal um, steht auf und geht."

Die Mutter als "Ikone der Lust" und als "Objekt von Tötungsphantasien" - Morgen ist Muttertag

"Es gibt kein größeres Tabu als den Mord an jener Frau, die uns geboren hat." Die ZEIT 19/2015 entwirft ein Mosaik, das die aktuelle Ausgabe durchwirkt und das Mütter in allen denkbaren Kontexten und Einflussspähren erscheinen lässt - als Mütter und als Schwiegermütter. Christian Fuchs inszeniert "Die Mutter als Sexobjekt" (S. 10), während Daniel Müller unter dem Titel "Mutter muss weg" (S. 74) das Phänomen des "Mordes an jener Frau, die uns geboren hat" als das "größte denkbare Tabu" thematisiert. Zu denken gibt der von Rudi Novotny verantwortete Text: "Danke, Schwiegermonster!" (S.75).

Das Begehren der eigenen Mutter bleibt meinerseits im Dunkel frühester Kindheit geborgen, während die Angst um die Mutter schon sehr früh beziehungsgestaltend wirkte und zuletzt tatsächlich die Tötung erwog, weil der finale Todeskampf über 10 Tage - und nach einem langen Leidensweg - Erlösungsphantasien mobilisierte. Das eigene Leiden im Leiden der Mutter auszuhalten war sicherlich einer der letzten Schritte zu einem reifen, verantwortlichen Leben als Erwachsener. Aber da war meine Mutter bereits 79 und ich immerhin 51 Jahre alt. In einer weiteren Bewährung - der Begleitung des Schwiegervaters durch die Demenz in der häuslichen Pflege - bis ganz ans Ende, vollendete sich (vorläufig) das, was uns Wohlstandskindern als echte Bewährung - vor dem eigenen Ende - bleibt. Der wahre Verlust in einer funktional differenzierten Gesellschaft mit ihren je eigenen Funktionslogiken beruht im im Outsourcing der letzten uns verbliebenen Verantwortung.

Mütter haben nicht nur Söhne - Muttertags-phantasien II

Am 5. Juni 1942 erblickte meine Schwester Ursula in Flammersfeld im Westerwald das Licht der Welt - nach einer Paradeschwangerschaft ohne Komplikationen und einer für Erstgebärende verhältnismäßig glatten und „sanften“ Geburt. Es war Hildes erster Muttertag. In das Schicksal von Ursulas Vater wird erst 60 später Licht kommen. Franz Streit fällt bereits am am 23. September 1943 in der Nähe von Saporoshje (Ukraine), nachdem die Mutter - Hilde - jeglichen Kontakt abgebrochen hatte.

In "Hildes Geschichte" erzähle ich diese Geschichte und die Umstände dieser frühen Niederkunft einer damals noch 17jährigen jungen Frau in einem Heim der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt. Beide - Hilde und ihre Tochter Ursula - hatten einen denkbar schweren Weg vor sich. Hilde selbst, die ja unversehens vom Zustand einer jungfräulichen Unschuld in die prekäre Situation eines gefallenen Mädchens geraten war, hatte den dornigen Weg der Schwangerschaft und der Austragung eines Bastards auf sich genommen und befand sich zur Geburtsvorbereitung in der fürsorglichen Obhut der Hebammen und Ärzte des NSV-Entbindungsheims in Flammersfeld. Um auch nur halbwegs verständlich zu machen, warum dieser starting point eines Lebenslaufs von der Zeugung über die Geburt hinein in eine Welt, in der die Nazis noch den Weltenlauf bestimmten und die jetzt schon aus Not und Tod bestand und die in eine schier ausweglose Verzweiflung einmünden würde, habe ich einen verrückten Philosophen bemüht, der gut 40 Jahre später (im Zauberbaum, Frankfurt 1987) den Geburtsvorgang in einer Weise beschreibt, die ein Leben zum Tode hin - wie Kierkegaard es sieht - schon in seinem Beginnen als ein tiefgreifendes Trauma erscheinen lässt.

Alligators Ende! - oder: See you later Alligator?

Von der Hybris der Alligatoren und einer ganzen Wissenschaftsdisziplin

In der ZEIT vom 23. April 2015 (17/2015) prognostiziert Stefan Willeke "Alligators Ende"; am Beispiel von Ferdinand Piech - Herrscher im Weltkonzern VW - könne man den Horizont eines "posttyrannischen Zeitalters" erkennen. Den Alligatoren vergehe das Lächeln, und das Zeitalter der "Wüstenspringmäuse" habe begonnen. Ihren idealtypischen Repräsentanten erblickt Stefan Willeke in Jogi Löw:

"Er hat etwas Unmögliches geschafft, er hat die Tyrannei besiegt. Er galt als badisches Jüngelchen, das nicht die Durchsetzungskraft mitbringt, ein tendenziell widerspenstiges System zum Erfolg zu führen. Löw fügte sich dem System, veränderte es leise von innen - was viel mehr Kraft kostet als das Protzen eines charismatischen  Anführers. Am Ende machte Löw Deutschland zum Weltmeister, ohne an seinem weichen, kommunikativen Führungsstil etwas zu ändern. Das ist ein großes Verdienst, weil gegen Löw der Glaube an die Unerbittlichkeit ausgeschieden ist. Das ist von Bedeutung, weil man dem Fußball zutrauen kann, viel von Härte zu verstehen - somit auch von zurückgewiesener Härte. Und weil Antworten in keinem anderen gesellschaftlichen Bereich klarer ausfallen. Nach einem 7 : 1 im Fußball muss man nicht darüber streiten, wer verloren hat."

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund