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Navid Kermani: Kapitel 17 - Die Geburt der Enkel

und ganz nebenbei: die Geburt der Großväter

Enkel scheinen eine Spezies aus eigenem Recht zu sein. So erfahre ich es in Navid Kermanis neuem Roman das alphabet bis S. Es ist Winter, Tag 17 in einem langen Jahr. Ich selbst stehe noch - mitten im Winter, der kein Winter ist - unter dem Eindruck der Dämmerung, in der der Erzähler (Michael Kleeberg) seinem Protagonisten Charly (Karlmann Renn) zuletzt attestiert, er sei halt "ein Produkt dieser Zeit gewesen, auf nie wirklich reflektierte, problematisierte Weise, sondern in existenzieller Harmonie mit ihr". Auf diese Weise gelingt ein Leben, dessen Widersprüche und Fragwürdigkeiten (bzw. deren Reflexion) dem Erzähler zur zeit- und individualgeschichtlichen Analyse vorbehalten sind. Navid Kermanis Protagonistin hingegen ist die Intellektuelle, die Zeitgeschichte und eigenes Scheitern minutiöser (Selbst-)Analyse unterzieht. Dabei werden mir Reflexionen geschenkt, die ich heute hier unter dem Titel Die Geburt der Enkel anmerke:

Die folgenden Szenen spielen sich bei der Trauerfeier für die Mutter der Protagonistin ab: "Das Bild, das allen leuchten wird [...] sind die Enkel, die einer nach dem anderen an Pult treten [...] Die Enkel haben recht, ihre Großmutter so und nur so zu sehen; Kindern wird die Verklärung nicht gelingen oder sie geriete zum Kitsch, weil sich eine Persönlichkeit nun einmal in der Abgrenzung, dem Widerstand gegen die Eltern herausgebildet hat; weil Eltern an ihren Kindern schuldig werden, ihnen unrecht tun, Fehler begehen, genauso wie umgekehrt, umgekehrt meistens noch mehr. Die Enkel sind es, die den Großeltern gerecht werden, ihr Blick ungetrübt von Verletzungen, Auseinandersetzungen, ihrer jugendlichen oder noch erwachsenen Emanzipation; die Enkel haben nicht wie ihre Eltern die Entwicklung verfolgt, das Scheitern, das Versagen, die Ausreifung, sie können die Großeltern vorurteilsfrei beurteilen als die Personen, die sie mit welchen Lernprozessen auch immer am Ende geworden sind." (Seite 26f.)

In der Konsequenz entsteht eine hartschalige Ausgrenzung und Abgrenzung der Kinder gegen die Enkelkinder, auf die allerdings eine Relativierung erfolgt, die auch uns Kindern - und nicht nur uns Enkelkindern - einen Königsweg in der Aussöhnung (und in der Chance unseren Frieden zu finden) eröffnet:

Am Ende, als der noch lebende neunzigjährige Großvater in seinen EnkelInnen und UrenkelInnen aufgeht, bemerkt die Tochter: "Dieses Bild des beinah Neunzigjährigen, der sich zwischen seinen Enkeln und Urenkeln nach seiner Liebe sehnt, und bei jedem der langen, fast gesungenen Ausklänge wirft er die freie Hand in die Höhe - am Ende ein einziges solches Bild, das ist es, euch Kinder braucht es nicht dafür. Ihr erkennt die Fügung erst, wenn sie gestaltet ist zu einer Schlußszene wie im Drama oder wie die Zufälligkeiten des Lebens zum Roman. Ihr seid nur das Zwischenglied gewesen, eine Station, über euch geht die Familie hinweg." (ebd.)

Diese tagebuchartigen Aufzeichnungen werden von "einer Frau um die fünfzig" aufgeschrieben. Mich interessiert die hier aufkeimende Bitterkeit, und ich möchte ihr zurufen: >Gemach, es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.< Und ich werde im Nachgang einmal mehr - auch als über Siebzigjähriger - jenen Enkel geben, der sich aus der Sicht der Kinder möglicherweise als Verklärer gezeigt hat. Viel wichtiger ist mir allerdings der Hinweis dieser Frau um die fünfzig, dass wir auch als Kinder - wenn auch spät - jene Bilder erkennen als Fügungen, die gestaltet sind wie eine "Schlußszene im Drama oder wie die Zufälligkeiten des Lebens zum Roman". Deshalb erwähne ich hier auch noch einmal zuerst Hildes Geschichte - die Geschichte meiner Mutter. Nach ihrem Tod vermochte ich zu erkennen, dass schon der Auftakt ihres Lebens (Mutter mit 17) einem Drama gleichkam und dass die Zufälligkeiten ihres Lebens Odo Marquards Leitidee, dass wir weit mehr die Zufälle als die Wahl unseres Lebens sind, zutiefst bestätigen.

Fügungen zu erkennen, versetzt uns in die Lage, die uns zugewiesene Stellung als "Zwischenglieder" aufzugeben - uns gewissermaßen zu emanzipieren hin zu Kindern, die ihren Eltern gerecht werden (gerechter werden, als sie es in der Abnabelung und in der Konfrontation je sein konnten). Es sind gewiss Chancen der Aussöhnung mit sich selbst (und im Übrigen auch mit den eigenen Kindern). Glaube doch niemand ernsthaft, unsere Kinder würden uns anders sehen, als wir unsere Eltern gesehen haben - cum grano salis!

Und nun möchte ich noch einmal hervortreten als der Enkel meines Großvaters Josef (Franz, dem anderen Opa, der vor meiner Geburt gestorben ist - und der hätte nicht sterben müssen <so ein diskreter Hinweis meiner Mutter> - gebe ich seinen Platz im gegenwärtig verfolgten Projekt eines ausführlich kommentierten analogen Albums). Paradoxerweise schillert die enkelmächtige Verklärung aus einer Perspektive, in der ich selbst bereits Großvater sein darf:

 

Großväter – Großeltern - Tastversuche I - Die Geburt der Großeltern

Nun bin ich also selbst Großvater – wir sind Großeltern!

Großeltern bezeichnet die 2. Vorfahrengeneration einer Person: die Eltern ihrer Elternteile, zwei Großmütter und zwei Großväter, auch Oma und Opa genannt. Im Wikipedia-Beitrag lässt sich lesen: „Bei einer Untersuchung in der Schweiz bezeichneten über 90 % der befragten Enkel und Großeltern die Beziehung untereinander als wichtig. Die Mehrheit der Enkel charakterisierte ihre Großeltern als liebevoll und großzügig, eine Minderheit als streng und ungeduldig.

Als besonders wertvoll wurde genannt, dass Großeltern für ihre Enkel da waren, ihnen zuhörten und Zeit für sie hatten. Die Befragung der Enkel ergab, dass für eine lebendige Beziehung eine relativ gute körperliche und psychische Gesundheit der Großeltern erforderlich ist und dass diese wichtiger ist als ihr tatsächliches Alter […] Mehrere Studien belegen eine positive Wirkung der Betreuung durch Großeltern auf den Spracherwerb der Enkel […] Ende der 1980er zeigten Untersuchungen an etwa 400 Großeltern, Eltern und Enkelkindern aller Altersgruppen, dass für die Zufriedenheit mit der Großeltern-Enkel-Beziehung und die Intensität dieser Beziehung weniger die Häufigkeit der Kontakte an sich als vielmehr genügender Kontakt unter vier Augen ausschlaggebend war. Als wichtige positive Faktoren wurden vor allem die emotionale Unterstützung einschließlich Schmusen und vertrauensvoller Gespräche, der fehlende Leistungsdruck, der fehlende Erziehungsauftrag, die verfügbare Zeit und die uneingeschränkte Akzeptanz der Enkel hervorgehoben.“

Was mich besonders fasziniert und herausfordert hängt mit einer Randbemerkung im Wikipedia-Kontext zusammen: Großeltern ermöglichen ihren Enkeln einen Blick auf die Familiengeschichte und dienen häufig als Vorbild.

In meiner eigenen Familie gibt es keine Tradition in dieser Hinsicht; es gibt keine Aufzeichnungen zur Familiengeschichte im Sinne einer Ahnentafel oder einer Familienchronik. Da beginnt mit mir etwas, was mit Blick auf meine(n) Enkel aber immerhin einen Blick zulässt bis in die Generation der Urgroßeltern. Wenn Leo – und wer da noch kommen mag – sich einmal die Frage stellt, wer ihm denn so vorausgegangen ist, dann hat er über meine Aufzeichnungen Anstöße und Gelegenheiten sich einige Fragen beantworten zu können, vermutlich aber auch neue zu stellen. Meine Hoffnung geht freilich in die Richtung, die der Wikipedia-Beitrag andeutet. All dies soll tief eingebettet sein in eine warmherzige, vertrauensvolle Beziehung, die allen Enkeln eben jenen Wind vermitteln, den ich meinem Großvater mütterlicherseits verdanke. Die hier zusammengestellten Erinnerungen sollen aber nicht bei den Großvätern (Großeltern) halt machen. Gleichwohl beginne ich mit einem Gedicht, das – en passant entstanden –, wie auch das darauf folgende, eine Hommage an meinen Großvater mütterlicherseits darstellt. Er hat mein Leben begleitet durch Kindheit und Jugend bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr. Das war insofern in besonderem Maß der Fall als die beiden Elternhäuser meiner Eltern Hausbacke an Hausbacke in der Kreuzstraße 111 und 113 standen, verbunden mit einem gemeinsamen, zaunlosen Gartenterrain. Meines Großvaters Berufswunsch – so gehen die Erzählungen – ist ihm zeitlebens versagt geblieben. Er wollte wohl Metzger werden und hat, da ihm seine Mutter dies nicht gestattete, als Autodidakt das Schächten erlernt, das betäubungslose Töten des Schlachttieres mit einem rasierklingenscharfen, schartenfreien Messer. Er hat – so lange Juden in Bad Neuenahr lebten – für jüdische Familien geschlachtet und hat es auf diese Weise in jüdischen Kreisen zu Wertschätzung und Ansehen gebracht. Im zweiten Gedicht – Orte – ist davon unter anderem die Rede. Zunächst aber die Hommage an meinen Opa Josef. Ich habe meinen Namen im Übrigen durch die Kombination der Vornamen meiner beiden Großväter erhalten: Franz Josef!

 

Was ich auch von meinem Ahnen genommen habe

Aus dem Ofen in den Laden,
und von dort auf unsern Tisch
große, kleine Fladen,
neben Wurst ein wenig Fisch.
Mit der Hand in meinen Mund,
eingeschleimt, zerkaut dann in den Schlund,
hinein in jenen Magen,
der nunmehr hat das Sagen:
Durchsäftet, angedaut
wandert dann der Brei
durch Dick und Dünn
- nein eher umgekehrt -
bevor er wurstet sich von dort
hinein in jenen Ort,
der heute
- komfortabel -
mittels Wasserspülung
alle Reste von dem Feste
schwemmt durch dunkelste Kanäle
fort!

Fort
in jene düstren Hallen,
wo einst mein Ahn
die Last von allen saubren Leuten nahm.
Klärwerk heißt der Ort,
an dem ich kam
vom Ahnen hin zum Wort,
dem ich fortan huldigte.

So dank ich ihm,
dem Ahn,
der mich beseelte,
in mir als Kind das Licht erweckte,
mit dessen Kraft
ich fortan Wort für Wort
und auch die Welt entdeckte.

 

Diese Entdeckungsfahrt nimmt so richtig Fahrt aber erst in Orte auf. Dieses ein wenig apokryph, dunkel und undurchsichtig daherkommende Epos offenbart einen merkwürdigen Widerspruch zwischen der schlichten und denkbar einfachen Herkunftsgeschichte meiner beiden Herkunftsfamilien und einer damit deutlich in Kontrast geratenden Sprach- und Wortgebung. Vor fünfundzwanzig Jahren entstanden, verführt es heute dazu, die schlichten, gleichwohl geheimnisvollen Welten hinter dieser Sprachwelt hervorzuholen. Der Reiz seinerzeit und bis heute liegt für mich vor allem darin, zu zeigen, wie sehr Herkunft und Ankunft und die Reise dazwischen Spannungen offenbaren, die in einer schlichten, realistischen Beschreibung von objektiven Gegebenheiten weder Leuchtkraft noch sprachliche Originalität beanspruchen könnten. Denn die Form erzeugt eben auch den ganz besonderen Zugang zu jenem Mythos und jener Aura, den ich meiner eigenen Kindheit und Jugend zuschreibe:

Orte – meinem Großvater mütterlicherseits

 

Ich heiße Josef (neben Franz),
und ich bin der Enkel
einer deutschen Eiche:
Josef -
stark und breit,
sanft und gewogen,
leicht gebeugt - ein Kraftwerk.

In Deinem Haus -
keine Bilder, keine Bücher,
„da hingen keine Gainsbouroughs“;
der „Volksempfänger“ bis zuletzt!
Und doch:
Jede Sekunde gelebten Lebens
respektvoll:
Du trugst uns (Enkel)Kinder auf Händen
- alle!

Und herausgeschnitzt
(auch diese) Linie(n)
- erzählten Lebens:
Der Eigensinn, die Unvernunft
- da spürte schon mal ein brauner Uniformträger,
wie rotes Blut und brauner Boden schmeckt!

Nein!
Über Politik und Geschichte wurde wenig gesprochen.
Masuren 1914 -
steckte in Deiner Seele,
und
- Eisen - als lebenslange Depotgabe
in Deinem Körper.

Warst kein Schweijk,
und kein Jünger der Stahlgewitter.

Merkwürdig konstruierte Intuition,
assimilierte Facetten jiddischer „Kultur“

- Ja, ja!

Gelernt hast Du das Schächten
(dein Werkzeug liegt jetzt in meinen Händen).
Metzger wolltest du werden -
und warst früh schon geschätzter Experte,
wenn es die Gottschalks,
die Oppenheimers,
die Wolffs
und Lichtendorffs
koscher haben wollten.

Merkwürdige Synchronizität:
Die Mischpoke ist Dir abhanden gekommen
– wusstest Du jemals wie?

Alles Millionäre in Amerika!?
Und Du?
Ohne Profession!
Verlust bei Verlust.
Stiller Gewinner die Stadt:
Zumal die untersten Chargen
- die städtischen Arbeitskolonnen -
besetzt mit Spitzenkräften.

Für mich warst du
der immer schon alte, starke Mann:
Im Schiefer der Weinberge;
als Führer zu den mythischen Orten der Kindheit,
wo die Maiglöckchen (noch heute) blühen.
In den lehmigen Gruben,
stiller Bereiter der letzten Wege,
(wo selbst Du deine Grenzen erfuhrst,
wenn jemand im Tod noch auf Wanderschaft musste).

Dann wieder ein Ort,
wo die Fontänen des Lebens sprühn!
Lebendige Kindheit -
Salz und Sonne auf unserer Haut!

Geheimnisvoll aber,
mythisch,
dionysisch
und gewaltig jener Ort.
Die Hallen,
in denen
Anfang und Ende zusammenfließen:

Wir lebten am Rande,
der letzten Bastion zivilisierten Lebens.
Von dort 3000 Meter
wildes Land:
Zuerst die Abraumhalden der Stadt
- Schutt.

In der anderen Welt,
jenseits der Ahr,
gesäumt von Alleen immer blühender Kastanien
die in den Hades übergehenden Prozessionen,
wo Staub kommt zu Staub.

Auf unserer Seite die Niederungen,
Sumpf- und Schwemmgebiet,
worin sich alle Urgewalt verläuft:

Hier duckt sich der Ort,
hinter Haselnüssen und Hainbuchen,
ein Bunker,
flach
und bestimmt von Diagonalen
- sanft ansteigende Schrägen.

Zuerst lockt eine Stube,
verwinkelter, tetraedischer Kubus,
kristalliner Raum einer ganzen Welt:
Der Körper spürt wohlige Ewigkeitswärme
- fossiles Urfeuer im Kanonenrohr;
die Augen gehen über.

Im Restlicht erscheint das Panoptikum (D)einer Zeit:
An den Wänden das illustrierte Feuerwerk
der formierten Gesellschaft:
Beauties und Katastrophen,
Abziehbilder medial markierten Raums.

Ein fernes, geheimnisvolles Rauschen liegt über Allem.
Dünn und vernehmlich,
bedrohlich,
aber (noch) gebannt
im Kreis der alten Männer:

Schwerer Moschus aus Tabak,
Manschester -
sinfonische Höhepunkte,
wenn Bohnen und Speck,
Schweinebraten und Kohl,
Wirsing und Gulasch Geruchsnischen besetzen,
wie Flaschengeister jenem Kessel entsteigen,
der die Kleinode unserer Küche bewahrt;
und doch nichts als Irrlichter im olfaktorischen Inferno.

Von Zeit zu Zeit
- in der rush hour kollektiver Biorhythmen alle Stunde -
verläßt Du die Stube.
Dann ergreife ich Deine Hand
selig geborgen,
gerade genug,
um standzuhalten,
denn wir treten ein in den Bannkreis der düsteren Hallen,
anschwellendes Rauschen,
noch wie fernes Trommelfeuer vor dem Sturm.
Welche Schätze lagern hinter metallenen Toren
an des Wächters Hand -
vor dem Allerheiligsten?

 

Hier sollte nun Teil zwei der Orte folgen. Angesiedelt in einer Kindheit in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat man den Eindruck, all dies entzieht sich vollständig dem Zugang der Nachgeborenen. Am ehesten ließe sich der Faden weiterspinnen mit den Spiel- und Jugendgefährten seinerzeit - gewissenmaßen auf Augen- bzw. in diesem Fall auch auf Riechhöhe. Mein Bruder ist vor 26 Jahren tödlich verunglückt, Bernd - unser verrückter Jopa - ist 1995 an der Nadel geblieben, Peter-Georg - mein alter ego in Kindheit und bis zum Ende der Volksschule - ist 2010 einer Krebserkrankung erlegen, sein Bruder, Karl-Heinz, der Jüngste von uns Fünfen, ist 2018 verstorben. Ganz sicher war es 2002 bereits angemessen meinen ersten biografischen Selbstversuch mit dem Titel zu versehen: "Ich sehe was, was Du nicht siehst - Komm in den totgesagten Park und schau". Willi, mein Bruder und Bernd/Jopa waren schon nicht mehr unter uns. Peter-Georg und Karl-Heinz haben meinen 50sten Geburtstag noch mitgefeiert - im Café Hahn.

So bleiben mir - auf die 70 zusteuernd - die durch Orte auslös- und erinnerbaren Phanatasien; als solche werden sie in der Regel bei dem Versuch, ihnen Gegenwartsrelevanz zuzubilligen, begrenzt bzw. zurückgewiesen. Je älter ich selbst werde, um so deutlicher steht mir allerdings vor Augen, wie prägend und persönlichkeitsfärbend die Einflüsse dieser Kindeheit und Jugend wohl waren:

Du lebst am Ende der Stadt, an ihrem östlichen Rand, deutlich separiert von ordentlichen, städtischen Straßenzügen, drei Häuser - wie ausgesiedelt, überhaupt nicht zueinander passend, vor allem Disharmonie und das Ende der Kreustraße signalisierend - der Asphalt ist glatt wie ein Spiegel, ideal für Hockeyschlachten auf Rollschuhen. Dort, wo die Menschen sich noch in Gruben entleeren, wächst Du auf - gemeinsam mit einer 10 Jahre älteren Schwester, Deinem 3 1/2 Jahre jüngeren Bruder, Deiner Cousine und Deinen Spielgefährten. Die Kreuzstraße führt ins Nichts. Das Nichts ist angefüllt mit Schutt - 200 Meter östlich, jenseits besiedelten Gebietes erstreckt sich der städtische Schuttabladeplatz, in Zeiten vor aller Mülltrennung, Metzgereiabfälle verrotten neben Hausmüll und Sondermüll nahezu jeder Kategorie. Die Müllhalden werden abgefackelt, kein Tag ohne Rauch, Knacken und Knistern, wehe der Wind weht aus östlicher Richtung. Dies ist das Paradies, nicht nur für uns, sondern für Myriaden von Ratten. Aber zwischen Schutt und dem Fußballplatz - auf der anderen Straßenseite, exakt auf der Höhe der Kreuzstr. 111 bzw. 113 - da ist nicht nur das Paradies, dort ist der Himmel, die Zirkuswiese, auf der Zirkus Krone und Zirkus Sarrasani gastieren und ansonsten das fahrende Volk. Heute würde man Sinti un Roma sagen, die mit ihren Karrossen und Wohnwagen ihr Lager dort aufschlagen, bei uns zu Hause um Wasser anfragen, bis das der städtische Wasserversorger dort endlich einen Hydranten installiert und so jederzeit einen Zugang zu fließendem, sauberem Wasser garantiert.

Es mag die Zeit zwischen meinem elften/zwölften bis hin zu meinem vierzehnten oder fünfzehnte Lebensjahre umfassen. Auf einem Damenfahrrad mit tiefem Einstieg - am Lenker eine Einkaufstasche fixiert - verlasse ich die befestigte Kreuzstraße und gelange über einen Feldweg zwischen die Felder und Wiesen. Hier bewegt man sich nach und nach in die Uferzone der Ahr. Trauerweiden, Hainbuchen und im Herbst der gelbe Heinrich sorgen für eine üppige Vegetation. Es ist die Passage zwischen der Kurstadt Bad Neuenahr und den ahrabwärts folgenden Dörfern, Heppingen und Heimersheim. An der Brückenquerung, die Heppingen und Heimersheim verbindet, befindet sich unterhalb der Brücke mit einer rampenförmigen Zufahrt die städtische, mechanische Kläranlage.

Ich habe mich damals wie ein Prinzenkind gefühlt, das einem außerordentlichen Privileg huldigen durfte. Nicht im Entferntesten wäre ich auf die umgekehrte Idee gekommen und hätte eine Bewusstsein dafür ausbilden können, dass sich der Sachverhalt eher umgekehrt darstellte: Mein hochverehrter Großvater gehörte zu einem im Schichtbetrieb arbeitenden Trupp von Klärwärtern, die die anfallenden Fäkalien abräumten, zu Abraumhalden auftürmten, die regelmäßig von Pferdefuhrwerken und Lastkraftwagen abtransportiert wurden. Und jedem, der auserkoren war, mich zuweilen dorthin zu begleiten, widerfuhr eine außerorderntliche Ehre.

Vielleicht kann ich an dieser Stelle verdeutlichen, warum ich wohl mit einem Abstand von mehr als 35 Jahren einen Wortzauber entworfen habe, den ich syntaktisch nur rudimentär in feste Strukturen gießen wollte/konnte. So galaktisch meine subjektive, kindliche Wahrnehmung von der öffentlichen, sozialen Wahrnehmung geschieden war, so sehr wollte ich dem kindlichen Mysterium sprachmächtig zu einer singulären Repräsentanz in der Welt der Kunst - der Sprachkunst verhelfen. Die Melange zwischen der gewaltigen Statur und Präsenz meines Großvaters und den Orten, die ich aufnehme und aufleben lasse, dient der liebevollen Würdigung großväterlicher Fürsorge und Liebe. Was ich auch von meinem Ahnen genommen habe (siehe oben), ist der Versuch, die Unmittelbarkeit einer allumfassenden Wertschätzung, einer besonderen Wahrnehmung durch den Großvater, die zwischen liebevoller Zuwendung und Zutrauen alle Facetten großväterlicher Aufmerksamkeit einschloss, in die Mittelbarkeit zu übersetzen, die sich in meinem Versuch manifestiert, die familiären Ermöglichungen in einem langen Bildungsweg für mich zu nutzen. Auf diese Weise gerät dann der Großvater auch noch einmal unmittelbar in den Blick des Enkels:

Die städtische Kläranlage Bad Neuenahr war ein zentraler, tiefenwirksamer Ort meiner Kindheit. Das also sind Monumente akribischer Erinnerungsarbeit, die familiär selbstverständlich keines Wortes und keines Kommentars für würdig befunden wurden. Und was hätte man denn sonst mit ihnen tun sollen, als sie nachhaltig und konsequent zu verdrängen: Mein Vater/mein Großvater ist Klärwärter in der städtischen Kläranlage - das erwies sich doch als klamm-heimliches kommunikatives No-Go. Bei nicht vorbelasteten, durchaus an komplexen Sozialisationsgeschehnissen interessierten LeserInnen - so könnte ich mir vorstellen - könnten die vorstehenden Impressionen durchaus die Schwelle zu einer möglichen kommunikationsförmigen Reaktion auslösen.

Die folgenden Sätze setzen sich mit der tiefempfundenen Kränkung auseinander für die aufgezeigten Sinnzusammenhänge keine Adressaten mehr zu finden. Peter Fuchs - ein kaum zu lesender/kaum gelesener Soziologe in der Nachfolge Niklas Luhmanns, gelangt in seiner Schrift: Das Maß aller Dinge - Eine Abhandlung zur Metaphysik des Menschen (Velbrück 2007) zu der Einsicht, dass "mit der Einführung der Schrift die Karriere des Menschen als Ausdruck für ein Wesen neben der Sozialiatät mit einer eigenen (irgendwann nicht mehr auslotbaren,letztlich inkalkulablen, aber unentwegt vorauszusetzenden) Innenwelt" beginne (S. 210).

Auch wenn ich hier mit Hilfe des w.w.w. die Schwelle überschreite, die mit meiner "Innenwelt" sozusagen markiert ist - Arnold Retzer würde wohl von einem Ab- oder Austropfen sprechen - komme ich zu der paradoxen Schlussfolgerung, das all dies nicht kommunikabel ist. Auch da verhilft mir wiederum Peter Fuchs zu - zugegebenermaßen - äußert schwierigen Schlussfolgerungen, die mein Dilemma offenbaren: Warum schreibe ich all dies auf - genausogut kann ich es doch in meiner Innenwelt bewahren, gar schützen!? Mich überzeugt dies allein deshalb nicht, weil für mich all dies nur über die akribische Anstrengung des Begriffs in eine (auch für mich selbst) nachvollziehbare Außenrepräsentation gerät. Aber auch hier - so könnte man einwenden - stellt sich nicht im Geringsten die Notwendigkeit, die mit dem w.w.w. markierte Schwelle zu überschreiten. Aber folgen wir an der Stelle noch einmal Peter Fuchs:

"Wir haben versucht zu zeigen, wie durch Schriftgebrauch ein auf Tiefe angelegtes Adressformular entsteht. Es ließe sich hinzufügen, dass mit der Schrift nicht nur die Differenz von Information und Mitteilung verschärft beobachtbar wird, sondern auch die Differenz von Ablehnung/Annahme der je mitgeteilten Sinnofferte (S. 210)."

In Annmerkung 206 (auf Seite 210) greift Peter Fuchs auf den Kommunikationsbegriff von Niklas Luhmann zurück (hier noch einmal im Rahmen einer PPP von mir aufbereitet): "Begreift man Kommunikation als Synthese dreier Selektionen, als Einheit aus Information, Mitteilung und Verstehen, so ist Kommunikation realisisert, wenn und soweit das Verstehen zustandekommt. Alles weitere geschieht 'außerhalb' der Einheit einer elementaren Kommunikation und setzt sie voraus. Das gilt insbesondere für eine vierte Art von Selektion: für die Annahme bzw. Ablehnung der mitgeteilten Sinnreduktion. Man muss beim Adressaten der Kommunikation das Verstehen ihres Selektionssinnes unterscheiden von Annehmen bzw. Ablehnen der Selektion als Prämisse eigenen Verhaltens (Luhmann, Soziale Systeme, S. 203)."

Wir befinden uns also nur exakt an der Nahtstelle, an der ich - wenn es denn je eine Bezugnahme auf diesen Beitrag geben wird - alleine registrieren kann, ob ein Verstehensprozess in Gang kommt, der sich in irgendeiner Form des Annehmens/Ablehnens offenbart; lieber wären mir Anschlusssignale, die in Form von Differenzen eine kommunikationsförmige Interaktion erst zustande kommen ließen.