Henning Sussebach - Danke für: Danke, Anna! - gewidmet Michael, Ann-Christin, Laura, Kathrin, Anne (und ihren Kindern) und: Danke für Hildes Geschichte
Henning Sussebach gehört dem Jahrgang 1972 an. Er ist damit 20 Jahre jünger als ich - und 10 Jahre jünger als mein Neffe. Denselben erwähne ich an dieser Stelle, weil wir in langer, langer Verbundenheit die Neigung teilen, Geschichte auch als Sozialgeschichte zu begreifen. Er verfügte bis zur Ahrflut 2021 über eine erlesene Bibliothek und erweist sich - in manchen historischen Spezialgebieten (z.B. mit Blick auf die Weimarer Republik) weitaus belesener als ich. Unter anderen ihm widme ich diesen Beitrag, in dem mich Henning Sussebach zutiefst bestätigt in meinem ganz persönlichen Bemühen, die Geschichten von Menschen zu bewahren, die für uns in Vorleistung gingen.
Es geht bei Henning Sussebach um: Anna oder: Was von einem Leben bleibt. erschienen im Verlag C.H. Beck - es geht in diesem Buch um Henning Sussebachs Urgroßmutter Anna Raesfeld. Wenn Henning Sussebach in seiner Rückschau dem überaus bemerkenswerten Leben seiner Urgroßmutter ein ganzes Buch widmet, dann erlaubt er uns damit einen Blick in die Geschichte - in Sonderheit in die Sozialgeschichte, in die Emanzipationsregungen im ausgehenden 19. hinein ins beginnende 20. Jahrhundert. Und darüber hinaus setzt er aus den von ihm geborgenen Mosaiksteinen die ganz persönliche Lebensgeschichte, die Lebensumstände, Lebensentscheidungen und Schicksalsschläge seiner Urgroßmutter zusammen. Bemerkenswert erscheint mir sein Resümee:
"Die Spuren meiner Urgroßmutter lagern heute in Kartons und in Kellern, verteilt auf auf verschiedene Archive. Daraus ließe sich schließte, dass Anna nicht so bedeutend ist, wie ich sie mir male. Ich glaube das Gegenteil stimmt: Da sind überall noch mehr Geschichten von Menschen zu finden, die für uns in Vorleistung gingen."
Zu diesen Menschen gehört ganz gewiss meine Mutter, die auch die Mutter meiner Schwester ist (was, wie sich in unserer Geschichte zeigt, nicht selbstverständlich ist), die die Großmutter meines Neffen, meiner Kinder und meiner Nichten ist, und die die Urgroßmutter der Tochter meines Neffen und meiner Enkel ist. Ich habe einen entscheidenen Wendepunkt, meiner Mutter, die - wie vorbemerkt - auch Urgroßmutter ist, in Hildes Geschichte aufgeschrieben. Der Untertitel lautet: oder: Auch eine Liebe in Deutschland (Koblenz 2012). Wenn auch die existentiell schwindelerregenden Wendepunkte der Urgroßmutter von Henning Sussebach auf der einen Seite und der Urgroßmutter von Karla, Leo, Jule, Anouk und ... auf der anderen Seite sich biografisch in denkbar gegensätzlichen Altersregionen vollzogen, so folgenreich sollte sich beider Mutterschaft in diesem Wendepunktgeschehen erweisen: Henning Sussebachs Urgroßmutter gebar 1911 in zweiter Ehe (ihr Ehemann war 19 Jahre jünger als sie selbst) im Alter von 45 (!) Jahren ein Mädchen. Die Urgroßmutter Karlas, Leos, Jules, Anouks und ... gebar 1942 - unehelich - ebenfalls ein Mädchen. Im Geburtsregister steht: Vater unbekannt. Erst nahezu 60 Jahre später sollte seine Tochter erfahren, dass er - zwölf Jahre älter als Hilde - 1943 als Angehöriger eines Panzerregiments in der Ukraine gefallen war, dass er Familie hatte - in Österreich, und dass ihr noch zwei Brüder geschenkt werden sollten.
Hennig Sussebachs Rolle würde in diesem Fall vermutlich Hildes ältester Enkelin zukommen, einer akribischen Leserin von Benedict Wells, der in Die Geschichten in uns - Vom Schreiben und vom Leben gleichermaßen Schrittmacherdienste leistet für etwas, was Hennig Sussebach folgendermaßen zusammenfasst;
"Wohl jeder Mensch kennt das Erschrecken, sobald ihm bewusst wird, wie sehr seine Existenz auf Zufällen beruht (ich schreibe in Hildes Geschichte vom existenziellen Schwindel, der mich mit Blick auf diese Zufälle immer wieder ergreift). Dass die Mutter und der Vater zu selben Stunde am selben Ort ein Café betraten. Dass deren beide Eltern, schon vier Personen, in Tanzkursen, Zugabteilen, oder während einer Zigarettenpause zueinanderfanden. Und dass deren Eltern wiederum, bereits acht Personen ... dann 16, 32, 64. Die Wahrscheinlichkeit, nie geboren worden zu sein, ist millionenfach größer, und sie potenziert sich von Generation zu Generation. Aber Zufall? Annas Geschichte ist eines von vielen Beispielen dafür, dass mehr eine Rolle spielt. Das kann der Mut sein, den Verhältnissen vor Ort die Stirn zu bieten. Oder das Wagnis, anderswo ein neues Leben zu beginnen. Diese Entscheidungen nennt der Karlsruher Historiker Kunze unser >immaterielles Erbe< - und das sei mehr wert als überlassene Juwelen. >Es ist unsere Aufgabe, solche Erzählungen zu suchen und zu bewahren<, sagt Kunze. >Wir nutzen unser Menschsein nicht, wenn wir sie einfach wegtreiben lassen. Welches Gewicht so ein immaterielles Erbe bekommen kann, erfährt nicht nur derjenige. der auf einen Denunzianten, Mörder oder Kriegsverbrecher unter seinen Ahnen stößt. Auch die guten Geschichten bedeuten keinen Freispruch, sondern Verpflichtung."
Henning Sussebach erläutert diese Idee der Verpflichtung - denjenigen gegenüber, die je auf ihre Weise in Vorleistung für uns gingen mit folgender Bemerkung:
"Um Annas Geschichte zu retten, war ich auf dem Zeitstrahl in die Vergangenheit gereist, hatte Jahrzehnte übersprungen, schaute mir mit dem Wissen des Jetzt das Damals an und stöberte in Annas Leben wie in einem Antiquariat, ohne dass sie je zugstimmt hätte. Der Handelnde von uns beiden schien ich zu sein, ich bilanzierte hier und urteilte dort. Dabei hatte Anna längst einen stillen Dialog mit mir begonnen, und immer öfter führte sie das Wort. Zumindest fragte ich mich, was geschähe, wenn die Vergangenen einmal dem Treiben der Gegenwärtigen zuschauen könnten. Wenn jemand wie Anna uns im Heute sähe. Anna vaterlos mit zwölf. Anna in die Niederlande verschickt. Anna, als Frau weitegehend rechtlos. Anna, früh verwitwet. Anna, berufstätig. Anna, spät Mutter. Anna, die ein winziges Kind durchbringen muss. Vor allem aber: Anna, gegen die Zumutungen ihrer Zeit kämpfend. Anna, in die Zukunft strebend."
Ich schließe mich Henning Sussebach an und phantasiere mir Hilde in die Rolle Annas: Hilde, unehelich Mutter mit siebzehn. Hilde, ein gefallenes Mädchen in einem erbarmungslos katholisch infizierten Milieu. Hilde, alleinerziehende Mutter in einem moralisch erschütterten Umfeld. Hilde, flüchtend - Schutz suchend in einer Ehe mit Theo, dem nur eineinhalb Jahre älteren Nachbarsjungen. Hilde, Mutter der unehelich geborenen Tochter, der zwei Söhne und 1962 der erste Enkel geschenkt werden. Hilde, Opfer und Täterin in der Welt des don't ask - don't tell. Hilde, Witwe mit 63. Hilde, verwaist mit 70 im bitteren Verlust ihres jüngsten Sohnes. Hilde, als spät emanzipierte selbstbewusste Frau, die Frieden findet und Frieden stiftet. Und auch ich frage mich, was geschähe, wenn die Vergangenen einmal dem Treiben der Gegenwärtigen zuschauen könnten. Ich schließe mich der Antwort Hennig Sussebachs an:
"Wahrscheinlich wäre Anna glücklich zu sehen, mit welcher Selbstverständlichkeit ihre Ur-Urenkel und Ur-Urenkelinnen über ihr Leben entscheiden, Berufe wählen, die sie sich ganz alleine aussuchen. Sie würde staunen, welche Möglichkeiten die Medizin heute bietet. Sie würde sich freuen, dass wir in eine Demokratie leben - und sich wundern, dass viele Menschen nicht wählen gehen. Sie wäre verblüfft, wer so alles über schmale Meinungskorridore und einen Mangel an Möglichkeiten klagt. Sie würde sich über so manche Mutlosigkeit und über Veränderungsunlust ärgern."
Hilde wäre noch ein bisschen näher dran? Unsinn - generativ ist sie genauso weit weg von ihren Urenkel:innen, wie Anna. Aber in mir und ihren Enkel:innen ist sie noch so unfassbar präsent, dass ich mich immer wieder wundern kann, wie sehr doch Alexander Kluge im Interview mit Denis Scheck das bestätigt, was Henning Sussebach hier anstößt. Aber dazu ein wenig weiter unten mehr. Zuvor folge ich der fulminanten Bresche, die Henning Sussebach hier schlägt für einen - wenn auch nicht vorbehaltlos wertschätzenden -, so doch aufmerksame(re)n Umgang mit unseren Ahnen. Ist die Ahne noch so präsent, wie im Falle Hildes, fällt dies zugleich leichter als auch schwerer, bleibt Hildes Geschichte in ihrer zeitgeschichtelichen Dimension für uns alle ihr Nachfolgenden in ihren Einschränkungen, Bedrohungen, Zumutungen und Belastungen schlichtweg unvorstellbar. Vielleicht ist Sussebachs Anregung geeignet dazu, sich tatsächlich zu besinnen und genau die Frage zu stellen, was wohl geschähe, wenn die Vergangenen einmal der Treiben der Gegenwärtigen zuschauen könnten. Es fällt mir leicht - mit Blick auf Hilde - diesen Impuls weiterzugeben an Michael, Ann-Christin, Laura, Kathrin und Anne. Gewiss käme Hilde nicht auf Idee, ihren Enkel:innen Mutlosigkeit zu unterstellen. Das ganze Gegenteil wäre gewiss der Fall. Sie würde liebevoll schauen auf den Mut ihrer Enkel:innen - vielleicht ein wenig besorgt auch, gewiss aber segensreich und immer mit dem Impuls auf ihre liebevolle Weise unterstützen, ermuntern und helfen zu wollen - eben segensreich, das würde ihr gut gefallen. Nun ja, sie lebt ja nicht nur in ihren Enkel:innen, sondern vorerst auch immer noch in zweien ihrer Kinder weiter.
Alexander Kluge hat mir den Blick geöffnet mit seiner Sicht der Dinge, in der sich gewiss auch Henning Sussebach wiederfindet. Im Interview mit Denis Scheck findet sich folgende Passage - es lohnt sich dieses Interview anzuklicken:
"Sehn sie, wenn die Zeiten sich so verdichten und beschleunigen, dass sie unheimlich sind - wenn die Zeiten sozusagen zeigen ein Rumoren der verschluckten Welt, als seien wir im Bauch eines Wals angekommen... wenn das alles so ist, dass man sich wie im Bauch eines Monstrums fühlt, dann kommt es darauf an sich zu verankern. Es ist am leichtesten sich zu verankern in dem, was wir in uns tragen! Sehen Sie, wenn wir beide unsere 16 Urgroßeltern nehmen - unter der Zahl werden wir nicht geboren sein - dann können sie sagen, die sind so extrem verschieden und wussten so wenig, in welchen Körpern sie einmal zusammen kommen werden, dass wir eigentlich denken müssten, bei uns müsste Bürgerkrieg herrschen." (Auch darum ist "Hildes Geschichte" entstanden!)
Zu Henning Sussebachs Implementation des Zufalls einige Links zu demjenigen, der davon ausgeht, dass wir weit mehr unsere Zufälle als unsere Wahl seinen: Odo Marquard
Ein kleiner Lesehappen zu Odo Marquards Apologie des Zufälligen:
"Die Erfahrung des Überwiegens und der Lebensbedeutsamkeit jener Zufälle, die uns prägen, obwohl sie gerade nicht in unserem Belieben stehen (also nicht der Beliebigkeitszufälle, sondern der Schicksalszufälle), ist eine Alterserfahrung, die man schon früh im Leben machen kann, weil ebenso gilt: jeder - auch der jüngste - Mensch ist schon alt, d.h. so nah dem Tode, dass er jedenfalls nicht die Zeit hat, die Zufälligkeit der Zufälle, aus denen sein Leben besteht, in nennenswerter Weise zu löschen (160)."
Daraus folgt für Marquard - und auch einen im Alter vorgerückten Leser seiner Überlegungen:
"Wir können unser Leben und seine Wirklichkeit auch niemals überhaupt in wesentlicher Weise wählen oder gar absolut wählen, so dass es auch und vor allem im Sinne des Schicksalszufälligen zufällig bleibt. Wir kommen mehr als durch Wahl - also über Pläne - durch Zufälle durchs Leben und zu uns selber; und das ist nicht - wie die Philosophie der absoluten Wahl und der Absolutmachung des Menschen uns weismachen will - ein Unglücksfall; denn der Zufall ist keine misslungene Absolutheit, sondern - sterblichkeitsbedingt - unsere geschichtliche Normalität. Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl. Ich sage, wohlgemerkt, nicht: wir Menschen sind nur unsere Zufälle, ich sage nur: wir Menschen sind nicht nur unsere Wahl, und ich sage außerdem nur noch: wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl. Und erst recht sind wir Menschen stets mehr unsere Zufälle als unsere absolute Wahl und haben das zu akzeptieren; denn wir sind nicht absolut, sondern endlich. Eine Philosophie, die - skeptisch - diese Untilgbarkeit des Zufälligen geltend macht, ist, insofern, die Apologie des Zufälligen (160f.)."