Danke für Hildes Geschichte (3)
Henning Sußebach hat mich auf die Idee gebracht, meinen Blog zu nutzen und Hildes Geschichte noch einmal Kapitel für Kapitel zu erzählen - ganz im Sinne seiner Überzeugungen, die er mit dem Aufschreiben der Geschichte seiner Urgroßmutter verbindet. Hilde, meine Mutter ist inzwischen auch Urgroßmutter, und ich stelle mir vor, dass sie ihre Hand nicht nur über mich hält, sondern über alle, die aus ihr hervorgegangen sind. Bert Hellinger macht uns noch einmal darauf aufmerksam, dass zu diesem Hervorbringen unter Umständen - und Hilde hat solche Umstände erlebt - auch die schlimmen Gesellen gehören. Aber werden wir beispielsweise dem Vater meiner Schwester tatsächlich gerecht, wenn wir ihn als schlimmen Gesellen sehen. Der Ausschluss, das beharrliche Weigern auch jenen Ahnen zu sehen und anzunehmen, dem meine Mutter, die Mutter meiner Schwester, die Großmutter meines Neffen und die Urgroßmutter aller Enkel:innen in Hingebung und Liebe begegnete, verhindert dort anzukommen, wo ich mich wähne - als jemand der irgendwann die Augen öffnet, sich noch einmal umblickt, aufsteht und geht - im Einklang mit sich selbst und seiner Geschichte.
Hildes Zuhause wurde zehn Jahre später auch mein Zuhause. Was ich hier aufgeschrieben habe, ist durch meine Wahrnehmungsfilter gelaufen. Aber ich bin mir sicher, dass die spärlichen Schilderungen ziemlich exakt den Nahraum abbilden, in dem sich Hildes späte Kindheit und Jugend - ebenso wie die ihrer jüngeren Schwester Annemie - zugetragen hat. Bemerkenswert hieran ist in der Tat der Umstand, dass weit im Osten, tatsächlich weit vorgeschoben, zwei Häuser standen. Das halbe der Lahnsteins und das mit fast 12 Metern Höhe alles überragende Haus der Familie Witsch - Hausbacke an Hausbacke - mein mütterliches und mein väterliches Elternhaus, wie sich Jahre später herausstellen würde.
Hier herrschten die Patrones, mein Großvater Josef Lahnstein und mein Großvater Franz Michel Witsch, letzterer hat zwar noch die Hochzeit seines Sohnes Theo mit Hilde erlebt, aber leider nicht mehr die Geburt seiner beiden Enkel - Franz Josef und Wilfried. Er hat aber - wie mir meine Schwester erzählt hat, die am 5. Juni 1942 geboren werden wird - eine wohlwollende, vielleicht liebevolle Beziehung aufgebaut zur Stieftochter seines Sohnes, die sie auch - de jure - am 21. August 1948 werden sollte. Die besonderen Vorzüge der Wohn-Randlage im Osten der Stadt Bad Neuenahr werden im Verlauf der Schilderungen noch eine besondere Rolle spielen.
Details
Hildes Geschichte - Hildes Zuhause
Hilde fühlte sich erschlagen, unwohl und irgendwie war es ihr in ihrem eigenen Körper zu eng; alles spannte und zerrte an Körper und Seele. Sie hoffte, dass ihre Periode – wie Änne das nannte – dieses Mal nicht so heftig sein möge. Zu Hause war sicherlich jede Menge Arbeit liegen geblieben. Sie trug die Verantwortung für 20 Stallhasen. Ein Glück, dass es nur gut hundert Meter bis zu den Wiesen am Ende der Kreuzstraße waren. Dort wuchs fetter Löwenzahn in Massen und jetzt Mitte August war ein Sack im Nu gefüllt.
Als Hilde morgens früh nach Hause kam, war der Vater schon zur Arbeit und Annemie, die 13-jährige Schwester musste bald zur Schule. Hilde lief außen ums Haus herum zum Schuppen, nahm sich das Stechmesser und den großen Leinensack, rief der Mutter, sie gehe Hasenfutter holen und rannte die Straße hinunter. Außer dem „halben Haus“ der Lahnsteins überragte dort – Wand an Wand gebaut, fast wie ein Schutzpatron – ein weiteres, allerdings fast doppelt so hohes Gebäude das eigene Zuhause. Es waren die letzten beiden Häuser der Straße. Sie wirkten wie weit vorgeschobene Vorposten der Zivilisation, soeben noch in Sichtweite einer mehr und mehr geschlossenen Bebauung weiter im Westen. Das Ahrtal öffnete sich hier behutsam und ging langsam in die „Goldene Meile“ über – etwa 5 Kilometer weiter östlich mündete die Ahr in den Rhein und hinterließ bei den jährlichen Überschwemmungen auf den letzten Kilometern fruchtbares Schwemmland, das landwirtschaftlich intensiv genutzt wurde. Wie eine Wächterin bildet die „Landskrone“, ein mächtiger, im oberen Teil abgeflachter Kegelberg, die letzte Barriere zum Rheintal hin.
Auf der Südseite der Ahr erstrecken sich bis heute weiträumige Parkanlagen. Zuerst der französischer Gartenbautradition nachempfundene kleinere Lennépark mit dem Lenné-Schlösschen. Mit seinen weiß gekalkten Außenmauern und einem verspielten, rot eingedeckten Dachaufbau vermittelt es an hellen Sonnentagen ein mediterranes Flair. Der großzügige und weitläufigere Kaiser-Wilhelm-Park lädt hingegen ein zum Flanieren unter Buchen, Eichen und vereinzelten Koniferen. In ihrer großzügigen und weitläufigen Anordnung formen sie eine Parklandschaft, die weiter im Osten in eine urwüchsige Wildnis übergeht. Die beiden Ahrufer, von Kastanienalleen gesäumt, sind am Ende des Kaiser-Wilhelm-Parks durch die sogenannte „Katzenbuckelsbrücke“, eine im Jugendstil gearbeitete verspielte Stahlkonstruktion verbunden.
Während im Lennépark noch die Kurgäste bis hin zum Lenné-Schlösschen spazieren, um hier vielleicht ihren Kaffee zu nehmen, kann man in der verwunschenen Welt des englischen Parks untertauchen und im Übergang in die Auenlandschaft – wenn man will – für eine Zeitlang dem öffentlichen Treiben entfliehen. Lediglich die „Idyllenhöhe“ ein Café etwa zwanzig bis dreißig Meter hoch über dem Ahrufer und nur durch einen steilen Pfad von der Ahr aus (oder von der anderen Seite über den Johannisberg) zu erreichen, bildet gewissermaßen die „Nachhut“ der zivilisierten Welt.
Mit einem prall gefüllten Sack voll Löwenzahn schlenderte Hilde die wenigen Meter nach Hause, am Sportplatz entlang, der genau gegenüber auf der anderen Straßenseite einen weiten Blick bis hin zum Ahrufer erlaubte. Die Linden am Straßenrand waren erst wenige Jahre alt, so dass die großen Akazien und Pappeln am Ahrufer in etwa 100 Meter Entfernung den Eindruck der weiträumigen Parklandschaft bis in die Kreuzstraße hinein verlängerten. Die Sonne über der Landskrone tauchte die Welt in ein mildes Morgenlicht. Die Bewegung hatte gut getan und Hilde machte sich daran die Hasen zu versorgen. Mit erfahrenem Blick bemerkte sie, dass die Hasenställe in Ordnung waren und zum Entmisten noch Zeit blieb. Heute gab es neben einer üppigen Portion Löwenzahn noch ein Stück trockenes Brot, das die Mutter schon im Hof bereit gestellt hatte. Gut gelaunt sprang Hilde die Treppe zur Küche hoch, die man über einen kleinen überdachten Anbau erreichte. Dort fanden die schmutzigen Schuhe ihren Platz. Die Tagesernte aus dem kleinen Garten wurde hier zwischengelagert, bevor sie im Kochtopf oder in Einweckgläsern landete.
„Ihr habt sicherlich sehr viel zu tun, jetzt zum Wochenende – hast du bei Änne geschlafen?“, fragte die Mutter mit leicht besorgtem Unterton. „Ja, Mama, gestern ging es bis spät in die Nacht.“ Freudestrahlend legte Hilde 70 Pfennige auf den Tisch und meinte: „Gestern Abend durfte ich in der letzten Stunde mit bedienen. Änne war ganz allein, und ich habe ihr geholfen. Schau, so viel Trinkgeld habe ich bekommen!“ Die Mutter lächelte ein wenig verschämt, schob einen Groschen zurück und sagte wohlwollend: „Steck’s in deine Spardose!“ Vergnügt hüpfte Hilde zum Schrank, nahm eine kleine Pappschachtel heraus und steckte den Groschen in den Schlitz.
„Am Wochenende ist Änne auch alleine und Herr Broicher hat gefragt, ob ich nicht aushelfen könnte. Das gibt bestimmt ein schönes Trinkgeld.“ „Kind, wenn es so spät wird“, antwortete die Mutter, „dann bleib bitte bei der Änne. Deine Schwester kann die Hasen versorgen – du hast ja genügend Futter geholt. Der Vater sieht es zwar nicht so gerne, aber er freut sich, wenn du eine gute Arbeit machst – und die Frau Broicher hat dich sehr gelobt. Dieter und die kleine Doris mögen dich wohl sehr!“
„Ja, Mama, ich hab die Kinder auch recht gerne, und ich will mich beeilen. Frau Broicher ist immer sehr ungehalten, wenn ich nicht pünktlich bin. Die hätte es am liebsten, wenn ich ganz da bliebe.“
„Das kann ich mir vorstellen. Aber dann müsste sie dir schon einen anständigen Lohn zahlen.“ Die Mutter wies auf die weiße Spitzenschürze und das schwarze Unterkleid – „nimm die frische Wäsche mit und leg mir die schmutzige Wäsche in die Waschküche – Kind!“ Erleichtert und zufrieden packte Hilde ihre Sachen und machte sich auf den Weg.