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Tapferkeit setzt Verwundbarkeit voraus - Wer wir sind?

"Tapferkeit setzt Verwundbarkeit voraus; ohne Verwundbarkeit gibt es nicht einmal die Möglichkeit der Tapferkeit. [...] Verwundung: darunter ist hier jeder willenswidrige Eingriff in die natürliche Unversehrtheit verstanden, jede Versehrung des in sich selbst ruhenden Seins, alles was gegen unsren Willen an uns und mit uns geschieht, also alles irgendwie Negative, alle Schmerzliche und Schädigende, alles Beängstigende und Bedrückende." (Josef Piper: Über die Tugenden, München 2004, S. 147)

Selbst 2025 im Oktober (SPIEGEL 43/25, S. 90-93) kann es noch vorkommen, dass jemand offenbart, nicht derjenige zu sein, für den er sich bis dahin gehalten hatte, dass er erkennen muss, dass willenswidrige Eingriffe in seine natürliche Unversehrtheit, dass eine Versehrung seines in sich selbst ruhenden Seins statthaben, dass gegen seinen Willen etwas an ihm und mit ihm geschieht, dass alles irgendwie Negative, alle Schmerzliche und Schädigende, alles Beängstigende und Bedrückende ihn auf unverhoffte Weise für sich einvernehmen. Und dies ist nun nicht gemeint als larmoyantes Eingständnis im Sinne Richard David Prechts, der gleichermaßen die Möglichkeitsräume wie die maßlosen Überforderungen einer den Individualismus überhöhenden wie einfordernden Moderne mit der Frage karikiert: Wer bin ich, und wenn ja, wie viele? Henrik Lenkheits Metamorphose ereignet sich "an einem glühend heißen Dienstag im August":

"Er habe sich am späten Nachmittag die SPIEGEL-TV-Dokumentation >Wer war Himmler< angeschaut. Nebenbei begann er zu googeln. Lenkheit erfuhr, dass es in Himmlers Leben nicht nur eine Ehefrau, sondern auch eine Geliebte gab: seine Privatsekretärin. Attraktiv, zwölf Jahre jünger, blond. Beseelt von dem Wahn eine arische Elite heranzuziehen, vertrat der SS-Chef die Ansicht, dass jeder >gutrassige freie Germane< getreu alter Väter Sitte neben der offiziellen Gattin das Recht auf eine Zweitfrau besitze - zwecks Zeugung möglichst vieler Kinder.* Lenkheit entdeckte im Netz ein Foto der Himmler-Geliebten. >Hedwig Potthast< stand darunter, geboren 1912 in Köln, gestorben 1994 in Baden-Baden. Er habe sich fürchterlich erschrocken, berichtet er: Die schöne Frau mit der hohen Stirn ähnelte nicht nur stark seiner Großmutter, auch die Lebensdaten stimmten überein. Zudem trug sie deren Vornamen. Den Nachnamen Potthast kannte Lenkheit von seiner Großtante. >Auf Wikipedia blickte ich plötzlich in das Gesicht meiner Großmutter<, erzählt Lenkheit. Verdattert scrollte er weiter und erfuhr, dass Hedwig Potthast ihrem Geliebten während des Zweiten Weltkriegs zwei Kinder gebar. Am 15. Februar 1942 kam im NS-Sanatorium Hohenlychen, 80 Kilometer nördlich von Berlin, Sohn Helge zur Welt. So heißt Lenkheits Onkel. Und am 3. Juni 1944 bekam Potthast dort ein Mädchen namens Nanette Dorothea. Sie hieß Lenkheits Mutter."

* siehe dazu: SS-Befehl für die gesamte SS und Polizei (Zeugungsbefehl)

Lenkheit schildert, ihm sei flau geworden: "Ich war völlig geschockt." In seinem Kopf habe sich alles gedreht: "Gefühlskarussell und gleichzeitig totale Leere." Lenkheit wühlte daraufhin weiter im Internet. Er kontaktierte Katrin Himmler, die Großnichte des SS-Chefs. Die Politikwissenschaftlerin hat die Geschichte der Familie Himmler akribisch recherchiert. Sie verhalf ihm schließlich zu einer Abschrift der Geburtsurkunde seiner Mutter:

"Jetzt hatte es Lenkheit schwarz auf weiß. Das Dokument trägt eine handschriftliche Notiz, auf der vermerkt ist, dass der >Reichsführer SS< und >Reichsminister der Inneren Heinrich Himmler< die Vaterschaft für Nanette Dorothea am 25. Juni 1944 anerkannt hatte."

So what! Na und?

"Die psychischen Folgen verdrängter und verleugneter Schuld der NS-Tätergeneration bei deren Kindern und Kindeskindern sind hinlänglich erforscht. Tausenden Detuschen geht es wie Lenkheit: Viele von ihnen >kommen von den sie bedrängenden Fragen, dumpfen Gefühlen, Ängsten und Zweifeln nicht los und stehen unter einem inneren Druck, etwas wiedergutzumachen, von dem sie nicht genau wissen, was es ist<, schreibt Sozialpsychologin Angela Moré, Expertin für transgenerationelle Schuldverstrickungen an der Leibniz Universität Hannover."

Interessant sind vielleicht die Schilderungen und Schlussfolgerungen, die Henrik Lenkheit zieht:

"Seit er die Wahrheit über seinen leiblichen Großvter erfahren habe, gehe es ihm körperlich und seelisch viel besser, so Lenkheit, vor allem der Glaube habe ihm geholfen. Er sei in den vergangenen Monaten durch eine Art >Heilungsprozess< gegangen, finde seinen inneren Frieden wieder, sagt er. Aus seiner Geschichte leitet er eine Mission ab: Die Deutschen müssten ihr familiäres Nazi-Erbe anerkennen, um die rechtsextremen Kräfte im Lande zurückzudrängen, glaubt er. >Die nationalsozialistische Ideologie wurden nie ausgerottet, das brennt auf meinem Herzen<, sagt er. Und das sei mit ein Grund dafür, dass die AfD zur zweitstärksten Kraft im Bundestag wurde. Der 48-jährige sagt, er wolle nch Deutschland reisen, in Gedenkstätten, Kirchengemeinden, Schulen über seine Geschichte un die seiner Familie sprechen, Konferenzen organisiseren. Zudem hat er seine Erfahrungen in einem Buch aufgeschrieben."

Die Historikerin Ulrike Jureit meint, es sei eine Frage und eine Dimension von Selbstvergewisserung, sich auch als Zivilgesellschaft gegen eine rechtsextreme Wiederbelebung völkischen und nationalsozialistischen Gedankenguts zu positionieren: "Was fehlt ist die Auseinandersetzung mit den Tätern, den Strukturen, die den Holocaust ermöglicht haben." Dazu gehöre auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Familie und deren Geschichte."

Es bleibt an dieser Stelle der Dank an meine Schwester, die die Triebkraft war zur Erforschung ihrer eigenen Herkunft (väterlicherseits). Wir haben damit begonnen, uns ein Bild zu machen von Prozessen, die wir für die Zukunft abwenden wollen. Insofern stecken wir mittendrin in dieser Aufarbeitung, die inzwischen dort angelangt ist, wo in der Tat die Fragen in den Vordergrund rücken, wie historische Ausganglagen, Ideologien, Zeitgeist und politische Unbildung eine Gemengelage bilden, in der es dem Unmenschentum gelingt, die Richtlinien der Politik zu bestimmen (siehe ganz unten).

Zur Erkenntnis Henrik Lenkheits, die eigene Familie habe erfolgreich eine Haltung des don't ask - don't tell im Sinne einer allumfassenden Schweigespirale verankert, die es nun zu durchbrechen gelte, passt Ulrike Lenkheits Auffoderung sich nicht, wie bisher, zu sehr mit den Opfern des Nationalsozialismus zu identifizieren, sondern sich klarzumachen, dass sehr viel mehr Menschen damals auf der anderen, auf der falschen Seite gestanden hätten! "Es muss ja nicht gleich jeder ein Enkel von Heinrich Himmler sein", sagt Lenkheit. Und dennoch frage auch ich:

 

Erich Kästner: Wie kann das sein?

Wie kann das sein?
Mein Kopf sagt nein!
Mein Herz will schrein!
Wir sind die Enkel und die Kinder jener Schinder,
deren widerlichster sprach: zuerst die Kinder!

In Posen nahm er* sie beim Wort        *Heinrich Himmler
und sprach von Anstand vor den Schloten;
sie schufen jenen Ort,
belebt von Henkern und von Toten.
Sie hielten sich daran und töteten (zuerst) die Kinder!

Die Herrenrasse sagt: der Freund! - der Feind!
Und Carl der Schmitt* ermuntert sie, das Fremde auszumerzen.      *Kronjurist der Nazis
Der Herrenmensch marschiert im Wahn vereint
enthemmt, bar jeder Regung noch im Herzen.
Er mordet, was im Wege steht und tötet immer auch die Kinder - (zu allerst) die Kinder!

Und Schinder wachsen nach – aus Blubo und aus BrauSi*     *Blut, Boden, Brauchtum und Sippe)
Der Abschaum pflanzt sich fort, gebiert den Bastard,
der tackert sich die Ahnentafel auf die Stirn;
hat ne Kloacke dort, wo andre haben Hirn.
Wer glaubt, dass die mal waren Kinder?

Nie wieder! Wer versteht das nicht?
Spricht RvW* doch von Befreiung!     *Richard von Weizsäcker           
Und Willy Brandt kniet nieder und bittet um Verzeihung;                                         
bekennt sich zu den Grenzen – zum Gewaltverzicht!
Wie kommen BluBo, BrauSi in das Hirn verführter Kinder?

Wenden wir’s mal kämpferisch mit Erich Kästner!
Der dichtete – bevor die Erste Republik zusammenbrach – das Marschliedchen.
Und irrte sich fatal, der Kästner Erich!
Denn die SS marschierte bis nach Stalingrad und Auschwitz hörte ihre Liedchen.

Wir machen's besser – ein Ruck geht durch die Republik.
Nie wieder? Ja, das ist wohl heute, wir machen es publik!
Wir hören noch den Kästner rufen – nach über neunzig Jahren
und sind uns sicher, dass wir wachsam und auch klüger waren!

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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