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Was hab ich denn in den letzten Wochen so getrieben?

Zwischen "Hildes Geschichte" und dem Megaprojekt "Demenztagebuch"

In der Einleitung zu "Hildes Geschichte" (worum es dabei geht, habe ich in einem Brief an Nico Hofmann zusammengefasst) bekenne ich mich dazu, zum ersten Mal den "analytischen Blick" zugunsten des Erzählens weitgehend aufzugeben. Sicherlich ist dies nicht so ganz redlich, weil ich mich im "Schlusskapitel" wieder übermannen lasse, und ich natürlich wissen möchte, was "Hildes Geschichte" für uns alle bedeutet.

Ich konnte hier nicht widerstehen, und ich spüre, wie sehr mich diese offene Geschichte für sich einnimmt, wie unvollendet das Ganze geblieben ist. Das  S c h l u s s k a p i t e l  reicht bis in die unmittelbare Gegenwart hinein. In ihm geht es um Grundhaltungen und -entscheidungen, die auch die nähere - vielleicht auch fernere - Zukunft mit bedingen:

Ja, der Lebenslauf im Sinne Niklas Luhmanns ist einerseits ein Medium im Sinne eines Kombinationsprogramms von Möglichkeiten und andererseits eine von Moment zu Moment fortschreitende Festlegung von Formen, die den Lebenslauf vom jeweiligen Stand aus reproduzieren, indem sie ihm weitere Möglichkeiten eröffnen oder verschließen. Ich frage die Hilde, die meine Mutter werden sollte, in ungwohnter Härte nach diesen Möglichkeiten - wohlwissend, dass ich sie gleichzeitig schütze.

Denn ich spüre noch heute die Not und die Ausweglosigkeit von Menschen, die es einfach nicht besser wussten und im Verdrängen und Verheimlichen des Naheliegenden ein Schlupfloch erblickten. Die Enkel- und Urenkelgeneration fragt heute vielleicht zu Recht - aber genau so naiv: Was soll das heißen: Es einfach nicht besser zu wissen? Sie können sich nur noch bedingt vorstellen, was es in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bedeutete, im Alter von siebzehn Jahren einen Bastard in diese Welt zu gebären.

Solche Schlupflöcher - des Verdrängens und Verheimlichens - sind in einer aufgeklärten, offenen und demokratisch verfassten Gegenwartsgesellschaft engmaschiger geworden. Es nicht (besser) zu wissen, eine Haltung, die im Kontext einer totalitären und fundamentalistischen Gesellschaft (und ihren Nachwehen in einem materiell und moralisch zerstörten Deutschland) noch Auswege bot (um sich der eigenen Geschichte eben nicht stellen zu müssen), überzeugen heute nicht mehr: "Die Ausrufung der Objektivität (der objektiven Zwänge) ist gleichbedeutend mit der Abschaffung der Verantwortlichkeit." Oder: "Objektivität ist die Selbsttäuschung des Subjekts (des Beobachters), Beobachtung sei ohne es/ihn möglich (Heinz von Foerster)."

Die bösen Geschichten, von denen nachstehend die Rede ist, werden ja erst so richtig böse, wenn sie das Resultat eigener Entscheidungen sind; Entscheidungen von Menschen, die nicht - wie unter der Terrorherrschaft der Nazis - um Leib und Leben fürchten mussten.

Wer übrigens einen kompletten Kapitelüberblick gewinnen möchte, mit der Möglichkeit sich in ein beliebiges Kapitel einzuklicken, der schaue hier. Warum ich mich "Hildes Geschichte" noch einmal zuwende, hängt schlicht damit zusammen, dass sie - wie oben  angedeutet - ja noch nicht zu Ende ist. Die heilende Kraft des Erzählens hoffe ich immer noch mit einer Perspektive verknüpfen zu können, die uns dabei hilft, unsere Erzählungen - vielleicht im Sinne von Odo Marquard - historisch und auch theoretisch verstehen zu können. Denn es gibt ja auch böse Geschichten, die Menschen zu bösen Handlungen veranlassen. Sönke Neitzel und Harald Welzer haben dies für die Zeit des Nationalsozialismus am Beispiel des kulturellen Referenzrahmens eindrücklich aufgezeigt. Aus den bösen Geschichten über die Ungleichheit der Menschen resultieren böse Taten, mit denen wir uns noch heute konfrontiert sehen, weil sie von unserer Eltern- bzw. Groß- bzw. Urgroßelterngeneration begangen worden sind. Dem Geliebten Hildes, Vater meiner Schwester, Großvater meines Neffen und Urgroßvater meiner Großnichte gerecht zu werden, stellt eine Herausforderung dar. Vielleicht vermittelt uns Franz Streit eine besondere Vorsicht in der Wahrnehmung heutiger elend dummer Menschen, die an böse Geschichten glauben und böse Taten begehen oder in Erwägung ziehen. In einem Brief an Nico Hofmann (Unsere Mütter, unsere Väter) weise ich jedenfalls "Hildes Geschichte" eine solche Bedeutung zu.

 

Es gibt einen weiteren Grund, warum wir das Erzählen wiederentdecken und auch im Alltag pflegen sollen: Wir Menschen sind nicht nur erzählende, sondern auch vergessende Wesen. Dass wir im Erzählen bereits vergessen, resultiert aus der unvermeidbaren conditio, dass jeder Gedächtnisakt immer nur begriffen werden kann als selektives Erinnern bzw. als selektives Vergessen. Niklas Luhmann hat in seiner Lebenslauftheorie auf die unvermeidbaren und entlastenden Inkonsistenzbereinigungsprogramme hingewiesen. Ist man sich dessen schon bewusst, so wächst der Drang zu einer aufmerksamen und kritischen (Selbst-)Beobachtung. So erfüllt das seit einigen Wochen entstehende "Demenztagebuch" mindestens einen doppelten Zweck:

  • Mit Hilfe der seinerzeit geführten Tagebücher soll noch einmal Licht gebracht werden in den dynamisch fortschreitenden und sich entwickelnden dementiellen Prozess, den Leo, mein Schwiegervater, erlitten hat. Dieser Prozess - und mag er noch so dynamisch gewesen sein - vollzieht sich in der Zeit; von Minute zu Minute, von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat und von Jahr zu Jahr. Wir bemerken hier bereits, wie sehr (allein) die (zeitlichen) Unterscheidungen unsere Erzählhaltung und -perspektive beeinflussen. Das Leid des die Demenz Erleidenden wird in dem Maß zu unserem Leid, wie wir Anteil nehmen - erleben, wie sehr sich jemand entgleitet und letztlich aus der Hand gibt.
  • Der zweite Aspekt verschiebt die Perspektive in extremer Weise auf die Selbstbeobachtung: Wie sehr verändern die Beobachtungen uns selbst - wie sehr beeinflussen und prägen wir unsere Beobachtungen? Was ist hilfreich - was schadet bei der Bewältigung dementieller Prozesse. Und wie sehr verändern sich unsere Beschreibungen und Bewertungen in der Retrospektive? Dazu sind Tagebücher ein vorzügliches Instrument, weil sie uns - bei allen Einschränkungen - erlauben, uns selbst noch einmal zu erleben, um uns dann - just in time - in Beziehung zu setzen zu unseren seinerzeitigen Erlebnissen.

Bei dem, was ich treibe und was mich treibt, spielt natürlich meine Schwiegermutter eine zentrale Rolle. Dass sie ab dem 8. Februar auch räumlich in unserer Familie integriert wird - sie bekommt ein Zimmer in unsrem Haus, ein Treppenlifter wird installiert - bedeutet eine neue intensive gemeinsame Perspektive. Schon seitdem ich das "Demenztagebuch" führe, gibt es immer wieder aktuelle Durchschüsse, die vor allem verdeutlichen, welch Privileg damit verbunden sein kann, im Alter von fast 64 Jahren noch nicht das Plümo im Sandwich geben zu müssen. Da ist noch eine, die zu uns gehört und sogar noch lebt im generativen Nexus.

Ich will allerdings hier nicht den Eindruck erwecken, als sei ich mir nicht der Risiken bewusst. Wir haben es nicht gelernt, im generativen Miteinander zu leben - also bedeutet dies natürlich nicht nur Privileg, sondern selbstverständlich auch Herausforderung und Bewährung!

Letzte Woche habe ich meine Tante Agnes in Bad Neuenahr besucht; im 92sten Lebensjahr - die letzte aus meiner Elterngeneration im näheren verwandschaftlichen Zusammenhang. Auch hier war ich erfreut auf jemanden zu treffen, der außer normaler Altersvergesslichkeit noch keinerlei dementielle Auffälligkeiten aufweist. Das heißt, ich kann mir noch Geschichten aus erster Hand anhören und muss die weitere Vergangenheit nur bedingt erfinden. Tante Agnes hat mir noch einmal bestätigt, wie sehr ich mit "Hildes Geschichte" die Zeit und ihre historische Begleitmusik in den 40er Jahren getroffen habe. Es ist schön, dass sie noch da ist, weil sie meinem Vater sehr nahe war - eine sehr eindrückliche, warmherzige Geschwisterbeziehung, die die beiden hatten.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund