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La famille n'existe pas

Niklas Luhmann (Erziehung als Formung des Lebenslaufs, in: Dieter Lenzen/Niklas Luhmann: Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem, Frankfurt 1997, S. 11-29) versteht den Lebenslauf "als eine Beschreibung, die während des Lebens angefertigt und bei Bedarf revidiert wird". Sie schließe die vergangenheitsabhängige, aber noch unbestimmte Zukunft ein. Darüber hinaus stelle sie eine Integrationsleistung von Nichtselbstverständlichkeiten dar. Pointierter formuliert begreift Luhmann den Lebenslauf als eine rhetorische Leistung, als eine Erzählung, "dessen Komponenten aus Wendepunkten bestehen, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen". Damit begründet er gewissermaßen eine kontingenzgewärtige "Theorie des Lebenslaufs".

Den Lebenslauf als Narrativ zu begreifen, wird zusätzlich befeuert durch die triviale Erkenntnis, dass alle Erzählung zwangsläufig auf einer Vorstellung von Gedächtnis basiere, dessen operative Leistung jeweils in einem selektiven Erinnern und Vergessen bestehe.

Danach lassen sich Lebensläufe oder Familiengeschichten niemals als "objektive" Beschreibungen verstehen. Sollte jemand sich selbst oder seiner Familie auf die Spur kommen wollen, so könnte Niklas Luhmanns zusammenfassende Betrachtungsweise hilfreich sein, wonach er den aus Wendepunkten bestehenden Lebenslauf einerseits begreift als ein Medium im Sinne eines Kombinationsprogramms von Möglichkeiten und andererseits als eine von Moment zu Moment fortschreitende Festlegung von Formen, "die den Lebenslauf vom jeweiligen Stand aus reproduzieren, indem sie ihm weitere Möglichkeiten eröffnen oder verschließen".

Nach einem langen Leben ist es ein höchst anregendes Unterfangen, den eigenen Lebenslauf - eingebettet in einen familialen Rahmen -, einmal im Sinne dieses "Kombinationsprogramms" unter die Lupe zu nehmen, eine kontingenzgewärtige Lupe, die sich Luhmanns Relativitätsprogramm unterwirft, wonach vor allem die Vergangenheit nicht ein für allemal gegeben sei: "Vielmehr führt der Lebenslauf mit neuen Lagen immer auch zu einer Neubeschreibung der Vergangenheit."

La famille n'existe pas

Einleitung

In der "Familiendynamik" (2/2016, S. 183) schlägt Kurt Lüscher einen "steilen Einstieg" vor, nämlich: "'Familie' ist ein Wort... Zum Begriff wird es, indem wir es nutzen, um Sachverhalte zu bezeichnen, die wir als bedeutungsvoll erachten."

Man könnte sich in der Folge auf Ulrich Becks Idee vom "eigenen Leben" (Ulrich Beck/Ulf Erdmann: eigenes Leben - Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, München 1997) stützen (und auf so viele andere), um mit Kurt Lüscher die für die Moderne bzw. Post- oder Spätmoderne so bezeichnende Frage zu stellen:

"Doch vermag ich denn wirklich und definitiv zu wissen, wer und was 'ich' bin und sein soll? Eben diese personale Subjektivität, das 'Selbst', scheint letztlich nicht fassbar. Wir sind verwiesen auf eine Unergründlichkeit menschlichen Lebens und Erlebens, worin Offenheit zugleich Chance und Last ist und das Zweifeln immer wieder aufblitzt. Gilt dies sinngemäß auch für die 'Familie'?"

Zweifellos, möchte man antworten. Für mich spiegelt sich diese Ausgangslage absolut überzeugend in der Haltung, bei meinen eigenen Erzähl- und Rekonstruktionsversuchen nicht von "unserer" Familiengeschichte auszugehen, sondern - in aller Bescheidenheit und Hybris zugleich - von "Hildes Geschichte" zu sprechen; jener Hilde, deren naives und zugleich dramatisches wie folgenreiches Erleben und Handeln im Spätsommer 1941 bis zur Geburt ihrer Tochter im Juni 1942 den "starting point" und den Referenzrahmen für meine Erzählungen bilden.

Ich beginne also nicht mit einer Ahnentafel; die ergibt sich sozusagen aus den - teils offen zutage liegenden, teils im Verborgenen wirkenden Systemlogiken und -zwängen gleichermaßen. Mit Blick auf einen Begriff von Familie nehme ich in höchster Not wie in erfüllender Bestätigung auf Dirk Baekers "Definitionsversuch" Bezug. In der "nächsten Gesellschaft" (in: Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt 2007 - Familienglück, S. 191 und S. 205) meint er im Sinne einer dünnen Beschreibung:

"Die Familie ist der Ort, an dem man geboren wird, aufwächst und stirbt, so sehr man dann auch zeit seines Lebens damit zu tun hat, die Grenzen dieses Ortes kennenzulernen, auszuloten und zu überschreiten."

Und bei allen Ungewissheiten, die damit verbunden sind:

"Man wird jedoch als Form der Bewältigung dieser Ungewissheit wissen, dass man es genau dann mit einer Familie zu tun hat, wenn man auf Leute stößt, die Verantwortung dafür übernehmen, wie der andere geboren wird, lebt und stirbt."

Der Erzähler und seine Geschichten

Dirk Baecker reduziert auf Elementaria: Geboren werden, leben und sterben. Dahinter wird man wohl nicht zurückgehen können, wenn man überhaupt etwas Sinnvolles und Zusammenhängendes erzählen will. Der Sinn und die Zusammenhänge sind - bis auf die kruden Daten, die den Geburts- und Sterberegistern zu entnehmen sind - meine Erfindungen. Manches Mal muss man selbst um die Tatsache, dass einer geboren wurde und dass er gestorben ist, ringen wie um die arme Seele. Es wird sich zeigen, dass nichts selbstverständlich ist und der Dissens beim Ringen um Sinn und die Deutung der Zusammenhänge unausweichlich ist - frei nach der Devise, dass gesund bleibt, wer sich frei in seiner Familie bewegen kann. Damit ist eine erste Zumutung schon ausgesprochen; Zumutung im Sinne von: Habe Mut! Mut wozu? Mut, dich frei in deiner Familie zu bewegen? Noch einmal Dirk Baecker:

"Für die nächste Familie ist es sicherlich nicht sinnlos, von einem Repertoire der Möglichkeiten des Familienlebens und auch von Schemata der Familiengründung und von Skripten der Kindererziehung und Altenversorgung zu reden..."

Und was ist mit der letzten Familie; der Familie, dem Ort - wir Baecker sagt - an dem wir geboren worden sind, aufgewachsen sind und auch sterben? Lässt sich auch dafür eine Sprache finden?

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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