(M)ein neues Buch - Kurz vor Schluss
Lange war von mir in meinem Blog nichts zu lesen. Dies erklärt sich durch die abgefahrene Idee, sich noch einmal - nicht auf's Eis, sondern - auf's Papier zu wagen!
Im folgenden stelle ich die Gliederungsstruktur und die Einleitungs-Kapitel zu meinem aktuellen Publikations-Vorhaben zusammen. Es wird zu meiner Versetzung in den Ruhestand erscheinen, also zum 30. September 2017. Dazu wird es im Weingut Lunnebach - in Koblenz-Güls - auch eine Feier geben. Wer an dieser Feier teilnehmen wird - sofern er sich dazu entschließt, also Lust, Laune und Neugier mitbringt - wird es durch gesonderte Einladungsschreiben in den nächsten Wochen erfahren.
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Kurz vor Schluss - Ein Wort des Dankes
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Kurz vor Schluss – Oder: Wir müssen uns auf die Socken machen - Einleitung für die Gesamtpublikation
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Biografisches - Einleitung
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Liebe, Sex und solche Sachen - Einleitung
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Alter, Sterben, Tod und Trauer - Einleitung
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Vermischtes - Einleitung
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Schlusskapitel - Einleitung: Kurz vor Schluss
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Ganz zum Schluss
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Und danach?
1. Kurz vor Schluss - Ein Wort des Dankes
Dieses Buch verdankt sich vordergründig betrachtet zwei Ereignissen, die unmittelbar miteinander zusammenhängen: Am 21. Februar 2017 habe ich mein fünfundsechzigstes Lebensjahr vollendet, und am 30.9.2017 darf ich mich in den Ruhestand verabschieden. Das eine Ereignis scheint eher privater Natur zu sein, das andere markiert offenkundig das Ende meiner beruflichen Tätigkeit. Am 22. September 2017 gedenke ich beides mit Euch zu feiern. Beginnen wir mit dem Letzterem:
In einem Institut – auch dem Institut für Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik unter dem Dach des Instituts für Pädagogik an der Universität Koblenz-Landau am Campus Koblenz, wird man den Aufgaben und Anforderungen nur gemeinsam – gewissermaßen als Team – gerecht. Ich danke rückblickend Heinz Anton Menke, der mich 1994 an dieses Institut geholt hat. Ich danke Rudi Krawitz, dem langjährigen, jederzeit für mich offenen und Ermöglichung garantierenden Institutsleiter. Er ist – auch und besonders in Zeiten der Not – ein Freund geworden. Ich danke Reinhard Voß, der gleichermaßen das Prinzip der Ermöglichung verkörpert, und der mir – schon als Freund – 1997 den Weg nach Heidelberg zur IGST geebnet hat. Ich danke Peter Rödler für all die Anregungen und auch die kontroversen Dispute, die unsere Freundschaft lebendig halten. Ich danke Winfried Rösler, der dem Institut für Pädagogik angehörte. Unsere gemeinsamen Gespräche öffneten immer wieder Fenster und Türen, wo ich keine vermutete. Ich hoffe, das bleibt auch in Zukunft so! Ich danke Gisela Rausch und Gaby Haller. Wenn es je zutrifft, dass ein institutioneller Torso durch eine Seele atmet, dann ist es in all den letzten Jahren so gewesen, dass die beiden immer dann in unserem Sekretariat einen Feuerlöscher bereit hatten, wenn es schon lichterloh brannte. Dass Studierende auf einen beseelten Ort treffen, an dem man keine anonyme Nummer ist, verdankt sich in erster Linie der Präsenz und der wertschätzenden, kundenorientierten Haltung Giselas und Gabys! Ich danke Peter Hilger für sein großes Ohr, viele, viele gemeinsame Prüfungsmarathons und für seine Omnipräsenz in allen Organisationsfragen. Ich danke allen anderen am Institut für 23 Jahre und 92 Tage der Zusammenarbeit.
Ich will mich mit diesen Worten des Dankes auf eine Seite beschränken. So kann ich mit Fug und Recht sagen, dass das gesamte Buch sich verdankt (in seiner redaktionellen Betreuung im Übrigen Steffen Zink!!!), so wie ich mich selbst verdanke dem unendlich stabilen und feinmaschigen Netz, dass meine Familie zu einem Kokon der Geborgenheit macht. Kurz vor Schluss ist mein siebtes Buch in den letzten 15 Jahren. Die Verwirklichung meiner Splins ist nur möglich gewesen, indem alle immer für mich da waren – auf zweifache Weise: Sie tragen und stützen mich, so wie sie mich inspirieren. Ihr werdet ja sehen, wie sehr die Familie das Gestell ist, in dem und durch das alles hindurchwirkt, von Hildes Geschichte bis zu Old Love. So erscheint es in keiner Weise übertrieben oder unangemessen, dass dieses Buch sich gar nicht anders verstehen kann als ein Gesamtdankwerk; ein Dank, der meine Ahnen genauso meint und einschließt, wie meine Kinder, Nichten und Neffe, meine Schwester, meine Cousine und im Mittelpunkt die einzige Liebesperle, die mein Herz auch heute noch erobert.
Last but not least geht es um Freundschaft. Wie Ihr – auch heute, am Abend des 22.9.2017 (eingedenk des memento mori oder der Seneca, manche behaupten Horaz geschuldeten Einsicht des mors certa-hora incerta) – erleben könnt, ist das Leben ja ohne Freunde eine fade Angelegenheit. Und noch bin ich nicht so weit, wie weiland Onkel Otto, einer der Fernseh-Helden meiner Kindheit. Erstaunt und schockiert saß ich vor dem Schwarz-Weiß-Ungetüm im Wohnzimmer und beobachtete fassungslos, wie sich jener Onkel Otto – vor dem Spiegel sitzend – zuprostete und meinte: „Mit dir trink ich am liebsten!“ Glas und Spiegel lagen danach regelmäßig in Scherben. Heute Abend möchte ich ein paar dieser Scherben wieder einmal zusammenpuzzeln – wohl wissend, dass dabei kein Bild ohne Brüche, Ecken und Kanten entstehen kann, Zerrbilder und Sprünge eingeschlossen. Aber sei’s drum. Ihr alle könnt mich mal - - - drücken!
So proste ich Euch zu – nicht mit dem Appell à la Stéphane Hessel: Empört Euch! Sondernn zuprosten möchte ich Euch vielmehr mit dem Hinweis auf etwas, was nach der Empörung kommen sollte – soll sie nicht wirkungslos verpuffen oder uns gar alle fortgesetzt vergiften. So mag ich mich besinnen und auch fortan beharrlich meiner Wege ziehen – in der Familie, mit Freunden und auf dem Heyerberg (mit Hund?)!
2. Kurz vor Schluss – Oder: Wir müssen uns auf die Socken machen -
Einleitung für die Gesamtpublikation
Ich erlebe mich zunehmend als einen sentimentalen Menschen mit einer ausgeprägten Neigung zur Melancholie; wohlgemerkt weniger mit depressiven Anwandlungen einhergehend als mit der tätigen Haltung eines überaus dankbaren Zeitgenossen. Ja, ich bin mit Fulbert Steffensky der Auffassung, dass der Mensch in erster Linie ist, weil er sich verdankt. Nichts von dem, was ich habe, was ich denke – vermutlich auch nichts von dem, was ich fühle und empfinde – versteht sich von selbst. Und noch viel weniger lässt sich meine Existenz als soziales Wesen aus sich selbst heraus erklären. Aus diesen Selbstbeschränkungen resultiert vermutlich das stärkste Motiv, sich irgendwie selbst auf die Spur zu kommen. In Gesprächen gebe ich mich heute eher einsilbig. Ich habe mich aufs Schreiben besonnen. Das hat erst vor gut fünfzehn Jahren – also deutlich jenseits der Lebensmitte – begonnen: Komm in den totgesagten Park und schau – Ich sehe was, was Du nicht siehst. Seither ist ein Weg aus Wörtern entstanden. Die Anregung, sich auf den Wörterweg zu machen, kam seinerzeit von Susen Sontag, die mir mit ihrem Beispiel Mut machte – mit einer gleichermaßen optimistischen wie bescheidenen Grundhaltung:
„Man schreibt, um das zu lesen, was man geschrieben hat, um zu sehen, ob es gut geworden ist, und, da das natürlich nie der Fall ist, um es umzuschreiben – einmal, zweimal, so oft wie nötig, damit etwas daraus wird, womit man beim Weiterlesen leben kann.“
Ich empfand den Anblick weißen Papiers als lähmend und hätte vermutlich ohne diese Ermunterung viel zu früh aufgegeben, vielleicht gar nicht erst begonnen. Sie meint:
„Und auch wenn es ewig dauert und man gerade einmal mit zwei Fingern schreibt, so entsteht doch allmählich ein Weg aus Wörtern, den man weitergehen will; und dann liest man es wieder. Vielleicht traut man sich nicht, zufrieden zu sein, aber gleichzeitig gefällt einem, was man geschrieben hat. Man merkt, dass einem das, was da steht, Freude bereitet.“
Nach dem ersten chaotischen Versuch, mit dem ich den ein oder anderen in den totgesagten Park gelockt habe, habe ich einfach weitergemacht: Das Leben ein Klang und Die Mohnfrau zeugen von einer lyrischen Ader. Der Zwischenschritt – Kopfschmerzen und Herzflimmern – sollte der Selbstvergewisserung dienen. Ich wollte das eigene Driften in dieser (Beziehungs-)Welt halbwegs verstehen, sicherlich auch ein Stück weit legitimieren, um standzuhalten. Dies gilt erst Recht für Hildes Geschichte. Wie sehr wir alle sehr viel mehr unsere Zufälle als unsere Wahl sind (Odo Marquardt), für diese Einsicht steht die seit vielen Jahren anhaltende Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte. In der Tatsache, dass sie nicht zu Ende ist, liegen möglicherweise die Rechtfertigung und der ungestillte Antrieb einfach weiterzumachen. Weitermachen – wofür? Vielleicht ist das eine Frage, die ich gar nicht beantworten kann – nicht beantworten muss. Das von mir Aufgeschriebene ist eine Art Vermächtnis. Und was die anderen damit anfangen, ist in der Tat nicht mehr meine Sache. Das Verhältnis zwischen der Kriegsgeneration (die sind in meinem unmittelbaren Umfeld – bis auf meine Schwiegermutter – alle tot), den Kriegskindern und den Kriegsenkeln – die Rede ist inzwischen von den KriegsurenkelInnen (siehe weiter unten) – gestaltet sich schwierig. Dies schlägt sich auch deutlich in dem von mir seit 2014 gepflegten Blog (fj-witsch-rothmund.de) nieder. Mit den technischen Möglichkeiten des Bloggens kann ich zwar meine Schreibwut austoben, den Austausch innerhalb der Familie und innerhalb der Wahlverwandtschaft haben sie nicht beflügelt. Apropos Blog:
Diese Arbeit im virtuellen Raum hat für mich persönlich in gewisser Weise jene Revolution ausgelöst, von der ich bereits im totgesagten Park geträumt habe. Sie führt zu ungeahnten Möglichkeiten, wenn man unmittelbar – eben durch ein Netzwerk von Verweisen (Verlinkungen) – auf die Erkenntnisse, die Expertise und die Sichtweise anderer zurückgreifen bzw. verweisen kann. Wenn dies so ist, stellt sich natürlich die Frage, warum ich denn mit diesem Buch den Rückschritt aufs Papier suche, nicht Kosten und Mühe scheue, einen Packen Papier vollzudrucken, der eben nicht mehr die Vorteile des digitalen, vernetzten Raumes für sich beanspruchen kann. Die Antwort ist vermutlich typisch für einen Anfang der fünfziger Jahre Geborenen, der hoffnungslos dem Papier verfallen war und ist. Ich kann diesen Ziegelstein in die Hand nehmen und sehr viel sinnlicher Wege noch einmal gehen, die ich mit Wörtern gestaltet habe. Es ist der pure Luxus, denn alles, was hier auf Papier zu sehen ist, existiert auch im Netz – dort natürlich mit der Schärfe, die auf Verlinkungen nicht nur (durch farbliche Hervorhebungen) verweist, sondern sie vielmehr unmittelbar verfügbar macht.
Und nun ein paar Hinweise zur Struktur dieses Buches: Der lebendige Kern – sozusagen die immer noch flüssige Magma – besteht aus den biografischen Rekonstruktionen. Seit fünfzehn Jahren dient mir Niklas Luhmanns letzter, zu Lebzeiten veröffentlichter Aufsatz „Erziehung als Formung des Lebenslaufs“ (1997) als Kompass und Steinbruch gleichermaßen. Viele kennen die meinerseits immer wieder zitierte Formel: „Die Komponenten eines Lebenslaufs bestehen aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen.“ Dass dies bereits mit der Geburt beginnt, fasziniert mich, seit ich mich mit meiner Schwester gemeinsam um die Archäologie unserer Familie bemühe. Hildes Geschichte bildet das Gravitationszentrum, um das herum wir alle seit mehr als 70 Jahren driften und kreisen; man könnte auch von einem Epizentrum reden, das mit und in der Person unserer gemeinsamen Mutter für nachhaltige Erschütterungen in der Familie sorgt – bis heute. Es ist mein erster Versuch mehr auf die Seite des Erzählens zu gehen.
So dreht sich ein wesentlicher Anteil der Beiträge in meinem Blog um Familiendynamiken im weitesten Sinne. Im weitesten Sinne sicherlich auch deshalb, weil ich 25 Jahre lang Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet habe – also Menschen, die etwas über Familiendynamiken wissen sollten; mein letztes Semester endet mit dem 30. September 2017. Die Bildungswissenschaften, die ich dort vertrete, reflektieren dabei nicht nur Bildungsinhalte, Bildungsanlässe und Bildungsmittel. Sie stellen sich selbstverständlich auch die zentrale Frage, was den Menschen denn bilde. Und wenn ich an dieser Stelle Hartmut von Hentig (München 1996, S. 15) das Wort gebe, dann ganz gewiss in der Einsicht, dass uns diese Frage ein Leben lang begleitet bzw. begleiten wird, als verantwortliche Eltern ebenso wie als verantwortliche Lehrerinnen und Lehrer. Denn Hartmut von Hentig beantwortet die selbstgestellte Frage 1996 – noch vor der Enthüllung des Missbrauchsskandals an der Odenwaldschule – angesichts eigener, wenn auch nur mittelbarer Betroffenheit und Verstrickung:
„Stellte mir jemand diese Frage, ich antwortete, ohne zu zögern und mit dem – seltenen – Gefühl, etwas unanfechtbar Richtiges zu sagen: ‚Alles!‘ – Alles, selbst wenn es langweilt oder gleichgültig lässt oder abschreckt. Dann ist dies die bildende Wirkung. ‚Alles‘, weil der Mensch ein – wundersam und abscheulich – plastisches Wesen ist: veränderbar, beeinflussbar, reduzierbar, steigerungsfähig auch gegen seinen Willen, gegen seine Einsicht, gegen seine Natur. Er lässt sich durch geeignete Maßnahmen dazu bringen, Gewichte von zwei Zentnern zu stemmen, mit Hurra in den Tod zu stürmen, sich – auch angesichts einer überwältigenden Lebensmittelfülle – von Körnern oder Salatblättern zu ernähren, sich – unter Qualen – Sonnenbräune zuzulegen wie auch – mit komplizierten Vorsichtsmaßnahmen oder unter Entbehrungen – diese zu vermeiden. Eine einzige Geste eines anderen, in seinem Gemüt gespeichert, kann ihn ein Leben lang mit Eifersucht oder Hass oder Hypochondrie erfüllen, ein einziges Wort ihn mit Sehnsucht oder Heilsgewissheit oder Verblendung schlagen. Der Mensch hat aus diesem Grund als einziges Lebewesen Geschichte. Anders als die übrige Kreatur ist er fast unbegrenzt auf Formung angelegt. Ist diese gewollt, nennt man sie Bildung.“
Wer sich öffentlich äußert, muss damit rechnen, dass ihn die eigene Melodie bis ins höchste Alter und darüber hinaus begleitet.
Hinter allem, was Ihr fortan hier lesen könnt, stecken also Geschichte und Geschichten: Familiengeschichten; Geschichten über Freundschaft, Liebe und Sex; Geschichten über Tod, Trauer und Sterben; Erkenntnisgeschichten; Geschichten über Geschichten.
Die Intensität der Färbungen dieser Geschichten hängt ab von der jeweiligen Distanz zwischen Beobachter und Gegenstand. Der Beobachter bin ich, hinsichtlich der Beobachtungsinstrumente mache ich unendlich viele Anleihen. Im Blog ergeben sich im Netzwerk der Verweise unmittelbare Zugänge; auf Papier treten sie lediglich farblich hervor.
Der bunte Strauß an Verweisen lichtet sich enorm, wenn ich deutlich mache, auf wen sich mein Weltbild – mein Bild von der Welt und was ich darin suche bzw. zu suchen habe, stützt. Die meisten sind tot, wenn auch erst jüngst verstorben – Niklas Luhmann (1998), Karl Otto Hondrich (2007), Odo Marquardt (2015), Ulrich Beck (2015): Niklas Luhmann mit seiner bescheidenen, kontingenzgewärtigen Vorstellung davon, wie das Leben so läuft (1997); Karl Otto Hondrich, der – alterweise geworden – Geborgenheit, Bindung und Zugehörigkeit – ebenfalls wenige Jahre vor seinem Tod – selbstkritisch und sentimental gleichermaßen überdenkt und mir ins Langzeitgedächtnis eingeschrieben hat; Odo Marquardt, der mir – humorvoll und selbstironisch – mit der Apologie des Zufälligen die Brille aufsetzt, mit der ich immer die Grenzen des Verstehens vor Augen habe; Ulrich Beck, dessen Frage mich seit 1997 begleitet, ob man der grassierenden Egoismus-Epidemie, dem Ich-Fieber wohl noch durch Ethik-Tropfen, heiße Wir-Umschläge und tägliche Einredungen auf das Gemeinwohl beikommen könne. Liest man seine posthum (2017) veröffentlichte „Metamorphose der Welt“, beschleichen einen nachhaltige Zweifel; Zweifel, die für mein eigenes Leben desto mehr Nahrung erhalten, je älter ich werde.
Bernhard Schlink hilft mir als Schriftsteller (Der Vorleser) und als Staatsrechtler (Auslegung Art. 103 GG) mit der von Sönke Neitzel und Harald Welzer vertretenen Theorie des Referenzrahmens behutsam und verantwortlich umzugehen. Der hier abgedruckte Beitrag Hanna Schmitz und Franz Streit - Bernhard Schlink (Mediation) und Michael (Berg) legt in seiner mäandernden, unabgeschlossenen Rohfassung ein beredtes Zeugnis davon ab. Ich bin nach wie vor auf dem Weg. Insofern sich in diesen Tastversuchen Unabgeschlossenes, also auch Lebendig-Dynamisches offenbart, sollte ich wohl stärker den Kontakt zu den weiter oben genannten KriegsurenkelInnen suchen. Christina Hunger/Laura Klewinghaus/Friederike Küsche weisen in der Familiendynamik 2/17 darauf hin, dass von ihnen Befragte – geboren in den späten 1970er bis frühen 1990er Jahren – mit der Bezeichnung KriegsurenkelInnen die Erfahrung verbinden, Interesse an der Geschichte ihrer Großeltern und Urgroßeltern zu haben und diese kritisch zu ihrer Lebensgeschichte zu befragen (das sind meine eigenen Kinder und Nichten – außerdem habe ich noch einen Neffen, aber der gehört als 1962 Geborener einer anderen Generation an):
„Ähnlich wie von Schwarzer (2015) formuliert, erlebten sie (die KriegsurenkelInnen, Verf.) sich als zwar betroffen, jedoch nicht selbst traumatisiert. Deshalb sei es für sie unproblematischer, über die damaligen Geschehnisse zu reden. Es gehe weder um Anklagen noch um Rechtfertigungen, sondern um Aufklärung, Transparenz und Nachvollziehbarkeit.“
Die KriegsurenkelInnen definieren damit recht präzise zumindest meine vordergründigen eigenen Motive für diese intensive Auseinandersetzung und Aufarbeitung; mit Blick auf den Dschungel, der die eigene Herkunft umgibt und durch den wir uns Wege bahnen – in der Hoffnung auf ein wenig mehr der Transparenz und des Verstehens.
Für das Vermessen des sozialen Raumes – insofern es um Liebe, Sex und solche Sachen geht – habe ich mir vor mehr als zehn Jahren Zeit und Raum genommen (Kopfschmerzen und Herzflimmern); davon zeugt im Übrigen auch ein eigenes Menü innerhalb meines Blogs. Neben den großen Geistern würden bei einer Häufigkeitsauszählung der zitierten Referenzautoren innerhalb des Bloggeschehens auch Uli Clement und Arnold Retzer – neben Peter Fuchs – mit einer erklecklichen Anzahl von Nennungen auftauchen. Für die Vermessung des sozialen Raumes hält Arnold Retzer – wie kaum jemand – eine Fülle von Anregungen bereit. Er erläutert und vertritt Grundlagen und Praxis der systemischen Paartherapie gleichermaßen; er beleuchtet den sozialen Modus der Freundschaft aus allen erdenklichen Perspektiven und lotet Grenzregionen präzise aus. Ich verdanke ihm eine Art Kompass, der allerdings manchmal verrückt zu spielen scheint, wenn man selbst mitten auf dem Nordpol steht, ohne es zu wissen. Die Bühnendekoration zu alledem stammt im Übrigen von Peter Sloterdijk, der mit seinem Erototop sozusagen den Raum absteckt, in dem sich Beziehungswelten zwischen Eros, Philia und Agape entfalten.
Arnold Retzer ist es im Übrigen auch, der den Zeitgeist attackiert mit seiner Streitschrift gegen positives Denken (Frankfurt 2012). Darin (S. 41) findet sich die lapidare Feststellung, dass wir alle sterben werden:
„Die statistische Todeserwartung liegt in Deutschland für Männer etwa beim 77. Lebensjahr und für Frauen etwa beim 82. Lebensjahr. Das Sterben wird mit einer 50%igen Wahrscheinlichkeit im Krankenhaus stattfinden. Bezeichnenderweise taucht der Begriff Todeserwartung in den Statistiken nicht auf, sondern der der Lebenserwartung. Haben wir die Hoffnung, der Tod werde vielleicht schlussendlich doch vermeidbar sein?“
Nein, diese Hoffnung – sofern sie je mein pubertäres Denken umfangen hat –, hat sich mit dem Tod meiner Großeltern, meiner Eltern, meines Bruders und schon vieler meiner Freunde verflüchtigt. Er ist allgegenwärtig. Angesichts dieser Allgegenwärtigkeit nimmt er auch nachhaltigen Einfluss auf meine alltägliche Arbeit an der Uni. So hinterlässt er auch in der Zusammenstellung der hier ausgewählten Beiträge seine Spuren. Sie spiegeln sich im Diskurs über den Umgang mit Sterben, Tod und Trauer in der Gegenwartsgesellschaft, so wie sie unmittelbar die alltägliche Auseinandersetzung mit Alter, Krankheit und Sterben verdeutlichen - bis hin zur Totenrede im Andenken uns naher Verstorbener.
Die Geschichten, die ich erzähle, die Diskurse an denen ich mich beteilige, werden dementsprechend hier in vier großen Kapiteln und zwei Zugaben zusammengestellt:
Biografisches
Liebe, Sex und solche Sachen
Alter, Sterben, Tod und Trauer
Vermischtes
Kurz vor Schluss
Ganz zum Schluss
Dem Vermischten kommt die fundamentale Aufgabe zu, das Gedachte, Ersonnene und Kommentierte einzunorden – ja man könnte auch sagen, es einzuordnen. Es geht um den grundsätzlich vernachlässigten Anspruch die erkenntnistheoretischen und –praktischen Bedingungen unseres Denkens und Handelns transparent zu machen – soweit es irgendwie geht; immer eingedenk der blinden Flecken, die uns wie eine Horizontverschiebung begleiten. Denn, dass wir nicht sehen können, dass wir nicht sehen können, was wir nicht sehen können – das ist die Definition des blinden Flecks (Norbert Bolz).
Kleine Randbemerkung: Wenn der ein oder andere Beitrag dieser Sammlung dem ein oder anderen sperrig und unverständlich vorkommt, dann vermag ich das nicht zu ändern. Dass ich mich partiell auch kritisch mit meiner Profession auseinandersetze, ist mir ein Urbedürfnis. Jetzt – wo mich Bologna – endlich (in meinem letzten Semester) eingeholt hat, überwiegt große Erleichterung, nun auch endlich gehen zu dürfen bzw. zu müssen. Ja, lieber Reinhard (Voß), Du hast Recht behalten. Bologna ist in seinen Auswirkungen überaus fatal – für uns, die wir einer anderen Idee von Universität anhängen. Die jungen akademischen Wortführer, sofern sie das Wort überhaupt noch nehmen, sind selbst schon Bologna-sozialisiert und halten das partiell für normal, was uns unsinnig erscheint: Das ganze Leben ist ein Spiel, und wir sind nur die Kandidaten (im Losverfahren)! Diese Einsichten resultieren aus unterschiedlichen Sozialisationskontexten. Erkenntnispraktisch gilt die schlichte Grundregel, dass die Verhältnisse desto undurchsichtiger sind, je abstandsärmer das Brett vor dem eigenen Kopf steht. Solange es nicht angenagelt oder mit Intensivklebern festgepappt ist, hilft mir manchmal das Zurücktreten. Manchmal helfen schon zwei, drei Schritte, um den Blick zu weiten und zu schärfen!
Apropos blinde Flecken und kurz vor Schluss: Die Präsentation dieses Buches findet am 22.9.2017 in Koblenz-Güls (im Weingut Lunnebach) statt; zwei Tage vor der Wahl zum 19. Deutschen Bundestag und acht Tage vor meiner Versetzung in den Ruhestand. Und es geht nicht nur ums Denken und Argumentieren. Einer meiner letzten Beiträge innerhalb meines Blogs trägt die Überschrift: Et hätt noch immer jot jejange und setzt sich mit der Leitfigur meiner frühen akademischen Laufbahn – Jürgen Habermas – auseinander. Was den unsäglichen Populismus – auch deutscher Prägung – angeht, gibt uns der fast 90jährige Philosoph noch einmal ordentlich Wasser auf die Mühlen einer kämpferischen demokratischen Grundhaltung. Denn 65 Jahre mitten in Europa, in einer der friedlichsten, zivilisiertesten Regionen dieses Planeten leben zu dürfen, betrachte ich als Privileg und Verantwortung gleichermaßen. In den von Jürgen Habermas mitherausgegebenen Blättern für deutsche und internationale Politik (11/16) äußert er sich zum Umgang mit Rechtspopulisten in der Absicht politische Gegensätze wieder kenntlich zu machen; auch den Gegensatz zwischen der – im politischen und kulturellen Sinne ‚liberalen’ Weltoffenheit der linken und dem ethnonationalen Mief der rechten Globalisierungspolitik: Die demokratischen Parteien dürften für den Umgang mit Leuten, die Begriffe aus dem Wörterbuch des Unmenschen wie Volksverräter, entartete Politik oder Umvolkung bzw. des Völkischen wieder hoffähig machen wollten, nur eine Lehre ziehen: „Sie sollten diese Art von ‚besorgten Bürgern’, statt um sie herumzutanzen, kurz und trocken als das Abtun, was sie sind – der Saatboden für einen neuen Faschismus.“
Dies ist ein angemessener Appell in Zeiten, die uns daran erinnern, was wir zu verlieren haben!
Kurze Gebrauchsanweisung zur Navigation im Buch:
Jedem einzelnen Kapitel wird eine Einleitung vorangestellt. Diese Einleitungskapitel versuchen den gemeinsamen Fokus der zusammengestellten Beiträge zu vermitteln. Zu einzelnen Beiträgen – wo ich es für unerlässlich bzw. für hilfreich halte – gibt es sachdienliche Hinweise bzw. kontexterhellende Informationen. Alle Beiträge sind mit fortlaufenden Ziffern versehen, so dass Querbezüge bzw. Querverweise und das unmittelbare Auffinden mit Hilfe dieser Ziffern erfolgen können. Interessierten Lesern wird auffallen, dass ich häufig mit längeren Originalzitaten arbeite. Ich weiß, wo ich herkomme, und ich kenne bzw. ahne meine Grenzen. Manche Zusammenhänge lassen sich einfach nicht anschaulicher, präziser oder ganz einfach origineller formulieren, als es einzelnen Autoren gelungen ist. Insofern drücken sich in dieser Praxis mein Respekt und meine Faszination gegenüber gelungener Autorenschaft aus. Die vorliegende Publikation stellt sich nicht in erster Linie wissenschaftlichen Standards. Zitierungen sind allerdings in der Regel belegt oder aber so einschlägig, dass sich dies erübrigt. Es gibt kein gesondertes Literatur- und Quellenverzeichnis. Referenzliteratur und Zeitungsartikel werden im unmittelbaren Kontext ihrer Bezugnahme belegt.
Schließlich und endlich möchte ich abschließend mit Dieter Lenzen – als er noch auf der Höhe seiner Möglichkeiten argumentierte – betonen, dass sich über die Welt nichts Objektives sagen lässt. Und dennoch fragt man sich manchmal, warum wir alle die Chance zur eigenen Entblödung so selten nutzen. Ein Diskurs, bei dem ich mich immer in der Defensive sehe, hängt zum Beispiel mit der Vorstellung zusammen, dass es auf der Erde langsam aber sicher zu warm wird und dass unsere Neigung zur kinetischen Verschwendung und unsere touristischen Launen (beide Begriffe sind Begriffsschöpfungen Peter Sloterdijks) etwas damit zu tun haben könnten. Aber wovon die einen leben, daran verrecken die anderen! Seit der Kritik der zynischen Vernunft wissen wir ja spätestens, dass auch die Vernunft immer nur die eine Vernunft ist (siehe Einleitung zum Kapitel Vermischtes). So meint denn auch Dieter Lenzen schlicht, indem er Niklas Luhmann seine Referenz erweist, dass jede Form der Repräsentation von Außenwelt nie etwas anderes ist und sein könne als eine Form der Selbstrepräsentation. Menschen denken nicht nur grundsätzlich, was sie denken; sie tun auch immer nur, was sie tun – in unaufhebbarer Selbstreferenz. Was bedingt hilft? Selbst-Desinteressierung und Abstand nehmen; vielleicht so viel Abstand, wie sie Blaise Pascal empfohlen hat. Aber dann säßen wir heute Abend in unseren Zimmern und ich müsste den vorzüglichen Moselriesling alleine genießen. Und das wäre – weiß Gott – nur ein halber, ein schaler Genuss.
An der letzten Passage kann man doch wieder einmal sehr gut nachvollziehen, wie sehr man sich verlieren kann. Eröffnet habe ich diese Einleitung mit dem Hinweis, dass der Mensch sich verdankt. Seinen Eltern zu danken, versteht sich für manchen – hoffentlich für die meisten – von selbst; so auch für mich. Seinem Partner zu danken, das kommt selten zu früh, aber oft zu spät. Aus all den Menschen, denen ich danke, möchte ich heute und im Rahmen dieses Buches an jemanden erinnern, ohne den es dieses Buch und ganz sicher auch diese Feier nicht gegeben hätte; jedenfalls nicht im Sinne einer Verabschiedung aus dem Hochschuldienst: 1978 hat mich ein kleiner, energischer Mann gefragt, ob ich bei ihm als studentische Hilfskraft arbeiten möchte. Dieser kleine, energische Mann – Prof. Dr. Heino Kaack (der leider allzu früh schon 1998 verstorben ist) – hat mich über sechs Jahre begleitet und gefördert; ohne ihn – im Verein mit Prof. Dr. Anton Menke (und Heino Kaacks seinerzeitigen Assistenten, Prof. Dr. Ulrich Sarcinelli) – kein Diplom, keine Promotion und auch keine Versetzung in den Hochschuldienst. Ja, das war damals, als mein Selbstbewusstsein noch ungebrochen und meine Hybris vorwärtstreibend war. Vierzig Jahre später kann ich mit Odo Marquard feststellen, dass wir alle miteinander weit mehr unsere Zufälle als unsere Wahl sind. Aber dort, wo ich die Wahl hatte, habe ich die richtige Wahl getroffen! So auch in Erwartung des kommenden Sonntags. Von meinem Wahlrecht habe ich selbstverständlich Gebrauch gemacht und per Briefwahl mit dafür gesorgt, dass die Alternative für Deutschland uns kein X für ein U vormacht. Das hätte ganz sicher auch Heino Kaack gefreut.
Apropos Heino Kaack: Er war – ähnlich wie Winfried Rösler – einer der profundesten und kenntnisreichsten Fußballexperten, die mir jemals begegnet sind. Vermutlich hatte ich bei ihm spätestens einen schwergewichtigen Stein im Brett, als wir mit unserem Projekt-Team PALEPS (das Kürzel für das von Heino Kaack geleitete DFG-Projekt „Parteiensystem und Legitimation des politischen Systems“) 1984 die Hochschulmeisterschaft im Fußball gewinnen konnten – unvergesslich mit Dr. Georg Döhmen, Dr. Werner Simon, Michael Feltens, Herbert Wackermann und unvergessen mit meinem verstorbenen Bruder Wilfried Witsch (soeben, am 16.6.17, erhalte ich vom meinem ehemaligen Archiv-Kollegen, Werner Simon, der offensichtlich akribisch Buch geführt hat, den Hinweis, dass wir bereits 1983 den ehrenvollen 3. Platz von immerhin 24 teilnehmenden Mannschaften errungen haben und an unseren überraschenden Erfolg von 1984 drei Jahre später mit einem 4. Platz erinnerten. Mit diesen Hinweisen wird mir nun auch erinnerlich, dass dem siegreichen Team 1984 nicht Dr. Georg Döhmen angehörte, sondern Thomas Erlemann, während Prinz George 1987 - übrigens neben Detlef Knopp, so durch Werner Simon verbrieft, dann das Team "Forever young" zum 4. Platz schoss!).
Da dieses Buch – wie alle meine Bücher – ein chaotisches Buch ist, bleibt mir zum Schluss nur noch der Hinweis, dass es sich beharrlich weigert, zu Ende zu gehen; in Gestalt meines Blogs wird es ja auch weitergehen. Aber auch in diesem Buch soll die vergangenheitsabhängige, aber offene Zukunft bis zuletzt gestaltungsmächtig bleiben. Im abschließenden Sammel-Surium-Kapitel Kurz vor Schluss nehme ich alles auf, was mir noch bis kurz vor dem unvermeidbaren Redaktionsschluss vor die Augen fällt und dabei Eindruck macht – guten wie schlechten Eindruck! Bevor ich dann tatsächlich Ganz zum Schluss komme.
Es folgen die Einleitungen zu den Kapiteln und der Vorabdruck des Schlußkapitels Ganz zum Schluss:
3. Biografisches –Einleitung
Der einzige, der mich für komplett verrückt hält, bin vermutlich ich selber – verrückt auf eine milde, scheinbar beherrschbare Weise. Als ich 2004 an Kopfschmerzen und Herzflimmern arbeitete, bewegte ich mich reflexiv bereits lange auf Niklas Luhmanns Version einer Lebenslauftheorie. Deshalb eröffne ich das Biografische auch mit jenem Text, der mich bereits seit mehr als 15 Jahren begleitet, und der mir mit seiner Wendepunktphilosophie jederzeit die Chance eröffnet, meine eigene Verrücktheit und die Unberechenbarkeit des Lebens in meine eigenen biografischen Rekonstruktionen und Phantasien zu integrieren. Es steht ja schon in der Einleitung zu diesem Buch: Die Komponenten eines Lebenslaufs bestehen aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Wendepunkte lassen sich in der Regel rückblickend mühelos identifizieren. Manche sind sogar vorhersehbar – wenn alles einigermaßen normal verläuft:
Einschulung, Schulabschluss, der Beginn von Ausbildung oder Studium und wiederum deren Abschluss, eine Berufskarriere, ganz sicher Heirat und die Geburt von Kindern. Gleichzeitig überraschen uns Ereignisse, die sich (vielleicht erst) im Nachhinein als Wendepunkte herausstellen: Wir verlieben uns – manchmal auch zur Unzeit (und geraten regelrecht in Klemmen) oder jemand, der uns nah – äußerst nahe – ist, stirbt: plötzlich und unvermittelt oder auch nach längerer, nach langer Krankheit. Wir werden mit der Endlichkeit der uns Nahen und zwangsläufig mit unserer eigenen Begrenztheit konfrontiert. Oder jemand verlässt uns und kränkt uns zutiefst, und er tut uns nicht einmal den Gefallen, dabei die Seite zu wechseln, sondern er lebt weiter mit anderen und für andere. Das ist häufig im wahlverwandtschaftlichen Kontext der Fall. Verwandte hingegen werden wir nicht wirklich los – auch wenn sie gehen. Manch einer sieht oder erlebt sie – wie mein Ex-Schwager immer zu betonen pflegt – als von Gott gegebene Feinde. Eine Haltung, die man gewiss nicht unbeschadet für sich reklamiert.
Kehren wir zurück zu Kopfschmerzen und Herzflimmern (S. 250-257). Dort berichtet mein alter Ego, Adrian Nemo, über eine nachhaltige Begegnung mit Max Frisch im Jahre 2004 – mitten in Zürich. Ja, ja, ist schon klar – auch Adrian weiß, das Max Frisch bereits 1991 die Seiten gewechselt hat. Sei’s drum. Adrian erhält von Max Frisch einen Brief, in dem er erläutert, warum Biografie eben kein Spiel ist. Man habe ihn oft gefragt, ob dieses Stück („Biografie: Ein Spiel“) nicht gerade den Beweis erbringe, dass es sehr schwer sei, eine bestimmte Biografie loszuwerden und dass die Möglichkeit, sein Leben nachträglich zu revidieren, selbst auf der Bühne nur in bescheidenen Ausmaßen gelinge. Er – Max Frisch – sei geradezu bestürzt angesichts der Erfahrung, dass ein Mensch, wenn er nochmals anfangen und nochmals wählen könne, eben keine ganz andere Geschichte vorlege – vielleicht etwas ganz und gar Verblüffendes, so dass er kaum wiederzuerkennen sein würde. Das erwarte doch wohl jeder, der sagt: Wenn ich nochmals anfangen könnte…!
Nun ja – in der Einleitung zum Buch habe ich bereits betont, dass ich Odo Marquardts Einsicht folge, dass wir allesamt weit mehr unsere Zufälle als unsere Wahl sind. Um (s)ein Leben als ein planvolles zu begreifen und vielleicht auch zu erzählen, muss man entweder ziemlich skrupellos oder grenzenlos dumm erscheinen. Allein in diesem Spannungsraum kommt es einem als Gipfel der Naivität vor, wenn einer der Großen der Weltliteratur – eben jener Max Frisch – mit über sechzig Jahren seine „poetische Lebensbilanz in Form einer Selbstbefragung: Liebe, Eifersucht, Schuld, Altern…“ mit folgender Einleitung aus Michel Montaignes Essais versieht:
„Dies ist ein aufrichtiges Buch, Leser, es warnt Dich schon beim Eintritt, dass ich mir darin kein anderes Ende vorgesetzt habe als ein häusliches und privates… Ich habe es dem persönlichen Gebrauch meiner Freunde und Angehörigen gewidmet, auf dass sie, wenn sie mich verloren haben, darin einige Züge meiner Lebensart und meiner Gemütsverfassung wiederfinden… Denn ich bin es, den ich darstelle. Meine Fehler wird man hier finden, so wie sie sind, und mein unbefangenes Wesen, so weit es nur die öffentliche Schicklichkeit erlaubt… So bin ich selber, Leser, der einzige Inhalt meines Buches; es ist nicht billig, dass Du Deine Muße auf einen so eitlen und geringfügigen Gegenstand verwendest. / Mit Gott denn, zu Montaigne, am ersten März 1580.“
Montauk – im Klappentext lesen wir: „Montauk – das ist der indianische Name der Spitze von Long Island. In dieser Abgeschiedenheit verbringt der Erzähler (mit großer autobiografischer Nähe zu Max Frisch) ein Wochenende mit Lynn, einer dreißig Jahre jüngeren Amerikanerin, die er auf einer Lesereise in New York kennengelernt hat. Die Episode dieser Altersliebe wird zum Anlass, vergangene Erfahrungen und verdrängte Gefühle assoziativ Revue passieren zu lassen."
Ich stelle Max Frisch nur kurz die Frage, ob er sein Leben so geplant hat und ob er je die Idee hatte, etwas davon zu revidieren (2017, 26 Jahre nach dem Tod Max Frischs lässt Volker Schlöndorff Nina Hoss die Hauptrolle in Montauk interpretieren und erweitert den kontingenten Verlauf der Geschichte Max Frischs um eine weitere Facette). Max Frisch selbst gibt interessante Antworten: Das Triviale zuerst:
Auf Seite 103 der Spiegel-Edition von Montauk (2006/2007) bemerkt der Max-Frisch-Erzähler lakonisch:
„Sein Körper lässt ihn empfinden, dass er im Augenblick da ist. Manchmal fragt er sich beiläufig, was er mit seinen Jahrzehnten eigentlich gemacht hat.“
Was hat er gemacht?
Unter den vielen Vermerken mit der Selbstvergewisserung „My Life as a man“ (Philipp Roth entlehnt, der ihm – Max Frisch – die Erstausgabe in New York by the way überreicht) steht auf Seite 88:
„Wenn ich zufällig in einem Konzert-Foyer zum Beispiel, die Mutter meiner Kinder sehe: ihr Gesicht, scheu mit einem Zug von Harm, der schon immer gewesen ist, ein gutes Gesicht, in den späten Jahren sogar offener, aber für immer ein Gesicht voll betroffener Unschuld – bin ich betroffen; ich sehe sie mit Hochachtung und verwundert, dass ich der Vater ihrer drei Kinder geworden bin.“
Max Frisch widmet seinem Schulfreund W. gut 15 Seiten (S. 25-40) der Referenz mit ernüchterndem Resümee: Er erinnert sich jenen Freund W. vor Jahren in Zürich zufällig auf der Straße (Limmatquai) „von weitem“ gesehen zu haben. Ob er ihn – Max Frisch – ebenfalls gesehen hat, bleibt offen. Jedenfalls unternimmt Max keine Anstrengungen, jenen Freund zu erreichen, ihm überhaupt zu begegnen. Denn – fragt er sich: „Was soll W. mit meiner lebenslänglichen Dankesschuld?“ Wir erfahren im Verlauf seiner Erinnerungen, dass jener Freund W. – aus reichem Hause – ihm sein ganzes Studium bezahlt hatte: „Später hat W. mir ein ganzes Studium bezahlt: 16 000 Franken (was damals mehr wert war als heuer) für vier Jahre; also 4000 Franken im Jahr.“ Zehn Seiten später (S. 40) kommt Max zu der Schlussfolgerung:
„Die Summe, die mir seinerzeit ein Studium ermöglicht hat, habe ich nie zurückerstattet; es hätte ihn verletzen müssen, denke ich, es hätte seine Generosität sozusagen annulliert. Als ich W. neulich in Zürich erkannt habe, bin ich betroffen gewesen: Bewusstsein von Dankbarkeit, kein Gefühl. Ich habe ihm auch nicht geschrieben, dass ich ihn auf der Straße erkannt habe. Heute interessiert es mich nicht einmal mehr, was W. über unsere lange Geschichte denkt. Das vor allem macht mich betroffen. Ich meine, dass die Freundschaft mit W. für mich ein fundamentales Unheil gewesen ist und dass W. nichts dafür kann. Hätte ich mich ihm weniger unterworfen, es wäre ergiebiger gewesen, auch für ihn.“
Ja, wie in der Einleitung zu diesem Buch schon zentral mit Fulbert Steffensky gesetzt: „Der Mensch ist, weil er sich verdankt.“ Manchmal reicht diese Einsicht – aber in der Regel nicht ohne die handelnde, bekennende Konsequenz aus dieser Einsicht! Sonst droht Unheil! Denn der Mensch ist, weil er sich verdankt.
Einsichten begleiten die intime Selbsterforschung Max Frischs fortwährend (S.160):
„Ich bin jetzt älter geworden als mein Vater und weiß, dass die durchschnittliche Lebenserwartung demnächst erreicht ist. Ich will nicht sehr alt werden. Meistens bin ich mit jüngeren Leuten zusammen; in sehe den Unterschied in allem, auch wo sie vielleicht keinen Unterschied sehen können, und manches lässt sich nicht erklären; dann rede ich auch von Arbeitsplänen. Unter anderem weiß ich, dass es sich verbietet, einer jüngeren Frau an diese meine Zukunft binden zu wollen.“
Der letzte Nachmittag mit Lynn – in Montauk – klingt mit folgenden Sätzen aus (S. 162):
„Wir mussten jetzt nur noch den genauen Ort finden, wo man sich trennt, und auf den Verkehr achten; wir nahmen uns an der Hand, als wir die Avenue zu überqueren hatten, und liefen. FIRST AVE / 46TH STREET, das war der Punkt offenkundig, wir sagten: By, kusslos, dann ein zweites Mal mit erhobener Hand: HI. Nach einigen Schritten ging ich an die Ecke zurück, sah sie, ihre gehende Gestalt; sie drehte sich nicht um, sie blieb stehen, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie die Straße überqueren konnte.“
Der Lebenslauf besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Den eigenen Lebenslauf durch diese Brille zu betrachten, bringt uns (vielleicht) ins Grübeln. Die Aussetzung durchs eigene Schreiben liegt hinter mir – nicht ganz. Sie wird natürlich auch mit diesem Buch fortgesetzt. Aber so etwas wie eine poetische Lebensbilanz habe ich ja bereits hinter mir – Das Leben ein Klang und Die Mohnfrau sind enthüllend in ausreichendem – manche würden sagen in einem bedenklichen, vielleicht sogar erschreckendem Maß. Man kann daran anknüpfen; man könnte sogar darüber reden. Aber warum sollte man? Auch wenn es überaus paradox klingt: Selbst-Aussetzung und Selbst-Desinteressierung sind zwei Seiten ein- und derselben Medaille.
Was ich nicht hinter mir habe, sondern was vor mir war, was gegenwärtig ist, was in mir ist und nach mir sein wird, wird definiert und bestimmt durch das Geflecht aus dem, was andere getan und versäumt haben; es wird bestimmt durch das, was ich getan und versäumt habe. Und es tritt in Erscheinung durch die Erzählungen, die innerhalb des verwandtschaftlichen und wahlverwandtschaftlichen Netzwerks Gestalt annehmen – oder eben auch nicht. So wird in diesem Buch die wahlverwandtschaftliche Dimension in Gestalt von Freundschaften eine zentrale Rolle einnehmen – aber dieses Mal eher theoretisch.
Aus blutsverwandtschaftlicher Perspektive steht in diesem Buch – wie schon in der Einleitung betont, Hildes Geschichte im Mittelpunkt. Sie ist in der Folge bzw. in den Folgen auch meine Geschichte; sowohl in ihren singulären als auch in ihren individuellen Ausprägungen. Aber sie ist auch eine – stellvertretend – kollektiv zu erzählende Geschichte; von der Macht des Zeitgeistes und von der Verantwortung der in ihrem Geist Handelnden. So ist Hildes Geschichte ja nicht zuletzt auch ein zeitgeschichtliches Lehrstück, dessen Auswirkungen und Lehren bis in die unmittelbare Gegenwart reichen.
Natürlich wird Biografisches – je älter man wird – auch zu einer Geschichte von Verlusten. Aber dies ist ja nur die eine Seite. Die andere bleibt dem Leben zugewandt, solange es weitergeht. Kindheit, Jugend, die erste Liebe und die Liebe(n) danach, berufliche Erfolge und Misserfolge, Familie und eigene Kinder, die Sorge, die Fürsorge und die liebevolle Zuwendung nicht nur mit Blick auf die Kinder, sondern zunehmend mit Blick auf die eigenen Eltern, stecken den Rahmen ab für einen Lebenslauf. Und ich bekenne an dieser Stelle durchaus, dass nicht jeder den Mut hat, den eigenen Lebenslauf an sich heranzulassen – ihn zu betrachten unter dem Aspekt der Wendepunkte, die ihn ausmachen und ihm sein besonderes Gepräge geben. Hier kann man Vieles versäumen. Mit 65 kann man diesem Blick zurück aber nicht ausweichen; zumindest ich kann und will ihm nicht ausweichen. An der Lebenslauftheorie Niklas Luhmanns hat mich von Anfang an die These fasziniert, dass vor allem auch die Vergangenheit nicht ein für allemal gegeben ist. Und seltener ist Luhmann konkreter und redseliger geworden als in diesem letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Aufsatz. Eine meiner Lieblingsstellen:
„Vor allem ist die Vergangenheit nicht ein für allemal gegeben. Vielmehr führt der Lebenslauf mit neuen Lagen immer auch zu einer Neubeschreibung der Vergangenheit. Nach der Scheidung findet man sich wieder als jemand, der erreicht hatte, was er gewünscht hatte, und dann einsehen mußte, dass es nicht so gut war, wie er gedacht hatte.“
Für die Neigung, Widersprüche – vor allem im eigenen Lebenslauf – zu glätten oder zumindest erträglich zu halten, erfinden Menschen Inkonsistenzbereinigungsprogramme. Denn die Beschreibung „Lebenslauf“ – so Luhmann – zwinge zu ständigen Neu- und Wiederbeschreibungen mit jeweils neuen Kompromissen zwischen Kontinuität und Diskontinuität. Man versuche sich zu erklären, weshalb man so geworden ist, wie man sich vorfindet; aber nichts garantiere, dass diese Beschreibung auch morgen noch überzeuge. Da kommt es durchaus auch schon einmal vor, dass die Revision von Heirat durch Scheidung mit Abstand bei dem ein oder anderen zu dem Gedanken führt, auch die Scheidung möglicherweise durch Wiederverheiratung zu revidieren; manchmal sogar mit demselben Partner – so bei Richard Burton und Liz Taylor. Aber bei allem Driften in dieser Welt kann man doch mit Niklas Luhmann so viel an Einsichten mitnehmen, dass man wissen kann:
„Der aus Wendepunkten bestehende Lebenslauf ist einerseits ein Medium im Sinne eines Kombinationsprogramms von Möglichkeiten und andererseits eine von Moment zu Moment fortschreitende Festlegung von Formen, die den Lebenslauf vom jeweiligen Stand aus reproduzieren, indem sie ihm weitere Möglichkeiten eröffnen und verschließen.“
Und zu guter Letzt spendet uns die Sichtweise Niklas Luhmanns Trost und Ansporn gleichermaßen, denn im Lebenslauf präsentiere sich das Individuum selbst in seiner Individualität, in seinem Anderssein, in seiner Unvergleichbarkeit: Obwohl die Komponenten eines Lebenslaufs auch auf andere zutreffen könnten – alle werden geboren, alle sündigen, viele gehen zur Schule, selbst Geschlechtsumwandlungen kommen auch bei anderen vor –, sei die sequentielle Kombination jeweils auf Einzigartigkeit hin stilisiert.
Um nicht den Eindruck zu erwecken, all diese theoretischen Reflexionen würden meine Einzigartigkeit – sozusagen wie einen diamantenen Kern – freilegen, äußere ich die Vermutung, dass auch bei meinen Bemühungen die Inkonsistenzbereinigungsprogramme überwiegen; ja man könnte sogar auf die Idee kommen, das Buch selbst sei ein einziges Inkonsistenzbereinigungsprogramm! So ist das wohl mit dem autobiographischen Gedächtnis. Das autobiographische Gedächtnis - Hans J. Markowitsch und Harald Welzer halten es für das Phänomen schlechthin, das "den Menschen zum Menschen macht". Sie meinen, es liefere ihm das Vermögen, die persönliche Existenz in einem Raum-Zeit-Kontinuum überhaupt erst zu situieren und so auf eine Vergangenheit zurückblicken zu können, die der Gegenwart vorausgegangen sei. Dies Vermögen versetze uns in die Lage "mentale Zeitreisen" (Endel Tulving) vornehmen zu können und damit Orientierungen zu generieren für zukünftiges Handeln. Erlerntes und Erfahrenes könnte auf diese Weise für die Gestaltung und Planung von Zukünftigem genutzt werden.
In meinem Blog – wie auch in diesem Buch – erweitere ich diese bemerkenswerte und fundamentale Betrachtungsweise des Gedächtnisses um die kontingenzgewärtige Dimension (Niklas Luhmann) nicht nur des Lebens selbst, sondern eben auch seiner Erinnerungsfähigkeit. Wir schon häufiger bemerkt, sind wir alle weit mehr unsere Zufälle aus unsere Wahl (Odo Marquard)! Gehen wir noch einmal kurz zurück zu Hans J. Markowitsch und Harald Welzer. Sie betonen, dass das autobiographische Gedächtnis in evolutionärer Hinsicht einen enormen Anpassungsvorteil bedeute:
"Es schafft die Möglichkeit, sich bewusst und reflexiv zu dem zu verhalten, was einem widerfahren ist und wie man darauf reagiert hat [...] So betrachtet hat Gedächtnis prinzipiell einen Bezug auf die Entwicklung eines Lebewesens in seiner spezifischen Umwelt [...] Damit zusammenhängend schafft ein reflexives Gedächtnis die Möglichkeit, Gedächtnisinhalte zu externalisieren [...] Menschen können Informationen aufbewahren und kommunizieren; sie können sie mit der Erfindung von Schrift schließlich sogar an Menschen weitergeben, mit denen sie räumlich oder zeitlich überhaupt nichts verbindet, womit sich ein Fundus an gespeichertem Wissen auftut, der die Beschränkungen der direkten Kommunikation radikal überwindet."
Auch hier sei noch einmal darauf verwiesen, dass die Begriffe von Information und Wissen ein naives Verständnis signalisieren, das neu konturiert werden muss im Kontext eines angemessenen Verständnisses dessen, was wir unter Kommunikation (und auch der Rolle, die das Gedächtnis hier einnimmt) verstehen!
Die Annäherung an das Biografische erfolgt hier nicht systematisch oder auch nur chronologisch. In dieser Hinsicht ist Vieles im totgesagten Park festgehalten – Herkunft, Kindheit, Jugend, Schule, Beruf, Familie… Bevor es nun beginnt mit einem inzwischen etablierten Ritual, das ich zu jedem Weihnachtsfest inszeniere, gibt es mit Niklas Luhmanns Idee, der Lebenslauf werde zumindest durch Erziehung mitgeformt (1), einen herben Theoriehappen. Erst dann und hierauf basierend eröffne ich das Kapitel mit der nüchternen Feststellung – man könnte auch sagen Ermunterung: Wer erzählt, der überlebt (2). Mit meiner alljährlichen Weihnachtsgeschichte Wenn ich noch einmal Kind sein dürfte (3), bringe noch einmal die emotionalen Erlebenshintergründe und -qualitäten in Erinnerung, die wohl lebensprägend sind und maßgeblichen Einfluss haben auf unsere Lebenstüchtigkeit. Diese Gedanken tragen gleichermaßen Beiträge wie: Zugehörigkeit und Geborgenheit – Eine Reise nach Trostberg (4) oder auch Gibt es Elfen, Papa? (5) Der folgenreichste Wendepunkt in meinem Leben wird aus meiner Sicht mit dem Tod meines Bruders markiert. Beiträge wie Abschied von Willi (6) oder 21. Juni (7) oder 21 x 21 (8)legen Zeugnis davon ab. Mit der Hommage an Biene (9) bekenne ich mich – ähnlich, wie Karl Otto Hondrich – zu der Affenliebe unserer Biene gegenüber – ihres Zeichens eine überaus liebenswürdige Border-Collie-Hündin. Der Kreis wird weiter und auch theoretischer, wenn Kurt Lüscher behauptet: La famille n’existe pas (10) oder wenn ich mit Burkhard Spinnen über die Absolute Kindheit (11)sinniere und dabei Individualisierung als Signum der Moderne auf eindrucksvolle Weise in Erscheinung tritt. Der Horizont wird nicht nur weiter, sondern auch (be-)drängender, wenn es um die Frage geht, ob, wann und auf welche Weise jemand etwas über seine (eigentliche) Herkunft erfährt: Die Abgehängten Decken (12) legen lange Verschwiegenes frei und Alexander Kluge hilft uns familiendynamisch auf die Beine, indem er mahnt: Wir müssen uns auf die Socken machen! (13) In dasselbe Horn bläst Der Verrückte aus Nartum – Walter Kempowski (14). Mit dem Verschweigen und der eigenen Eitelkeit kämpft Hans Magnus Enzensberger (15) – wie immer faszinierend, aber eben auch beschämend und armselig – so kann es halt kommen, wenn die Dinosaurier unserer Hochkultur die Hosen herunter lassen.
Und in dieser spannungsreichen Welt komme ich mir selbst dann vor, wie ein Frosch, der in die Sahne gefallen ist. Sein Überleben hängt davon ab, ob er den langen Atem hat, die Sahne steifzuschlagen, um nicht in ihr zu ertrinken. Hildes Geschichte als Sparring Partner (16) ist in der Welt. Und an dem unfertigen, mäandernden Beitrag Hanna Schmitz und Franz Streit – Bernhard Schlink (Mediation) und Michael (Berg) (17) offenbart sich dies auf eindrückliche bis hilflose Weise. Und wenn sich jemand die Frage stellt, warum ins Biografische Beiträge Eingang finden, die eher Blitzlichter auf zeitgeschichtliche Zusammenhänge werfen, wie zum Beispiel: Kennt jemand Heinrich Gerlach? (18), der bekommt eine Antwort spätestens, wenn wir uns der Frage stellen, welche Einflüsse wohl Zeitgeist und konkreter zeitgeschichtlicher Kontext auf unsere Persönlichkeitsentwicklung ausüben: Die Theorie des Referenzrahmens (19) führt uns auf brutale Weise vor Augen, was es bedeutet, in eine Zeit hinein geboren zu sein. Diese Vorführung ist umso brutaler, weil sie sich nicht auf Vergangenes beschränkt (z.B. Graf Lehndorffs Ostpreußisches Tagebuch), sondern weil sie uns mit dem Spiegel, den Giorgio Agamben uns vorhält, auf brandaktuelle Weise konfrontiert. Dies trifft gleichermaßen auf Stefan Slupetzkys Letzten großen Trost (20) zu. Hier schließt sich der Kreis, indem in allem und über allem Hildes Geschichte den basso continuo vorgibt. Als Zeitzeuge (21) stelle ich mich den nachfolgenden Generationen. Und mit Sabine Bode (22) findet sich die Thematik der Kriegskinder und der Kriegs(ur-)enkel endlich auch auf der Agenda des gesellschaftlichen Diskurses wieder.
Aber auch in seiner Aktualität schreibt uns das Leben Wendepunkte in den Lebenslauf ein, die in bedrückender Weise den Verlust naher Menschen an uns herantragen. Trost in einer trostlosen Gesellschaft (23) nimmt etwas vorweg, das im Hauptkapitel zu Alter, Sterben, Tod und Trauer ausgiebig thematisiert wird. Mit 65 Jahren – sozusagen Kurz vor Schluss – steht es uns zweifellos an, endlich der wie ein Mantra gepredigten aufbrechenden Perspektive vom lebenslangen Lernen, eine abschied-liche Perspektive gegenüber zu stellen. Dies gelingt uns zweifellos mehr schlecht als recht. Dass unser Lebenslauf uns Wendepunkte aufzwingt – und zwar nicht nur im finalen Sinne – erleben heute Kinder in großer Zahl, wenn sie von Trennungs- und Scheidungsprozessen ihrer Eltern betroffen sind. Das Trauma überwinden (24) legt den Finger in diese Wunden, während Wenn die Seele Hilfe braucht (25) dann tatsächlich auch einmal ressourcenorientiert und im Sinne der Fähigkeit zur Resilienz argumentiert. In diesen Kontext gehört auch die kritische Feststellung, dass Manche Menschen superwichtig sind (26).
Zu meiner eigenen politischen Sozialisation habe ich mich im totgesagten Park geäußert. Im Beitrag zu Stefan Slupetzkys Letztem großen Trost (20) sind aktuelle Hinweise enthalten. Gleichermaßen aus aktuellem Anlass nehme ich den Beitrag zu Wolf Biermanns Biografie (27) – verbunden mit tiefer Dankbarkeit – in dieses Kapitel auf. Biermann gibt mir noch einmal Gelegenheit, die eigene politische Sozialisation gründlich zu reflektieren. Diese Reflexion spiegelt nicht zuletzt die Identifikation mit der rechts- und sozialstaatlichen Ordnung, in der ich zu leben das Privileg habe. Mehr noch wird mir zunehmend klar, dass die formale Seite einer demokratischen Gesellschaft mit den genannten fundamentalen Prinzipien auch einen gemeinsamen Wertekonsens zur Grundlage hat, über den sich en detail trefflich streiten lässt, der aber im Kern nicht verhandelbar ist.
Die Überleitung zum nächsten Hauptkapitel über Liebe, Sex und solche Sachen gelingt dann nahezu mühelos. Hier geht es nicht um politische, sondern vielmehr um sexuelle Sozialisation in einem weiteren Sinne: VERBOTEN (28) und Schamverlust (29) sind wunderbare Übergänge in vermintes Gelände. Die meisten Minen sind heute noch scharf. Insbesondere beim Eröffnungsbeitrag zu meinem seit 2014 bestehenden Blog erweist sich der Rückschritt aufs Papier als extrem nachteilig. Bad Boy oder den Ursprung der Welt muss man auch ansehen können, um zu verdeutlichen, wie Karl Otto Hondrich – ähnlich, wie ich selber – das VERBOT erlebt haben und wie sich Schamgefühl und Schamverlust dazu verhalten.
Und weil das alles so unglaublich zeitgeistgebunden daher kommt, schließe ich das Biografische mit dem Feldweg (30) ab.
So bietet sich das Kapitel zu Liebe, Sex und solche Sachen an, um mit dem Eros und über ihn hinaus die Vielfalt menschlicher Beziehungsgestaltung in den Blick zu nehmen.
4. Liebe, Sex und solche Sachen - Einleitung
Die sexuelle Energie habe eine eminent wichtige Aufgabe, meint Julia Onken (1991). Sie sei es, die uns aus dem Schoße der Familie ausbrechen und außerhalb zu Suchenden werden lasse. Ich bin da ganz und gar bei ihr: „Ohne sexuellen Antrieb würde die Ablösung aus dem elterlichen Haus, aus der Familie in andere zwischenmenschliche Beziehungen nicht stattfinden.“ Manche Frauen – dies ließ sich in den letzten Jahren beobachten – sind sogar in der Lage, sexuelle Energie so zu bündeln und zu kanalisieren, dass ihrer ursprünglichen und eigentlichen Funktion in Gestalt des Kinderwunsches die absolute Priorität gilt. Es fehlt letztlich nur noch der Gottesanbeterinnen-ähnliche Vollzug, die im Verzehr des begattenden Männchens endet (siehe mantis religiosa).
In kaum einem anderen existentiellen Bezug – vermute ich – sind wir gleichermaßen so sehr unsere eigene Erfindung wie das Ergebnis allmächtiger Sozialisationskontexte. Aber auch hier gilt – zumindest für mich –, dass wir weit mehr unsere Zufälle als unsere Wahl sind (Odo Marquardt). Ich stöbere gern in nachgelassenen Bibliotheken. Bei einer dieser Gelegenheiten fällt mir ein Heft (12/2005) des MERKUR in die Hände. Die Soziologiekolumne entstammt der Feder von Karl Otto Hondrich. Der Andernacher Junge schreibt über "Sex und Liebe"; seit der Veröffentlichung von "Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft" (2004) begeistert mich seine altersweise Betrachtung elementarer sozialer Phänomene. Er ist leider - wie Luhmann - im Alter von 70 Jahren viel zu früh gestorben. Und obwohl er - 37er Jahrgang - mir 15 Jahre voraus hat, kann ich mich mit den zentralen Aussagen und Hinweisen seiner Kolumne weitgehend identifizieren:
"Über Sex und Liebe zu sprechen, fällt mir nicht leicht. Meine Pubertät lag ja vor 1968, in einer Zeit, in der es sexuell mehr Scham und Schweigen als Aufklärung gab, und weniger Freiheit als Repression."
Cum grano salis deckt sich dieser Eindruck mit meinen eigenen prägenden Erinnerungen. Und die Startbeiträge meines Blogs laden – ebenso wie die einleitenden Beiträge zu diesem Kapitel – mit Verboten und Schamverlust zu einer ersten Reflexion dieses schamerfüllten und repressiven Hintergrundrauschens ein.
Es mag wohl sein, dass es für den Aufbruch in ein – auch sexuell – selbstbestimmtes Leben historisch betrachtet niemals größere Freiheitsgrade gegeben hat, als in der Gegenwartsgesellschaft. Vermutlich resultieren aus einer mehr und mehr zu sich kommenden offenen Gesellschaft und den sie garantierenden, verfassungsmäßig verankerten Grundrechten auch entsprechende Vorstellungen von einer sexuell aufgeklärten Gesellschaft. Die Differenzen zwischen einer sexuellen Sozialisation, in der es – wie Hondrich meint – sexuell mehr Scham und Schweigen als Aufklärung gab, und einer im Übermaß sexualisierten Gegenwartsgesellschaft, erleichter(te)n allerdings weder für die heranwachsenden Generationen noch – und erst Recht – für meine Alterskohorte (und die noch Älteren) die Ausbildung einer halbwegs bruchlosen und gestaltungssicheren sexuellen Identität. Innerhalb der Gegenwartsgesellschaft gibt es viele unterschiedliche – auch sexuell definierte – eigensinnige Lebensentwürfe, während die Eckpfeiler für eine öffentlich legitimierte Sexualaufklärung und –erziehung kaum auszumachen sind. Die Veränderungsdynamik rechtlicher Rahmenbedingungen und der öffentliche Diskurs erwecken zwar dank zivilgesellschaftlicher Präsenz den Eindruck wachsender Freiheitsgrade, auch wenn die Ehe für alle immer noch gesetzlicher Regelungen bedarf und der § 175 in Deutschland erst 1994 ersatzlos aus dem Strafgesetzbuch gestrichen worden ist.
Noch 1993 rückte der kürzlich verstorbene Wolfgang Klafki im Rahmen seines Begründungsversuchs für eine angemessene Vorstellung von Allgemeinbildung heute mit seinem siebten Schlüsselproblem die Subjektivität des Einzelnen und das Phänomen der Ich-Du-Beziehungen ins Zentrum der Betrachtung:
„Die Erfahrung der Liebe, der menschlichen Sexualität, des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern oder gleichgeschlechtlicher Beziehungen – jeweils in der Spannung zwischen individuellem Glücksanspruch, zwischenmenschlicher Verantwortung und der Anerkennung des bzw. der jeweils Anderen. Die Aussicht auf solchermaßen gebildete Menschen wird ohne die Aneignung folgender grundlegender Einstellungen nicht gelingen: Kritikfähigkeit (einschließlich der Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbstkritik), Argumentationsbereitschaft und –fähigkeit, Empathie und ein Zusammenhangsdenken im Sinne eines vernetzenden Denkens.“
Dies ist ein typisches Beispiel für eine humanistische Semantik (Robert Spaemann), von der Niklas Luhmann behauptet, sie erlaube keine adäquate Beschreibung dessen, was ist, und mithin auch keine Handlungsanweisungen, die mehr wert sind, als dass sie gut gemeint sind. Vermutlich gilt dies für keinen Lebensbereich unmittelbarer und nachhaltiger als für die Sexualität. Menschen tun halt immer nur, was sie tun. Und in keinem anderen Lebensbereich wirkt Erziehung – zumindest ihre öffentliche Variante – hilfloser als hier. Die nachfolgenden Beiträge, die das Themenfeld der Sexualpädagogik bzw. –erziehung berühren, mögen das belegen.
In einem meiner letzten Blog-Beiträge stelle ich die Frage, ob es eine Steigerungsform zu „unvorstellbar“ gibt, weil ich mir sicher bin, dass beispielsweise Dietmar Kamper 1985 noch keine Vorstellung davon hatte, welches Ausmaß und welche Dimensionen seine Feststellung inzwischen - 2017 - angenommen hat, dass nämlich "das sexuelle Bild mittels diverser Medien eine Karriere hatte, wie sie - etwa angesichts älterer Sammlungen von Erotika noch vor dem letzten Weltkrieg - unvorstellbar war." Auch Dietmar Kamper würde sich heute die Augen reiben; er, der 1985 bereits den Begriff der Bilderfolter einführt. Auch in seinen Traumbildern 15 Jahre später – kurz vor seinem Tod – kommt Dietmar Kamper nicht über ein resignatives Gesamtresümee hinweg. Er zitiert Charles Baudelaire:
"Beten und Ficken - das sind, nach Baudelaire, die Tätigkeiten, die einen sensiblen Zeitgenossen in der Moderne am Leben halten. Beten heißt hören, ob ein Anderer spricht. Ficken heißt spüren, dass ein Anderer da ist. Beide Male geht es um Gegenwart, einmal der Stimme, zum anderen des Körpers, aber nicht des Selbst, sondern des Anderen, der sonst keine Realität hat."
Und er gibt zum Ende hin Einsichten preis, die vielleicht dazu geeignet sind, bei uns – noch Lebenden – ein Nachdenken hinter die Stirn zu zaubern:
"Was mir in Zeiten des entfernten Körpers immer unwahrscheinlicher und immer notwendiger vorkommt, ist die Berührung. Leben des Körpers heißt nichts anderes als Berührtwerden, als Berühren."
Auch für die lebensbegleitenden Klemmen, die sich in Paardynamiken und meinetwegen auch -katastrophen offenbaren, findet Dietmar Kamper zu Erkenntnissen, die vielen von uns bekannt vorkommen mögen. Seine Frau stellt ihm kurz vor seinem Tod die Frage, ob er die Krankheit dem Umstand zuschreibe, dass sie sich nicht vollständig von ihm getrennt habe. Seine Antwort – in Erinnerung triangulierter Paarverhältnisse – erhält die unsichere Schwebe bis zuletzt aufrecht:
"So vertrackt. Ich sagte, dass ich mit Dantes Kiste die Fallenstruktur solcher Fragen verlassen habe und dass ich höchstens den Umstand markiere, dass auch uns die amour passion nicht gelungen sei, dass also Kladow schließlich dem Kalkül dieser Trennung mit gegenteiligem Ende gedient habe. Es sei um den Abstand gegangen, um den genauen Abstand, von dem aus die Beziehung und die Trennung zu einem Kunststück hätte werden können. Im Übrigen aber gelte das, was auf dem zerschlissenen Wimperl meiner Ritterrüstung stünde, arabisch: Wer nicht an seiner Liebe stirbt, der kann auch nicht durch sie leben."
Löst man sich von der Bilderfolter und schaut bzw. horcht auf das Rauschen der Medien und lässt es ab und zu – zugegebenermaßen vollkommen willkürlich – gerinnen, so kann man beispielsweise in der ZEIT zum Entdecken (10/17, S. 56) lesen: „Liebe Freier, es gibt keine harmlose Prostitution: Euer Geld hilft Verbrechern. Aber Johannes Böhme geht dann mit seinem Beitrag hin und individualisiert bzw. personalisiert die Problematik auf Dilemma-affine Weise: Er schreibt u.a. über einen Freund – er nennt ihn René – und stilisiert die Attribute, mit deren Hilfe er ihn beschreibt, zu einem filmreifen, kitschigen Stereotyp:
„Rene war schüchtern. Sehr schüchtern. Er war auch nicht besonders attraktiv, aber das sind ja nur wenige. Sobald er mit einer Frau reden wollte, spielten die Worte Autorennen, überholten einander, stießen zusammen, überschlugen sich. Er stammelte dann, musste warten, bis die Gedanken sich ordneten. Dann senkte er oft den Blick, wurde rot. Manchmal versuchte er es noch zu retten, indem er schneller und intensiver redete. Das machte es eigentlich nie besser. René hatte keine Freundin. Er hatte, bis er in seinen Zwanzigern war, mit niemandem Händchen gehalten, geknutscht, geschweige denn geschlafen. Irgendwann in einer Sommernacht, verschwand er nachts um zwei Uhr von der Tanzfläche, auf der wir zu fünft tanzten. Er verließ den Club, ging ein paar Straßen weiter durch die laue Luft, bezahlte 100 Euro und hatte das erste Mal Sex mit einer Frau. Eine Stunde später stand er wieder auf der Tanzfläche mit einem idiotischen Lächeln im Gesicht und einem sehr ausgeprägten Mitteilungsbedürfnis. Wir hatten gar nicht bemerkt, dass er weg gewesen war. Er ging danach immer wieder.“
Am Ende eines langen, differenzierten Artikels, in dem Johannes Böhme überzeugend darlegt, dass es Zeit werde für ein „Gesetz gegen die Freier“ (heute Schweden, warum nicht morgen auch hier?). Denn während wir von weiblicher Selbstbestimmung redeten, würden Tausende Frauen in unser Land verschleppt und zur PROSTITUTION gezwungen. Also am Ende dieses Artikels begegnet uns René wieder, indem Johannes Böhme folgende Frage stellt:
„Und was passiert mit jemandem wie René, wenn er nicht mehr zu Prostituierten gehen darf? Wenn er mit jedem Verstoß eine Strafe und ein sehr peinliches Gerichtsverfahren riskiert? Meine Vermutung: Er würde aufhören, Geld für Sex zu bezahlen. Und da weitermachen, wo er an jenem Abend anscheinend aufgehört hat. Vielleicht würde es sogar etwas in ihm verändern, seine Sicht auf Frauen, auf Sex. Es gibt kein Recht auf körperliche Nähe. Man muss sie sich verdienen, durch Charme, Offenheit, Humor, Mut. Das gilt selbst dann, wenn man schüchtern ist und ein feiner Kerl.“
Es lohnt durchaus den Artikel von Johannes Böhme gründlich zu studieren, um u.a. zu erkennen, welche (argumentativen und moralischen) Klemmen sich auftun, wenn z.B. schwedische und deutsche Feministinnen zu ganz und gar unterschiedlichen Strategien raten im Umgang mit der gewerbsmäßigen Prostitution. Ein anderes Reizthema wird heute auch maßgeblich auf Schwedisch dekliniert:
„Die Welt der Pornographie aus weiblicher Sicht: Spätestens seit dem Millionenbestseller Feuchtgebiete ist die Debatte um Pornographie aus weiblicher Sicht wild entbrannt. Alice Schwarzer lieferte sich mit den ‚Alphamädchen‘ hitzige Duelle, und auch die Frauenmagazine beteiligten sich fleißig an der Debatte. Was dürfen Frauen, wie viel Spaß am Sex ist erlaubt? Mit X – Porno für Frauen liefert die preisgekrönte Filmregisseurin Erika Lust jetzt das ideale Handbuch für alle, die mitreden wollen. Lustvoll, informativ, unterhaltsam.“ (Klappentext der vom Wilhelm Heyne Verlag herausgegebenen Monografie, München 2009)
Das in diesem Kapitel zusammengestellte Sammelsurium ist nicht von ungefähr mit dem Peter Fuchs entlehnten Titel: Liebe, Sex und solche Sachen überschrieben. Peter Fuchs steht im Übrigen für einen gleichermaßen faszinierenden wie ernüchternden Intimitätsbegriff. Intimität hat seiner Auffassung nach eine wechselseitige Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz zum Kern. Das nun folgende Kapitel fasst Überlegungen und Anregungen zusammen, die von Liebe bis Freundschaft die unterschiedlichsten Erscheinungsformen zwischenmenschlicher Beziehungsgestaltung erfassen. Und es kommt noch weniger als von ungefähr, dass Peter Sloterdijk diesen Reigen mit der Vermessung des Erototop (32) eröffnet; nein – pardon – wir beginnen mit Julia Onken und ihrer Unterscheidung von Eros, Philia und Agape (31). Julia Onken gibt uns einen begrifflichen Rahmen vor, der es in der Folge erlaubt, thematische Akzentuierungen eher nach der Seite des Eros oder eher nach der Seite der Philia aufzulösen. Die Auflösung nach der Seite des Eros gestattet sich Andreas Weber mit dem Versuch einer Erotischen Ökologie (33). Bei der ausführlichen Auseinandersetzung mit dieser Publikation geht es mir insbesondere um eine Zurückweisung jeglicher Mystifizierung, wie sie Andreas Weber anbietet. Ich versuche mich hier gegen Ende meiner Ausführungen an einer anthropologischen Skizze, die das Erleben von Kränkung ins Zentrum der Betrachtung rückt. Dazu passt die Erkenntnis, dass sich die meisten von uns in ihrem Leben paartypischen Verstrickungen ausgesetzt sehen. Kränkungserfahrungen erweisen sich hier als geradezu unvermeidbar – für Paare in Trennung und vor allem für die betroffenen Kinder. Die knappen Hinweise Bert Hellingers könnten durchaus hilfreich sein, um z.B. solche Verstrickungen (34) erkennen zu können; auch um die Frage beantworten zu können: Treiben uns eher sexuelle Motive an oder suchen wir tatsächlich nur Freundschaft? Und gibt es möglicherweise noch etwas dazwischen. Die differenziertesten Überlegungen hierzu verdanke ich Arnold Retzer: Freundschaft I (35), Freundschaft II (36), Freundschaft III (37) und Freundschaft IV (38). Ähnlich hilfreiche Anregungen vermitteln uns die Ausführungen David Schnarchs, der Das Geheimnis des Glücks (39) im Kontext eines eigensinnigen Begriffs von Intimität erörtert.
Dass sich etwas verändert in der Vermessung sexuellen Erlebens und sexueller Bedürfnisse, wird in der Fachliteratur schon seit längerem diskutiert. Ein kleiner Hinweis auf Frau Ecks Buch über den Erotischen Raum (40) soll dieses Feld eröffnen. Wir gehen der Frage nach, ob es etwas Neues gibt beim Vermessen der Lust (41) und stoßen auf die merkwürdige These, mit der sich Frauen als Sexuelle Allesfresser (42) konfrontiert sehen. Überaus seriös und wissenschaftsbetont erlauben wir uns Seiten-Blicke auf Erotische Phantasien (43) und verfolgen die Diskussion um die Frage, ob Frauen tatsächlich von Pornos profitieren können (44). Irgendwie gehören die hier angebotenen Muttertagsphantasien (45) ebenfalls in diesen sexualisierten zeitgeistigen Kontext.
Mit der Zukunft der Liebe (46) hat die von mir überaus geschätzte – inzwischen am Politikhimmel verglühte – Susanne Gaschke bereits Ende der 90er Jahre für Furore im massenmedialen Rauschen gesorgt. Deshalb – und vor allem, weil sie die fundamentale gesellschaftsbegründende und -erhaltende Frage nach der Sorge für die Jungen wie für die Alten stellt, bekommt sie hier noch einmal einen prominenten Platz (nebst ihrer Redaktionskollegin bei der ZEIT, Susanne Mayer). Damit wir nie vergessen, dass die eine Seite ein und derselben Münze mit der strahlenden Kraft des Eros daher kommt, erinnern wir früh genug daran, dass die andere Seite auf das meist abgeschattete – von vielen verdrängte – Thanatos-Land verweist. Ein entsprechender Übergang ins nächste Kapitel gelingt mühelos über Dietmar Kampers frühe Auseinandersetzung mit dem visuellen Terror in einer sexualisierten Gesellschaft (47), gepaart mit einer Vorwegnahme von Passagen seines Traumbuches, das er bereits als Moribundus verfasst hat. Und zum Schluss noch ein Blitzlicht, das gleichermaßen die immer gegebene eigene Betroffenheit ebenso wie die zeitweilig unvermeidbare Verrücktheit in den Mittelpunkt rückt – Über die Flaneure(48)!
5. Alter, Sterben, Tod und Trauer - Einleitung
Bei dem Versuch die vielfältigen Beiträge und Anlässe unter einen Hut zu bringen – so etwas auszumachen, wie einen basso continuo –, wird mir deutlich, dass hier ein wesentlicher Aspekt fehlt: Alter und Altern. Zugegeben, nicht jeder wird alt. Diese Tatsache wird auch in diesem Hauptkapitel zu einer traurigen Gewissheit. Dass aber unsere Endlichkeit nicht in eins fällt mit dem Erreichen eines hohen Alters, dies macht mir bereits der Klappentext zu Klaus Dörners Leben und Sterben, wo ich hingehöre (Neumünster 2007) deutlich:
"‘Will you still need me
Will you still feed me
When I’m sixty-four‘
Wenn die Beatles diesen Song heute, also vierzig Jahre später, gesungen hätten, würden sie wohl eighty-four als Alter gewählt haben, also das heute durchschnittliche Heimaufnahmealter. Diese Erinnerung daran, wie rasant wir in den letzten Jahrzehnten gesellschaftlich gealtert sind, offenbart zugleich auch die Absicht meines Buches; denn die Beatles-Frage ist aktuell geblieben: Wird es für mich, wenn ich alt bin, einen Anderen geben, der mich einerseits braucht und der mich andererseits füttert? Dabei stelle ich die Alten, als das nun mal größte Problem, zwar heraus; doch ist die Kernfrage nach ‚need‘ und ‚feed‘ verbindlich nur zu beantworten, wenn ich immer alle Hilfebedürftigen im Auge habe, ob ich nun mit 10 Jahren im Wachkoma bin, mit 20 geistig behindert, mit 30 körperlich behindert, mit 40 hirntraumatisiert, mit 50 chronisch psychisch krank, mit 60 chronisch körperkrank, mit 70 alterspflegebedürftig oder mit 80 dement.“
Ich werde hier – im Rahmen meiner Papierorgie – darauf verzichten, meinen Demenzblog abzudrucken; irgendwo muss eine Grenze sein. Aber ich schreibe nach der Erfahrung von Verlusten, nach der Erfahrung der Sterbebegleitung (meiner Mutter) im Krankenhaus, nach langjähriger Erfahrung der Pflege und Betreuung (meines Schwiegervaters) bis in den Tod zu Hause; ich schreibe aus der aktuellen Erfahrung der Betreuung meiner Schwiegermutter (bei uns zu Hause), die wenn dieses Buch erscheint – genau fünf Tage nach seiner Präsentation – am 27.9.2017 ihren 94sten Geburtstag mit uns feiern wird; immer eingedenk des mors certa - hora incerta, das für uns alle gilt.
Für die hier notwendige Einleitung, die in der Lage ist, alle wesentlichen Aspekte zur gewählten Thematik zu bedenken, greife ich auf Klaus Dörners drittes Hauptkapitel zurück. Er – Jahrgang 1933 – hat seine Überlegungen 2007 vorgelegt. Bei allem Respekt habe ich manchmal während des Lesens gedacht:
Mensch, Klaus Dörner, wovon träumst Du denn nachts?
Dazu muss ich vielleicht erwähnen, dass der im Folgenden dargelegte Rahmen einer zunehmenden Institutionalisierung viele hunderte Male Bestandteil von Masterprüfungen an der Uni war und noch ist. Welche Rolle spielt in der funktional differenzierten Gesellschaft die Institutionalisierung von Alter, Krankheit, Sterben und Tod?
Dörner weist einleitend darauf hin, dass es in der europäischen Geschichte immer mindestens vier Sozialräume oder Institutionen gegeben habe, die das solidarische Handeln der helfenden Bürger bei der Stange halten sollen: „Der familiäre Haushalt, die Nachbarschaft, die Kommune und die Kirchengemeinde.“ Dörner geht der Frage nach, ob wir diese vier Sozialräume modifizieren bzw. weiterentwickeln können? Immerhin stellt er zu Beginn seiner Überlegungen fest, dass alle vier Sozialräume/Institutionen die exemplarischen Verlierer der Modernisierung der Gesellschaft seien, „schon allein, weil man sie durch die Institutionalisierung und Professionalisierung des Helfens zunehmend für überflüssig hielt“.
Zehn Jahre nach der Veröffentlichung von Leben und sterben, wo ich hingehöre (Neumünster 2007), eine Zeitspanne, die aus meiner Sicht zu einer weiter fortschreitenden Institutionalisierung und Professionalisierung geführt hat, kann man mit Klaus Dörner die Frage stellen, ob die von ihm genannten Sozialräume „bei der jetzigen Deinstitutionalisierung des neuen Hilfesystems wieder mehr gebraucht werden, ob und wie sie jetzt wieder zu den Gewinnern zählen können“. Werfen wir kurz einen Blick auf den „familiären Haushalt“:
Die wichtigste These bzw. Forderung Dörners lautet:
„Wenn fast alle Hilfebedürftigen, insbesondere fast alle Alten und Alterspflegebedürf-tigen/Dementen leben, altern, sterben wollen, wo sie hingehören, dann ist es die vornehmste Aufgabe der Bewegung der helfenden Bürger, ihre Ressourcen, bei Insuffizienz der familiären Selbsthilfekräfte, so einzusetzen, dass dieses Ziel erreicht wird.“ (81)
Klaus Dörner ist beseelt von dieser Idee und wischt alle Einwände mit seinem langen Atem hinweg, indem er lapidar feststellt: Wenn die Institutionalisierung des Helfens über hundert Jahre gedauert habe, warum sollte dann die Deinstitutionalisierung weniger Zeit brauchen? Dies geht einher mit dem Eingeständnis, dass wir noch von den Interessen der Professionalisierung und den Sachzwängen der Institutionalisierung gelähmt seien. Seine zweite These wird aus meiner Sicht durch die generelle Forderung nach Flexibilität (eindrucksvoll aufgezeigt von Richard Sennet) und die entsprechenden, Disloziertheit und Mobilität begünstigenden bzw. erzwingenden Entwicklungen konterkariert:
„Es scheint also ein Merkmal der postsäkularen Epoche zu sein, dass die Familie nicht mehr ‚unmodern‘, nicht mehr out ist. Im Gegenteil: indem wir uns (auch kontrafaktisch) von dem Ziel bestimmen lassen, dass alle allein schon das Recht haben, zu leben und zu sterben, wo sie hingehören, und alle anderen somit die Pflicht, dem zu dienen, werden die Familienangehörigen zu den ‚Pionieren‘, weil sie dies schon mal für mehr als die Hälfte der Alterspflegebedürftigen verwirklichen.“
Klaus Dörner hofft, dass die Angehörigen als Pioniere aus dem Sozialraum des Privaten heraus auch den dritten Sozialraum der Bürgerhelfer beflügeln und damit eine Bürgerbewegung begründen, die im Sinne sozialer Konvois ein langfristiges, generationenübergreifendes Zusammenwirken von Personen und Institutionen bewirken. Und nun kommen wir an die Nahtstelle, deren Mächtigkeit ich mit Klaus Dörner uneingeschränkt nachvollziehen kann:
„Die Situation oder besser das Schicksal helfender und vor allem pflegender Angehöriger lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Die Lebensläufe aller Beteiligter werden verändert; man ist hinterher ein anderer.“
Nein, Klaus Dörner, man ist nicht nur hinterher ein anderer, als wäre das Hinterher eine reale Perspektive, würde sozusagen ein Vorher und ein Nachher sauber voneinander scheiden. Nein, man ist immer schon ein anderer. Man verändert sich innerhalb der manchmal über Jahre hinweg sich vollziehenden Prozesse. Und vor allem: Man wird von den anderen als anderer wahrgenommen. Beziehungen – verwandtschaftliche, eheliche, partnerschaftliche, freundschaftliche werden belastet und zerbrechen, nicht immer, aber eben nicht so selten. Und es ist auch nicht so, dass Klaus Dörner dies wirklich anders sieht. Er spricht von „Profi-Rivalität“ („Gebt uns doch lieber euren Pflegling, dann geht’s euch besser.“):
„Die Wahrheit liegt hier nicht in der Mitte, sondern bei einem ‚Schicksal‘ ist die eine Bewertung ohne die andere nicht zu haben. Ein langfristig hilfsbedürftiges Familienmitglied zu unterstützen, zu pflegen, ist in sich selbst immer nicht nur eine Forderung (das wäre ja harmlos), sondern eine Überforderung, kann gar nichts anderes sein. Wenn ich einen Angehörigen pflege, tue ich das in jedem Fall – egal, wie meine Neigung oder auch Liebe beschaffen ist – auch aus Pflicht, die ich Gott sei Dank andererseits auch – dank der Freiheit meines Willens – ablehnen kann, ohne dass irgendein anderer mir das vorzuwerfen berechtigt ist. In jedem Fall geht dieses mein Schicksal über meine Grenzen hinaus, führt mich über meine Grenzen hinaus, führt mich, wohin ich nicht will – in ein Anderes, das mich gleichermaßen bereichert und auslaugt, also verausgabt, was wiederum ja auch bloß gelebtes Leben ist.“ (85)
Dörner kommt nun erst zu dem eigentlichen Dilemma, das er in einer Faustregel zusammenfasst, die allerdings nur von den Erfahrenen nachzuvollziehen sei, nämlich, dass es den helfenden oder pflegenden Angehörigen immer schlechter gehe als dem Hilfsbedürftigen oder Gepflegten, was aus seiner Erfahrung auch und gerade fürs Sterben gelte. Hiermit scheint ein doppeltes Dilemma auf. Als helfender und/oder pflegender Angehöriger muss man diese Erlebensqualitäten sowohl nach innen (innerhalb der Familie) als auch nach außen (Freunde etc.) kommunizieren.
Und nun holen auch den optimistischen Klaus Dörner nüchterne soziologische Befunde ein:
„Und was schließlich gut tut, eigentlich auch notwendig wäre, ist, dass ich mich öffne, mit anderen über das Pflegen spreche und mich so entlaste. Aber obwohl ich das weiß, ist es genau das, was ich immer in Gefahr bin mir verbieten zu müssen. Denn hier bin ich immer noch gelähmt und gezeichnet von den verinnerlichten Folgen der Modernisierung des 19. Jahrhunderts mit ihrer Institutionalisierung und Professionalisierung des Helfens und dem damit einhergehenden sozialen Funktionsverlust der Familie, was ja als Modernisierungsgewinn zur funktionsentlasteten, freien Familie (als Gefühlsgemeinschaft) geführt hat, die stolz ist auf ihre Autarkie, darauf, dass kein Fremder in meinen Kochtopf guckt und kein Nachbar zur Hilfe benötigt wird, dass meine Familie sich hermetisch abschließen darf gegen den Rest der Welt.“ (86)
Klaus Dörner trifft auch zehn Jahre nach Erstveröffentlichung den wunden Punkt. Aber er beginnt ihn zu individualisieren, so als seien die beobachteten und beschriebenen Scham- und Abschottungsreaktionen lediglich trivial und individuellen Marotten zuzuschreiben. Dörner spricht immerhin von Lähmungen und verinnerlichten Folgen der Moderne. Unser eigenes, privates Umfeld bietet kaum Gelegenheit zu einer Öffnung, so dass man mit anderen Erfahrenen sich austauschen könnte. Es entsteht eher Legitimationsdruck. Vor allem wenn die Anderen bemerken, dass man sich verändert. Da kann es durchaus sein, dass der Rat drängend wird, den Pflegling doch endlich abzugeben. Das hängt aber letztlich damit zusammen, dass zumindest in unserem Umfeld – ganz anders als Dörner es prognostiziert – kaum jemand die Alten im häuslichen Umfeld betreut und pflegt.
In seiner Gebrauchsanweisung gesteht Klaus Dörner, dass er die existentielle Doppelfrage – will you still need me-will you still feed me – bewusst auch auf sich selbst beziehe, da er mit seinen 73 Jahren auch schon zur „Zielgruppe“ gehöre. Nicht zuletzt deshalb betont er, nicht nur die subjektive Bedeutung, sondern auch den objektiven, realen Sinn des Sterbenwollens, wo man hingehöre:
„Denn mein Altern ist ein Mich-in-meine-eigenen-vier-Wände-Hineinformulieren, bis innen und außen eins ist.“ (88)
Ich denke, mit dieser Skizze ist ein passender und überzeugender Rahmen abgesteckt, der eine intensive Reflexion eigener Erfahrungen erlaubt – bis auf eine entscheidende Ergänzung, ohne die ich an den Herausforderungen der letzten Jahre zweifellos schon längst zerbrochen wäre: Der Mensch ist, weil er sich verdankt, schreibt Fulbert Steffensky. Wie ich dies verstehe, wird in allen meinen Beiträgen sicherlich deutlich, in Sonderheit in der Auseinandersetzung mit Steffensky selbst.
Ich beginne mit einer lyrischen Aussetzung (49) und liefere dann die in Prosa übersetzten Interpretationshilfen zu der Frage: Was wohl die Müllmänner denken mögen? (50) nach. Die fundamentalste Unterscheidung, die uns möglich ist, ist vermutlich die zwischen Leben und Tod. Über den Tod selbst wissen wir nichts. Er dient im besten Fall dazu, die Frage nach einem sinnvollen Leben zu stellen. Für das Leben und wie wir es gestalten, wie wir uns organisieren – intim, sozial, politisch, professionell, wirtschaftlich, kulturell – und wie auch immer – tragen wir Verantwortung. Beginnen wir mit den Anregungen und Besänftigungen derer, die uns bereits vorangegangen sind: Henning Mankell meint: Mach Dir im Leben nicht allzu viele Sorgen, Du kommst da sowieso nicht lebend raus! (51) Roger Willemsen ist nicht lebend rausgekommen – Bloß weil einer tot ist? (52). Er begleitet mich seit vielen Jahren und provoziert mich mit seiner naiven Reisewut! Zu seinem Tod Eine kleine Bemerkung über das Reisen (53). Dazu passt die Würdigung Ulrich Becks mit seinem Ruf aus dem Jenseits (54). Es folgen eine Fülle von Anregungen, die der aktuellen Auseinandersetzung um den Umgang mit Sterbenden geschuldet ist. Wir alle werden erleben – mehr oder weniger –, dass das Sterben kein Wunschkonzert ist (55). Man kann dies auf amüsante Weise thematisieren, wie zum Beispiel Harald Martenstein: Der Tod und ich (56) oder auf humorvoll-bitter-sarkastische Weise, lyrisch begleitet von Georg Ringsgwandl – seines Zeichens Arzt und Liedermacher der besonderen Art: Nix mitnehma (57). Man kann es wiederum seriös mit trotzigem Unterton betrachten, wie Harald Welzer: Tod – Selbstdenken: Eine Anleitung zum Widerstand (58). Dazu gehört auch die trotzige Botschaft: Mein Tod gehört mir (59). Ereignisse, die zum Tode von (vielen) Menschen führen, verleiten häufig zu Spekulationen. Die Unerträglichkeit nebulöser Ungewissheit brennt häufig tiefe Wunden in unsere Seelenhaut – ähnlich wie beim Tod meines Bruders und den Umständen, die dazu geführt haben, war es 2015 beim Absturz der German-Wings-Maschine in Frankreich: Ohne festen Boden (60).
Damit ich mich weder im Akademischen noch im gesellschaftlichen Diskurs allein verliere, knüpfe ich an die elementaren Erfahrungsqualitäten an; ich verknüpfe sie mit den Wendepunkten in meinem Leben, die bereits im Biografischen deutliche Spuren hinterlassen haben. Hier geht es ums Sterben selbst und um die Wege dorthin: Ich möchte aufmerksam machen auf ein Projekt, das mich seit 2006 begleitet, und das hier mit dem Stichwort Demenztagebuch Erwähnung findet. Lediglich die Einleitung zu diesem Tagebuch (61) wird hier abgedruckt. Den Zugang zum Tagebuch selbst gibt es nur online über den Blog. Dennoch werbe ich hier um besondere Aufmerksamkeit, weil sich angesichts der Frage, ob wir alle dort leben und sterben können, wo wir hingehören (Klaus Dörner), hier die unmittelbare Nahtstelle im Sinne einer drängenden Aktualität ergibt.
Das Zentrum bildet das Sterbetagebuch meiner Mutter (62). Es ist bislang die Erfahrung, die mich am intensivsten den Rand des Erträglichen getrieben hat. Es überzeugt mich selbst in seinem Originalton mit all den hilflosen Gesten, um letztlich – wie Phönix aus der Asche – gestärkt aus diesem Prozess hervorzugehen. Es folgen die Totenreden auf meinen Schwiegervater (63) und Gerd Wayand (64), einen Freund aus frühesten Zeiten des Studiums, den ich wiedergefunden habe ins Alter hinein. Er hat mich im Jahr seines Sterbens durch seine Haltung zutiefst beeindruckt. Den Tod meines Vaters (65) habe ich als relativ junger Mann erleben müssen. Als er starb, war er so alt, wie ich jetzt in etwa bin – fünfundsechzig! Den Abschluss bilden Der letzte schöne Tag (66) – ein stiller fulminanter Film, den ich höchstpersönlich mit mehreren Oskars prämiert habe und eben das schon mehrfach erwähnte Traumbuch (67) Dietmar Kampers. Er lotet als Grenzgänger den diffusen Raum aus, der sich im Übergang vom Leben zum Tod erfühlen und erspüren, aber nur noch begrenzt in Sprache übersetzen lässt.
6. Vermischtes oder: Wo stehen wir eigentlich? - Einleitung
Alle Theorie ist GRAU. Im modernen Theoriedesign lassen sich ein paar Positionen ausmachen, die alles unter Vorbehalt setzten, was den Anspruch von Abschlussgedanken erhebt. In Auslegung der Luhmannschen Lektion (67) hat Norbert Bolz diese Sichtweise recht kompakt zusammengefasst:
„Vernunft ist immer die eine Vernunft oder in Hegels berühmten Worten: ‚Das Wahre ist das Ganze‘ – so sieht es ironischerweise auch Niklas Luhmann. Das Problem ist nur: Das Ganze ist eine Paradoxie. Für einen Soziologen heißt das: Man kann die moderne Gesellschaft nicht mehr in ihr selbst repräsentieren. Damit wird aber die Vernunft in der modernen Gesellschaft ortlos; utopisch im Wortsinne. Man kann das Ganze der Gesellschaft nicht mehr in den Blick bekommen, weil sie sich im Ganzen funktional differenziert hat. Und jedes Teilsystem hält sich für das Wichtigste. Jedes Teilsystem der Gesellschaft beschreibt also die Einheit der Gesellschaft anders. Dann macht es aber keinen Sinn, über eine vernünftige Identität der Gesellschaft zu diskutieren. Und dann macht es auch keinen Sinn, die Moderne kritisieren zu wollen.“ (37)
Natürlich kann man das anders sehen. Und meine bescheidene akademische Karriere fußt in ihren Anfängen exakt auf dieser anderen Sichtweise, die zentral mit dem Namen Jürgen Habermas und seiner Theorie des kommunikativen Handelns verbunden ist. Wenn in der Folge tatsächlich auch die Frage in den Mittelpunkt rückt, was denn unter Kommunikation eigentlich zu verstehen ist, wird sich zeigen, dass ich in den letzten 20 Jahren einen konsequenten Weg beschritten habe, der mich aus dem Lager von Jürgen Habermas in das Lager von Niklas Luhmann geführt hat; manche sagen etwas despektierlich von einer Suhrkamp-Kultur (Frankfurt) in eine andere (Bielefeld). Im Gegensatz zu Norbert Bolz vertrete ich dabei zutiefst die Überzeugung, dass graue Theorie – selbst so eine verquere, wie die Luhmannsche – alltagstauglich ist. Die Beiträge zu der Frage: Was ist Kommunikation? sollen dies belegen. Auch die paradoxe Aufforderung: Gebrauche niemals den Imperativ! versucht in Anlehnung an Dietrich Schwanitz‘ Luhmann-Hommage für diese Perspektive zu werben.
Unter den Wanderern in Luhmann-Land ist mir Peter Sloterdijk einer der wichtigsten. In seiner fulminanten Totenrede lässt er Niklas Luhmann aufleben als einen advocatus diaboli „von nie gekannter Qualität“. Dabei besticht die Bescheidenheit Luhmanns, an die Sloterdijk mit dem von Luhmann verwendeten Begriff der Selbst-Desinteressierung erinnert. Folgt man gewissen grundlegenden Gedankengängen, begreift man, dass Niklas Luhmann selbst, sich von jeglicher Haltung der Letztbegründbarkeit eines Gedankens fern hält. Sloterdijk illustriert diese Grundhaltung im Blick auf das anspruchvollste Beispiel:
„Es gibt kein menschliches Gehirn, und es kann aus prinzipiellen Gründen keines geben, das bis ins einzelne wüsste, wie es selbst funktioniert, geschweige denn eines, das sich bei laufendem Betrieb eine komplette Repräsentation seiner historischen und strukturellen Betriebsbedingungen – im Sinne eines hierjetzt aktuellen, in Totaltransparenz zu sich gekommenen Geistes – gegenwärtig halten könnte.“ (128)
Subjekte, die diese Ausgangsbedingung realisiert und akzeptiert haben, bezeichnet Sloterdijk als Subjekte der kybernetischen Ironie. Diese wüssten, dass sie sich regelmäßig selbst verkennen. Die Theorie des blinden Flecks lässt sich auf diesem Niveau des Erkennens nicht mehr hintergehen. Und wir erinnern uns mit Norbert Bolz:
„Die sogenannte Kybernetik zweiter Ordnung lehrt uns zu sehen, dass man nicht sehen kann, was man nicht sehen kann. Dass man nicht sehen kann, dass man nicht sehen kann, was man nicht sehen kann, ist aber die Definition des blinden Flecks.“ (51)
Folgerichtig lassen sich blinde Flecken grundsätzlich nicht vermeiden. Aber man könne versuchen, sie deutlich zu machen, indem man die Begriffs- und Theorieunterscheidungen der eigenen Analyse klar zu erkennen gebe. Die von Norbert Bolz daran anschließende Frage lautet dann schlicht: „Welches Theoriedesign macht die Einsicht in die eigene Blindheit erträglich?“ Oder anders gefragt: „Wie muss eine Theorie beschaffen sein, die durch ihr Wissen um ihren blinden Fleck nicht blockiert ist?“ Norbert Bolz übernimmt an dieser Stelle von Niklas Luhmann die von ihm als absolute Metapher der Sozialwissenschaften bezeichnete Einsicht, dass auch Wissenschaftler nur Ratten seien, die andere Ratten im Labyrinth beobachteten – aus irgendeiner gut gewählten Ecke heraus. Aber keine Theorie könne voraussagen, wie die Ratten laufen.
Peter Sloterdijk weist darauf hin, dass genau jene Intellektuellen sich dieser Einsicht/Prämisse verweigerten, „die für sich einen höheren Ernst reklamieren, weil sie als Fürsprecher einer Realität erster Ordnung auftreten“ – in der Regel distanzlos und wenn es sein muss auch postfaktisch. Distanziertes Theorietreiben eingedenk unvermeidbarer blinder Flecken fördere hingegen „eine Neigung zum Desengagement von fixen Meinungspositionen“. Hier kommt zum Tragen, was Luhmann selbst eine Haltung der Selbst-Desinteressierung nennt. Warum dies so ungemein wichtig ist, wird überdeutlich in der von Peter Sloterdijk vorgenommenen Unterscheidung von Weltbildern erster Ordnung auf der einen Seite und einer Haltung, die den Realitätsglauben als auswechselbare Größe begreift, auf der anderen Seite:
„Denn es geht hier, möchte ich vermuten, um nichts Geringeres als das allen Weltbeschreibungen erster Ordnung inhärente Paranoia-Potential und die von ihm gebundene und entbundene Gewalt. Wo immer Menschen anfangen, ihre Weltbilder distanzlos zu bewohnen und ihre Einteilungen des Seienden im ganzen als eine Arena realer Kämpfe zu erleben, dort sind sie der Versuchung ausgesetzt, für ihre Identitätskonstrukte bis zum bitteren Ende zu kämpfen und für ihre Fiktionen zu töten.“ (153)
Die Einsicht in diese grundlegenden Zusammenhänge gehört zu einer demokratietauglichen Sozialkunde, wie ich sie heute verstehe und vertrete. Vor mehr als vierzig Jahren bin ich als naiver Sach- und Fachwalter einer – schulisch nur unzureichend verankerten – Sozialkunde, die dann zur Gesellschaftslehre mutierte, losmarschiert – lernend, lehrend, schreibend und kämpferisch. Niemand dürfte sich zugehörig fühlen oder auch nur gerechnet werden zu irgendeiner gesellschaftlichen Elite (in Politik, Kultur oder Wissenschaft), der sich nicht schonungs- und vorbehaltlos der Luhmannschen Lektion unterzogen hat. Praktisch gesprochen bedeutet dies für mich, dass ich einer CDU-Kanzlerin Respekt zolle, weil sie gewissermaßen zu einer Ikone der Luhmannschen Selbst-Desinteressierungs-Haltung geworden ist. Erst wenn sich die Weltbildbeschreiber erster Ordnung à la Tayyip Erdogan, Donald Trump oder Wladimir Putin und ihre Wadenbeißer à la Assad einer entsprechenden Gehirnwäsche unterziehen würden, hätte eine Politik des Friedens und des Ausgleichs eine Chance – mit der charmanten Nebenwirkung, dass auch der Sumpf des Islamischen Staates austrocknen würde.
Im Sinne einer Gebrauchsanweisung für dieses Buch und insbesondere für dieses Kapitel ist vielleicht der Hinweis hilfreich, dass neben den metatheoretischen Erörterungen: Luhmannsche Lektion (68) oder Gebrauche niemals den Imperativ! (69) die Praxis in den Blick nehmenden Beiträge so etwas darstellen, wie eine Anwendung grundlagentheoretischer Überlegungen. Hierzu gehören besonders die Beiträge, die der Frage nachgehen, Was ist Kommunikation? (70) oder die sich mit Fragen der Inklusion I (71), Inklusion II (72), Inklusion III (73) oder auch der Verwendung der Planungsmetapher in pädagogischen Kontexten auseinandersetzen: Planung I (74), Planung II (75), Planung III (76), Planung IV (77).
Insbesondere in den Beiträgen zur Planungsmetapher geht es um die Diskussion der grundlegenden Frage, inwieweit Planung eine zureichende Kategorie zur Reflexion der Bedingungen von Unterricht ist. Mit den an Wolfgang Meseth u.a. orientierten Überlegungen zu einer kontingenzgewärtigen Unterrichtstheorie (78) führt die Beantwortung dieser Frage zu einer deutlichen Relativierung. Im Zusammenhang mit der von Niklas Luhmann vorgenommenen radikalen Unterscheidung von Wahrnehmung (psychisches System) und Kommunikation (soziales System), wird eine weitere Bedingung markiert, die nachhaltige Konsequenzen für den Begriff der Kommunikation nach sich zieht. Diese Konsequenzen betreffen zwangsläufig alle Bedingungen unterrichtlicher Kommunikation. Diese Ausgangsbedingungen werden dementsprechend theoretisch und praktisch reflektiert: Ich sehe was, was Du nicht siehst (79).
Weiten wir den Blick noch einmal, wie in der Einleitung zu diesem Kapitel angedeutet, so stoßen wir auf die Unterscheidung: Weltbeschreibungen erster Ordnung – Weltbeschreibungen zweiter Ordnung. Die Distanzlosigkeit der ersten Variante mit den exklusiven Ansprüchen auf Geltung und Wahrheit findet sich in autoritären Machtstrukturen gleichermaßen wieder wie im aufkommenden Populismus amerikanischer oder auch westeuropäischer Prägung. Die Distanzierung oder – wie Luhmann sagen würde –, die Fähigkeit zur Selbst-Desinteressierung setzt Bildung voraus. Nur auf dieser Grundlage wird man erkennen können, dass die Vernunft eben immer nur die eine Vernunft sein kann (80).
Dass dies selbst in den Hochburgen vernünftiger Selbstvergewisserung, an den Universitäten nur bedingt der Fall sein kann, ist im Zusammenhang mit Jürgen Habermasens diskursethischen Ideen schon vor Ewigkeiten thematisiert worden. Ich erinnere mich an einen Beitrag von Stefan Breuer (FAZ vom 18.6.1999), in dem er – in einer kritischen Würdigung von Jürgen Habermas – universitäres Kleinklima im Kontext einer diskursethischen Verortung beschreibt:
„Umso rätselhafter, woher Habermas eigentlich sein Vertrauen in radikaldemokratische Öffentlichkeiten, gar den Glauben an die Möglichkeit eines vernünftigen Gemeinbewusstseins nimmt, aus dem sich seine Diskursethik speist. Wenn schon die Universität ein solcher Ort des Missverständnisses, der theatralischen Inszenierungen und Selbsthysterisierungen ist, als den Habermas ihn decouvriert hat, wie soll es dann erst die Gesellschaft, die hierfür weit weniger Zeit hat, zur Verschmelzung der Verständnishorizonte bringen.“
Einmal abgesehen davon, ob dies überhaupt ein erstrebenswertes Ziel sein könnte, träumt vermutlich heute diesen Traum niemand mehr. Heute – wie schon so oft – ist wieder einmal die Rede von der Reformruine Universität (81). Dass sich Universität inzwischen bis zur Unkenntlichkeit ihrer ursprünglichen Idee verändert, macht mir persönlich den Abschied leicht; Entblödung ist dort das Gebot der Stunde und gelingt ganz offenkundig nur noch begrenzt und unter immensen Anstrengungen. Eine optimistische Einschätzung der Gesamtlage unter dem Signum: Er hätt noch immer jot jejange (82) gelingt ebenfalls nur noch bedingt. Aber ich mag für sie eintreten – wohl wissend, dass man etwas tun muss für den juten Ausjang der Dinge. Zuletzt mag ich mit Odo Marquard für eine Gelassenheit werben angesichts der meinerseits geteilten Auffassung, dass wir alle weit mehr unsere Zufälle sind als unsere Wahl (83). Aber wo wir ganz offenkundig die Wahl haben, kommt ihr ein hohes Maß an Bedeutung und Verantwortung zu – so wie am 24. September 2017!
7. Schlusskapitel – Einleitung: Kurz vor Schluss
Da dieses Buch – wie alle meine Bücher – ein chaotisches Buch ist, mach ich noch nicht ganz Schluss, bevor endgültig Schluss ist. Dieses Buch will eigentlich nicht zu Ende gehen. Während es in Gestalt eines dynamischen Blogs ja auch weitergeht, müssen wir das Buch schließlich und endlich noch drucken und binden. Aber auch in diesem Buch soll die vergangenheitsabhängige, aber offene Zukunft bis zuletzt gestaltungsmächtig bleiben. Im abschließenden Sammel-Surium-Kapitel Kurz vor Schluss nehme ich alles auf, was mir noch bis kurz vor dem unvermeidbaren Redaktionsschluss in Erinnerung kommt und dabei nachhaltigen Eindruck hinterlässt – guten wie schlechten Eindruck! Dabei ist das Phänomen des In-Erinnerung-Kommens besonderer Beachtung wert:
"Das Gedächtnis schafft die Möglichkeit, sich bewusst und reflexiv zu dem zu verhalten, was einem widerfahren ist und wie man darauf reagiert hat [...] So betrachtet hat Gedächtnis prinzipiell einen Bezug auf die Entwicklung eines Lebewesens in seiner spezifischen Umwelt [...] Damit zusammenhängend schafft ein reflexives Gedächtnis die Möglichkeit, Gedächtnisinhalte zu externalisieren [...] Menschen können Informationen aufbewahren und kommunizieren; sie können sie mit der Erfindung von Schrift schließlich sogar an Menschen weitergeben, mit denen sie räumlich oder zeitlich überhaupt nichts verbindet, womit sich ein Fundus an gespeichertem Wissen auftut, der die Beschränkungen der direkten Kommunikation radikal überwindet." (Markowitsch/Welzer, Stuttgart 2005, S. 11-13)
Kurz vor Schluss ist ein überzeugendes Beispiel für diese Haltung. Wolfgang Loth hat in der Familiendynamik 4/2016 mit seiner – im Übrigen jede Ausgabe der Familiendynamik beschließenden Betrachtung Kurz vor Schluss in mir das Motto für dieses Buch angeregt. Und so ist es mehr als angemessen, ihm zu folgen und Kurz vor Schluss über Familiendynamik und andere chaotische Phänomene (84) aus gegebenen Anlässen (erneut und immer wieder) nachzudenken. Und dort, wo der Tod eigentlich zur Besinnung mahnt, bleibt mir nur noch mit Eichendorff den aufgegangenen Mond (85) zu besingen und unsere Besinnungslosigkeit zu beklagen. Das ziemt sich für einen älteren Herrn, der gerüttelten Anteil hat an (ver)glühenden bzw. verglühten Freundschaften. Betrachtet man die Aschehäuflein, stellen sich mehr Abstand und damit auch ein abgeklärterer Blick auf soziale Dynamiken ein. Erstaunt und beglückt vernimmt man, wonach sich junge Menschen auch heute noch sehnen (86). Die Beglückung hat natürlich damit zu tun, dass man glauben will, man hätte den eigenen Kindern vielleicht doch ein Beispiel gegeben. Vergleicht man das Beispiel mit einem Auto, dann kommt es ganz sicher alt und zerbeult daher. Es läuft gerade eben noch so – aber bei allen Einschränkungen und bei einsetzender Altersschwäche: es läuft und läuft und läuft… Und während es läuft, haben sich Ann-Christin und Jens vermählt und seit 1 ½ Jahren ist Mathilda auf dieser Welt. Laura und Thomas (87) geben sich das Jawort, gleich zwei Mal und auch die Anne und der Sebastian scheinen guten Mutes. Dass es für junge Menschen auch anders kommen kann, so als bestehe die Welt aus lauter Widersprüchen und führe ins ausweglose Dilemma (88), kann man auch im engeren Familienkreis beobachten. Es ist mal wieder eine Redakteurin der ZEIT, die Dilemma-Geschädigten auf die Sprünge hilft – mit emanzipationsgeschärftem Skalpell werden die Kosten für eine radikale Emanzipation eingepreist, wenn Sabine Rückert ihren jungen Kolleginnen vorwirft, sie umkreisten die Männer wie Putzerfische (89) den Hai. Die Freiheitsgrade für individuelle Lebensentwürfe sind beachtlich; und ob mit Kind, aber ohne Mann – oder auch ohne beides – wird man sich irgendwann der Frage stellen: War’s das jetzt? Und war’s das wert? Wie Mann und Frau auf lange Sicht und ohne Lange-Weile doch geht, diese Frage lässt sich nur mit (Blick auf) alte(n) Paaren ermessen. Zunächst folgen wir Detlef Klöckners Idee zu einem Fürsorglichen Finale (90), bevor wir einmal von Fulbert Steffensky und Dorothee Sölle (91) hören, wie es einem ganz realen Paar ergangen ist. Ein Freund schließlich – ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt – oder: Die Freundschaft wählt uns!?(92) oder wie? Ja, was wählen wir überhaupt? Haben wir überhaupt etwas zu wählen? Oder sind wir wie unsere Väter und unsere Mütter??? (93) Ach lassen wir das! Wir wissen doch seit eh und je, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist!!! (94) Und wenn wir nicht mehr weiter wissen, fragen wir einfach den Herrn Kant? (95). Immerhin hat dieser ehrenwerte Schollenhocker uns schon den Zugang zu den Dingen an sich versperrt. Wir erinnern uns an Dieter Lenzens Einsicht, dass jede Repräsentation von Außenwelt immer nur eine bestimmte Form der Selbstrepräsentation sein könne. Also pendeln wir zwischen Selbst- und Fremdpol unvermeidbar hin und her, suchen unser Lot und unser Heil mehr oder weniger erfolgreich im Ausbalancieren von Selbst- und Fremdreferenz. Und wenn Du wissen willst, wie dieses mehr oder weniger sich für Dich darstellen lässt, dann frag halt die Anderen. Dies gilt im Übrigen nicht nur für Freundschaftsbeziehungen! Neben der Freundschaft betrifft dies vor allem auch die unvermeidbare Gestaltung von Kommunikationsprozessen in professionellen Kontexten (96). Hier gewinnt man den Eindruck, dass für eine abgeklärte theorieinspirierte Analyse kaum noch Raum ist; die Akteure versinken in der verfahrenslegitimierten institutionellen Blindheit ihres Tuns, lecken ihre Wunden und suchen ihr Heil in der machtvollen Durchsetzung der eigenen Interessen. Dabei riskieren sie zum Beispiel auf nachhaltige Weise das Vertrauen der ihnen anvertrauten Studierenden. Vor mehr als fünfzehn Jahren hat mir Jochen Hörisch elementare Einsichten vermittelt, wie wir die Wut des Verstehens (97) in uns zügeln können.
Und bevor wir zu guter Letzt – wenn Ihr noch nicht zu erschöpft seid – nachlesen können, wie sich der Jupp mit seinem Alter Ego Adrian Übers Bloggen (99) auseinandersetzt und dabei die Frage: Wer bin ich, und wenn ja wie viele? sehr selbstbezüglich beantwortet, erwägen wir mit Sherry Turkle (98), ob wir vielleicht doch miteinander reden sollten.
Die (100) – als Zugabe – ist eine Anleihe, die ich bei meiner jüngsten Tochter Anne mache. Sie hat mich 2014 dazu verführt, Ihr im Rahmen einer Seminararbeit über Identitätskonstrukte ein Interview zu geben. So findet Hildes Geschichte als Forschungsgegenstand auf so ganz andere Weise in der Enkelinnengeneration eine Aufmerksamkeit, die zu denken gibt.
Apropos Selbstbezüglichkeit: Ganz zum Schluss hole ich die Lyra hervor und setze der Wut des Verstehens endgültig eine Grenze. Ich versinke im Selbstpol und zeige in Erinnerung bedeutsamer Anderer, was sie in mir angerichtet haben und vor allem, was ich damit mache!
Das Kapitel Ganz zum Schluss erscheint hier incl. Einleitung als Vorabdruck:
8. Ganz zum Schluss – oder: Eine kurze Geschichte der langen Weile
Wenn einem die Worte zu viel werden und der Worte immer schon zu viele sind, hilft die Radikalreduktion ohne Rücksicht auf Verluste. Verlieren kann man dabei, dass andere einem noch folgen (mögen). Hoffen kann man zuweilen, dass die Reduktion auch bei anderen ankommt und Kronleuchter entzündet. Seziert man mit lyrischem Skalpell menschliche Beziehungswelten und erkundet dabei das Terrain zwischen Eros, Philia und Agape, um der Liebe auf die Spur zu kommen, gelangt man zu wenig überraschenden Erkenntnissen. Da ich nun immerhin schon älter bin, verzichte ich auf die Ergüsse chemotional ausgelöster Overkill-Szenarien – sie finden sich gut aufgehoben hinter meiner Schädelkalotte (und rudimentär in meinen Gedichtbändchen), so dass Intransparenz weitgehend garantiert ist. Ich beschränke mich auf mehrfach gefilterte Substrate; die sich in einer Haltung zu erkennen geben, die irgendetwas zu tun hat mit einer Idee von Altersweisheit. Dabei erlangt bemerkenswerter Weise Peter Fuchsens soziologisch inspirierter Aphorismus von der wechselseitigen Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz sowohl affektive als auch erkenntnisleitende Bedeutung.
Denn diese Unterscheidung integriert gleichermaßen den heißen Kern einer auch erotisch immer noch wachen Begehrlichkeit mit all der Verantwortungsethik, die sich nicht nur in der Sorge für die Kinder und die Alten offenbart, sondern in ihrer alltäglichen tätigen Wahrnehmung: Unsere Kinder erreichen im Jahr meiner Versetzung in den Ruhestand das 30ste bzw. das 28ste Lebensjahr – und sie bleiben immer Kinder. Ich selbst habe meinen Kind-Status 2003 verloren. Dies ist dokumentiert im Sterbetagebuch meiner Mutter (61). Das endgültige Erwachsenwerden ging gleichermaßen einher mit hilflosem Gestammel wie mit abgeklärter Beobachtung – und der Dankbarkeit, das Kind meiner Eltern gewesen sein zu dürfen – im Erleben absoluter Zugehörigkeit, Geborgenheit und Bindung. Dass ich noch den Status eines Schwiegersohnes habe, dass sich die Sehnsucht nach einem Urvertrauen auch umkehrt und in der Hilflosigkeit und Bedürftigkeit der letzten Alten offenbart, wird gegenwärtig – Ende Mai 2017 – so umfassend spürbar. Meine fast 94jährige Schwiegermutter, mit der wir seit 1 ½ Jahren unter einem Dach leben, hat sich nach dem Bruch des linken Oberschenkels (am 11. Dezember 2015) am 14. Mai 2017 (Muttertag) den rechten Oberarm gebrochen. Sie befindet sich nach kurzem Krankenhausaufenthalt in der Kurzzeitpflege und es stellt sich die Frage, ob sie dort sterben darf, wo sie hingehört (Klaus Dörner – siehe Vorwort zu Kapitel 3).
So wird es nicht verwundern, dass ich in diesem letzten Kapitel – in einer kurzen Geschichte der langen Weile – vor allem das (Über-)Leben in den Vordergrund rücke: Als Überlebensgarantie entpuppt sich dabei Überstehn (L1). Es steht für einen vernunftgesteuerten Umgang mit der triebhaften Welt erotischer Übertragungsenergien, die all die Genüsse verheißen, die man daran erkennt, dass man sie verschweigen muss (ich erinnere mich an eine geniale Karikatur, die vor Jahren einen Mercedes-A1 im Elchtest auf dem Rücken liegend auf einer schwedischen Landstraße zeigte und in einiger Entfernung dazu ein Elchkälblein, das der Mutter gegenüber – verlegen und glaubhaft (gleichwohl wider besseres Wissen) – versicherte: „Mama, ich habe überhaupt nichts gemacht“ <- nur für Insider!). Draw a distinction (L2) und Paarlauf (L3) hingegen zeigen die gleichermaßen resignierte wie abgeklärte Haltung jemandes, dem das Lob der Vernunftehe zur zweiten Natur geworden ist. Aber auch Arnold Retzer betont in seinem Lob der Vernunftehe:
Es braucht schon das, was wir eine Liebesgeschichte nennen; eine Liebe, die sich eine eigene Welt erschaffen kann und dieser Welt ihren eigenen, unverwechselbaren Sinn gibt. Aus all seiner Erfahrung leitet Arnold Retzer die Erkenntnis ab, dass die alltäglichen Probleme einer Ehe, vor allem die dort empfundene Ungleichheit und Ungerechtigkeit dann keine große Belastung darstelle, wenn die Liebe stark ist. Umgekehrt nütze eine gute Partnerschaft – mit der Idee einer gerechten und vertragsgetreuen Aufteilung von Rechten und Pflichten – dann wenig, wenn die Liebe schwach ist.
So ist es nicht nur logisch, sondern gottseidank auch zwingend im Sinne vollkommener Zwanglosigkeit, dass die kurze Geschichte der langen Weile mit nichts anderem enden kann als einer unbegreiflichen Old Love (L4).
Überstehn
Wir sind die Silben
Auf dem Sprung zur Sprache
Wir schreiben dieses Buch,
Wir haben es geschrieben -
Du und Ich.
Erst zaghaft, überrascht,
Dann freudig, sanft getrieben,
Als ging es ums Verlieben.
So traumhaft finden sich die Worte,
Denn jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.
Doch streben wir noch zu den Sternen?
Wir wissen doch:
Aus dieser Welt
Gilt es zu lernen.
Wir segeln dabei hart am Wind
Und sehen beide -
Was der Horizont verspricht.
Dahinter liegt Phantasia, das Land der Illusionen.
Doch nicht für uns!
So können wir vielleicht bewahren,
Was andern früh im Feuer
Schon verbrennt,
Wenn Ego/Alter blind in Alter/Ego rennt.
Lindern wir doch unsre Schmerzen,
Und bewahren uns in unsren Herzen
Wir mischen die Essenzen neu
Und bleiben auf der Hut.
Wir finden immer neuen Mut,
So werden wir dem Höllenfeuer doch entgehn,
Und unverzagt uns überstehn.
Draw a distinction!
Unterschiede,
Die einen Unterschied machen,
Beleben das Leben.
Dies dacht ich grad eben.
Fast nüchtern und unaufgeregt
Pfleg ich Arschloch und Zähne.
Die Kellnerin hat gut aufgelegt!
Und wie ich so wähne
Regt sich ein wenig die Trauer.
Bescheiden – aber immer ein Abschied –
Sitzt der Frosch vor der Mauer,
Beginnt müde sein Lied.
Er weiß: Heute erhört ihn niemand.
Da bleibt er lieber gleich stille
Und blickt in ein Land
Voll Lust, doch mit nüchterner Brille.
Unterschiede,
Die einen Unterschied machen,
Beleben das Leben.
Dies dacht ich grad eben,
Was will man da machen.
Es vollzieht sich das Leben
Und manchmal die Ehe.
Mal Wohl und mal Wehe.
Draw a distinction – na eben!
Paarlauf
Schau, das Paar und seine Kreise –
Wie es sprüht und lebt
Und auf synchrone Weise
Über allen Niederungen schwebt.
Sieh nur ihre Augen strahlen
Und ihr Lachen in der Sonne blitzen,
Ihre Körper fliegen, malen
- Während ihre Spuren ritzen –
Feine Linien in das Eis.
Ihre Herzen jubilieren, springen,
Ihre Seelen schimmern rein und weiß,
Engel hört man Halleluja singen.
Ach, so leben wir doch alle
Für ein Jahr, auch mal für zwei,
Tappen blindlings in die Falle
Und aus Eigenart wird Einerlei.
Old Love
Es kommt mir mächtig in den Sinn,
ich riech es – bin verrückt.
Und weiß nicht wer ich bin,
bin ruhelos verzückt.
So tief kriecht es hinein
in mich – so sehr es mich beglückt,
es sickert in mein Sein,
und doch bleibt es entrückt.
Ist es der Duft der Frauen,
der lockend mich umfängt?
Ein Fenster öffnet sich zu schauen,
was meine Sinne so bedrängt.
Es lässt am Tage mich nun träumen
und lenkt den Blick zurück.
Aus alten, ewig jungen Träumen
Wächst DU und schimmert Glück.
9. Und danach? Ein Vorabdruck des endgültigen Schluss-Kapitels von Kurz vor Schluss
Einer meiner letzten Beiträge bezieht sich auf mein aktuelles Buchprojekt Kurz vor Schluss. Den Rahmen - die Einleitungskapitel und das Schlusskapitel - gibt es dort sozusagen breits als Vorabdruck zu lesen. Da ich es nicht mehr gewohnt bin, mich der strengen Disziplin eines ordentlich redigierten Publikationsvorhabens zu unterziehen, mäandert das Buch seit geraumer Zeit schon vor sich hin. Ich habe ja exakt 100 Beiträge aus meinem seit 2014 gepflegten Blog ausgewählt, und sie unter vier Hauptkapiteln geordnet. Dabei ist mir aufgefallen, dass ich mit diesem Titel Kurz vor Schluss zu unbefangen und zu kokett umgehe. So stellt sich nach Abschluss der Textkorpus mehr und mehr die Frage: Und danach?
Wonach? Ich räume an der Stelle ein, dass die gesamte Nomenklatur des Buches sich um den Ernstfall herummogelt: Kurz vor Schluss und Ganz zum Schluss markieren auf der Zeitachse vordergründig betrachtet nichts anderes als die Zeiteinheit vor meiner Versetzung in den Ruhestand. Die erscheint gewohnheits- und routinemäßig in der Gestalt des Semesters; des Sommersemesters 2017, das am 1. April begonnen hat und am 30. September des laufenden Jahres endet. In diesem letzten Semester meiner aktiven Dienstzeit werde ich alles zum letzten Mal getan haben; von der Seminarplanung und -durchführung bis hin zur Begutachtung von Bachelor- und Masterarbeiten, von den regelmäßigen Sprechstunden bis hin zur Abnahme von Prüfungen. Ich werde mich von der Uni verabschieden und dort eine Lücke hinterlassen – oder positiv gewendet: eine Stelle freimachen. Ich selbst werde in die Freiheit entlassen. Naturgemäß weiß ich also nicht wirklich – eingedenk des mors certa-hora incerta – wann es für mich Kurz vor Schluss ist und wann Ganz Schluss ist!
Ganz und gar unstrittig gelangt mit dem Berufsausstieg etwas an sein Ende. Man könnte sich nun einen Blick auf sich selbst erlauben. Die Versetzung in den Ruhestand eröffnet die Chance des Innhaltens. Innehalten ermöglicht eine Bestandsaufnahme. Darauf weist Arnold Retzer gegen Ende seines Buches Miese Stimmung – Eine Streitschrift gegen positives Denken hin (Frankfurt 2012, S. 290f.):
„Die eigene Biographie kann in den Blick genommen werden. Man ist jetzt nicht genötigt, die Biographie fortzuschreiben, sondern kann sie sich ansehen. Es lassen sich beim Innehalten Fragen stellen nach der Fortsetzung oder der Korrektur der Biographie und nach einer Neujustierung von Zielen und Werten. Die nicht mehr brauchbaren Werte können einer Prüfung unterzogen werden. Die Präferenzliste der Werte kann umgestaltet werden. Die Chance … besteht darin, Distanz zu sich selbst zu gewinnen und dadurch sich selbst wieder in den Blick zu bekommen.“ (S. 290).
Eingedenk aller Inskonsistenzbereinigungsprogramme und aller Nebelkerzen ist mein aktuelles Buch Kurz vor Schluss natürlich auch dem Versuch geschuldet, „sich selbst wieder in den Blick zu bekommen“. Dem aufmerksamen Leser wird allerdings nicht entgangen sein, dass es im letzten Absatz – innerhalb des Zitats – eine kleine Auslassung gibt. Die Auslassung besteht aus zwei Worten, einem Artikel und einem Nomen: „der“ und „Depression“. Arnold Retzer begründet, warum die Depression „nicht nur leidvoll (ist), sondern auch Chance für ein besseres Leben“ bedeuten kann.
Schon die ersten Sätze zur Einleitung meines Buches zünden eine hochkalibrige Nebelkerze, wenn ich feststelle, mich zunehmend als einen sentimentalen Menschen mit einer ausgeprägten Neigung zur Melancholie zu erleben – und dann ergänze: „wohlgemerkt weniger mit depressiven Anwandlungen einhergehend als mit der tätigen Haltung eines dankbaren Zeitgenossen“; dem eine Neigung zur Depression aber offensichtlich nicht fremd ist.
Aber vielleicht ist es mir ja mehr oder weniger gelungen, die Retzerschen Empfehlungen und Anregungen dabei zu beachten bzw. zu bedenken? Nämlich:
- Dass das Festhalten an der Überzeugung, man wüsste schon, wer man wirklich ist, abträglich sein könne. In den meisten Fällen führe dies dazu, gerade jene bekannten Soll-Werte vor sich selbst zu bekräftigen, die zum eigenen Unglück entscheidend beigetragen hätten.
- Andererseits gebe dieses Unglück den Blick auf die Frage frei: „Wer bin ich nicht?“ Depressive Erfahrungen forderten geradezu heraus, diese lebenswichtige Frage zu stellen. Eine Konsequenz könnte damit verbunden sein, endlich „von den so ermüdenden Anstrengungen abzulassen, der zu sein, der man nicht ist“.
Ein solcher Weg – meint Arnold Retzer – eröffne Chancen für ein gutes Leben: „Und das hätten wir alle gern.“ Retzer führt die Begriffe Lebenskunst bzw. Lebenskünstler ein und warnt zugleich vor einem naiven Verständnis verbunden mit der Gefahr der Selbstüberschätzung. Vermittelten sie doch den Eindruck, als sei unser Leben ein Kunstwerk, das von Künstlern – nämlich uns – geschaffen werde. Der Vorstellung, dass wir unser Leben selbst bestimmen, erliege man allzu gerne:
„Unsere Biographien erscheinen dann als eine bewusste Verknüpfung von autonomen Entscheidungen, die uns ein selbstbestimmtes Leben haben führen lassen. Aber ist dies bei genauerem Hinschauen nicht doch nur eine erhebliche Verblendung? Blenden wir dabei nicht das aus, was oftmals die entscheidenden Wendepunkte unserer Biographie waren – Dinge, die uns widerfahren sind, Entwicklungen, die eher durch andere als durch uns selbst angestoßen, beeinflusst und gesteuert wurden? Die Vorstellung, dass nur wir selbst unserem gesamten Leben Form geben, ist nicht nur eine Illusion, sie führt auch auf eine Weise in die Irre, die für uns selbst destruktiv sein kann (S. 291).“
Erst im Nachgang zu dem zentralen Wendepunkt in meinem Leben – verbunden mit dem längsten Tag, dem 21. Juni 1994 – habe ich als Wanderer die ersten Schritte im Luhmann-Land unternommen und in den letzten 20 Jahren meine Traumpfade erwandert. Es mag eine Ironie des Schicksals sein, dass mir dabei der letzte zu Lebzeiten Niklas Luhmanns veröffentlichte Aufsatz Erziehung als Formung des Lebenslaufs (Frankfurt 1997, S. 11-29) die Möglichkeit bot, diesem Wendepunkt zunehmend mit einer Haltung zu begegnen, in der auch die Retzerschen Empfehlungen aufgehoben sind. Es mag sogar sein, dass mir die Depression als Alternative immer vor Augen stand, dass ich mich ihrem Sog allerdings nachhaltig entziehen konnte:
„Die Komponenten eines Lebenslaufs bestehen aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen“ (Niklas Luhmann, in: Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem – Lebenslauf und Humanontogenese als Medium und Form, herausgegeben von Dieter Lenzen und Niklas Luhmann, Frankfurt 1997, S. 19).
Sowohl im privaten Raum als auch im Kontext meiner beruflichen Tätigkeit identifizieren mich Freunde, Bekannte, Kollegen und Studierende häufig mit dieser Einsicht. Inzwischen vertrete ich sie mit Entschiedenheit – so wie auch in diesem Buch – zum Beispiel in Anerkennung der gelassenen und humorvollen Betrachtungsweise eines Odo Marquardt. Die Hybris des naiven Lebenskünstlers war gestern, während ich schon lange seiner Einsicht folge, dass wir alle weit mehr unsere Zufälle als unsere Wahl sind. Gleichwohl beharre ich auf der Illusion, dass ich dort wo ich vermeintlich die Wahl hatte – so oft ich auch daneben lag – im Großen und Ganzen die richtige Wahl getroffen habe bzw. dass ich gnadenvoll erwählt worden bin.
In einem zuweilen unbequemen Leben habe ich mich bequemt, auf die Frage: Und danach? mit einem gelassenen Achselzucken zu reagieren. In diesem Buch habe ich so Vieles versammelt, was davon zeugt, dass ich mich in Situationen der Bedrängnis – auch der fortgesetzten und nachhaltigen Bedrängnis – schreibend am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen habe; am eindringlichsten sicherlich mit dem Sterbetagebuch meiner Mutter.
- Was weiterhin und nachhaltig brennt, sind nach wie vor die biografischen Leerstellen, die wie eine Horizontverschiebung ad infinitum wirken. Ein Ende ist nicht abzusehen, und als Antreiber halten sie mich wach, solange ich geistig rege sein werde.
- Gleichermaßen aufgeklärt und abgeklärt lassen sich die Ergebnisse einer lebenslangen politischen Sozialisation heute einordnen. Mehrfach habe ich betont, dass der unvermeidbare Dissens mit meinen akademischen Lehrern – in Sonderheit mit Alfred Bellebaum – längst der Einsicht in den unschätzbaren Wert eines demokratisch verfassten Rechtsstaats gewichen ist. Wolf Biermanns Warte nicht auf bessre Zeiten hat diese Einsicht noch einmal ungemein bestätigt und vertieft. So steht man 45 Jahre nach den Ereignissen beispielsweise immer noch fassungslos vor der frühen Verirrung eines Ulrich Schmücker (siehe dazu die Dokumentation von Ute Brönnen und Gerald Endres). Seine Verblendung endete mit einem Fememord und seinem frühen Tod, dessen Hintergründe Stefan Aust beleuchtet – soweit es eine undurchsichtige und manipulierte Aktenlage zuließ (siehe die Aussagen von Stefan Aust in der Doku von Brönnen/Endres). Bei Ulrich Schmücker lernten einige von uns ihre ersten Gitarrenriffs.
- Milder hingegen erscheint inzwischen alles, was mit Liebe, Sex und solchen Sachen einhergeht. Amüsiert betrachte ich mit Karl Otto Hondrich den überschaubaren desaströsen Horizont einer sexuellen Biographie (unter diesem Link die 2. Impression), die in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ihre Wurzeln hat. Dass ausgerechnet jener Karl Otto Hondrich, der mich in den 70er Jahren als methodenversessener Soziologe langweilte, in Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft(Frankfurt 2004) auf ungewohnt persönliche Weise mit den Schlüsselbegriffen Bindung, Geborgenheit und Entschiedenheit den Horizont einer reifen und erfüllten Beziehungsgestaltung skizziert, passt zu meiner eigenen Entwicklungsdynamik, die dann mit Arnold Retzers Lob der Vernunftehe eine weitere gediegene und nachhaltige Bestätigung erfahren hat.
Was darüber hinaus bleibt und danach kommt? Hoffentlich mit Fulbert Steffensky (Stuttgart 2007) der Mut zur Endlichkeit, um dem Sterben in einer Gesellschaft der Sieger standhalten zu können bzw. sich ihm ergeben zu können. Der zentrale Wendepunkt in meinem Leben – der Tod meines Bruders am 21. Juni 1994 – hat meine Krise in der Lebensmitte mit ausgelöst und befeuert. Das jahrelange Driften in einer Zone der Wut und des Haderns ist lange schon einer Demut gewichen, die einer tief empfundenen Dankbarkeit den Weg ebnet; eine Dankbarkeit, die um die eigene Endlichkeit und Begrenztheit weiß. Der Mensch ist, weil er sich verdankt, sagt Fulbert Steffensky. Der Kreis schließt sich an dieser Stelle, und ich weiß warum das Buch mit einem Wort des tiefempfundenen Danks beginnt. Diese Haltung der Dankbarkeit zieht sich durch dieses Buch wie ein roter Faden. Und da diese Dankbarkeit immer wieder auch konkrete Gestalt annehmen soll, ermuntere ich Euch alle hiermit dieses Buch zu kaufen. Denn der Erlös aus diesem Verkauf kommt HELFT UNS LEBEN e.V. zu Gute, einer Initiative der Rhein-Zeitung für Kinder und Familien in Not!
Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit