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Bevor es losgeht – und vor allem, worum es eigentlich geht (Teil 1)

Eine aktuelle Einlassung (31.7.2018) - vor allem meinem Freund Herbert zugedacht - reden allein reicht nicht!

Der nachstehende Beitrag ist vor gut zwei Jahren entstanden; zwei Jahre, in denen sowohl das gesellschaftliche System (vor allem als Zivilgesellschaft) als auch das politische System die Folgen der Migrationsbewegungen - oft auch als "Flüchtlingskrise" bezeichnet - zu bewältigen bzw. zu gestalten versucht. In unzähligen Diskussionen setzen wir uns im Freundeskreis mit der Dynamik gesellschaftlicher Entwicklungen auseinander und versuchen unseren eigenen Standort dabei halbwegs nachvollziehbar zu definieren. Dies geschieht einerseits über das Wort und andererseits über konkrete Taten, die sich im besten Fall innerhalb eines beeindruckenden zivilgesellschaftlichen Aufbruchs verorten lassen. Dabei geht es von Lernpatenschaften mit konkreter Unterstützung im Spracherwerb und notwendiger kultureller Begegnung bis hin zu Hilfestellungen bei der Wohnungssuche oder der Auseinandersetzung mit dem administrativen Apparat.

Im Diskurs unter Freunden bin ich vor wenigen Wochen der nachhaltigen Enttäuschung eines guten Freundes begegnet, für den es nicht nachvollziehbar ist, dass ich als "gebildeter, intellektueller Mensch so weit nach rechts gerückt" sei. Wenn man das tradierte Rechts-Links-Koordinatensystem bemüht und eine Zeitspanne von 50 Jahren anlegt, dann muss ich Herbert Recht geben. Ich bin nach wie vor SPD-Mitglied, ich verstehe mich als einen aktiven und bekennenden Verfassungspatrioten, und ich bekenne, dass ich mich - heute mehr als früher - von den extremen Rändern des politischen Spektrums deutlich distanziere. Intellektuell bekenne ich mich als überzeugter Vertreter eines systemtheoretischen Verständnisse im Sinne von Niklas Luhmann. In der konkreten politischen Auseinandersetzung zeige ich mit Jürgen Habermas allerdings eine klare Kante, indem ich nicht nur behaupte, sondern auch belegen kann, warum politische Akteure wie Alexander Gauland und Björn Höcke lupenreine Dreckschweine sind. 

Ich bekenne mit dem nachstehenden Beitrag aber gleichermaßen noch einmal, dass man das "Dreckschwein-Etikett" nur mit Bedacht vergeben kann; nämlich indem man die perfiden Strategien dieser braunen Bauernfänger enttarnt. Noch haben wir alle Gelegenheit dies gediegen zu tun. Und damit das so bleibt und das Geschenk der freiheitlich-demokratischen-Grundordnung - jedenfalls im Sinne des Gleichheitsgrundsatzes - unangetastet bleibt, müssen wir Farbe bekennen - nicht nur mit Worten. Ich habe den nachstehenden Beitrag ausgewählt, weil er einerseits das Spektrum meines Engagements verdeutlichen soll und andererseits dafür wirbt, nicht anmaßend über politische Verirrungen zu urteilen, sondern beharrlich die Bedingungen solch fehlgeleiteter politischer Motive freizulegen. Irren ist menschlich, seine Irrtümer einzusehen, zu bekennen und umzukehren ist menschlicher!

Hier beginnt der Beitrag aus 2016:

Ich habe eine Verpflichtung als "Zeitzeuge" und versuche dieser Verpflichtung gerecht zu werden. Am 23.5.2016 habe ich erstmals mit Schülern gearbeitet. Diese Begegnung mit 16 bis 18jährigen Schülern hat in mir noch einmal die Frage und die Auseinandersetzung befördert, worum es eigentlich (und auch) geht. Ich beginne damit, mir selbst diese Fragen erneut zu stellen und nach Antworten zu suchen. Ich bin inzwischen nur noch ein Jahr entfernt von dem Alter, in dem mein Vater (er hat den Krieg als Soldat - jedoch nicht unversehrt - überlebt) starb, und ich bin weit mehr als doppelt so alt wie Franz Streit, der Vater meiner Schwester, als er in Rußland den Heldentod starb. Ich führe die Auseinandersetzung mit Moritz Pfeiffer, einem 1982 geborenen Kriegsenkel und seinem akademischen Lehrer Wolfram Wette. Ich begegne Susanne Miller und Jan Philipp Reemtsma. Ich beziehe mich auf Sönke Neitzel und Harald Welzer, und ich lerne von Heinrich Gerlach und ganz besonders von Bernhard Schlink. Es geht wieder los, bevor es so richtig losgeht!

Wer wir sind - Kriegsgeneration, Kriegkinder und Kriegsenkel begegnen sich

Es geht darum, dass der Krieg – der Zweite Weltkrieg – noch nicht zu Ende ist (siehe: Ein Abend mit Sabine Bode). Es geht um Zeitzeugenschaft und Alexander Kluges Hinweis, dass wir unter unseren acht Urgroßeltern nicht geboren sein werden. Es geht um den Bürgerkrieg, von dem wir manchmal – angesichts der Vielfalt unserer Herkunft – annehmen, dass er in uns tobt. Es geht um die Mühe, die manche haben, sich ihre Urgroßeltern, Großeltern und Eltern vorzustellen, auf die wir zurückschauen als die, die das Leben, an uns weitergegeben haben, das Leben – wie Bert Hellinger sagt –, das sie selbst jeweils von ihren Eltern empfangen haben, das durch sie hindurchgeflossen ist, bis es uns erreicht. Niemand, der es empfängt und der es weitergibt, kann etwas hinzufügen oder wegnehmen: „Wie immer die Einzelnen auch waren, gut oder böse, es hat das Leben nicht beeinflusst. Es kommt in seiner Fülle bis zu uns.“ (2003, 111f.) Und es bleibt bei uns nicht stehen. Im Nehmen und Weitergeben des Lebens sind wir allen anderen gleich.

Dass wir aber sind – und dass wir die sind, die wir sind, hat einerseits zu tun mit denen, die vor uns waren. Andererseits hinterlassen wir – wenn wir unser Leben leben – das sieht auch Bert Hellinger so –, jeder eine Spur. Etwas Eigenes beeinflusst, was wir empfangen wie auch das, was wir weitergeben. Und wie wir sind hat auch zu tun mit den Verstrickungen, in denen wir uns wiederfinden und für die wir Verantwortung tragen. Und vermutlich haben wir schon immer eine Ahnung davon, dass diejenigen besonders wichtig sind, denen wir einen Platz verweigern, die wir zurückweisen, verschweigen und/oder über die wir uns moralisch erheben.

Es geht um grundsätzliche Fragen von Schuld und Sühne und wie diese Zusammenhänge über die Generationen hinweg wirken. Es geht um Zeitzeugenschaft, über die wir Rechenschaft ablegen und die uns einnimmt für das, was uns gemäß ist. Was uns gemäß ist, lässt sich nicht beurteilen, ohne Beachtung der Kontexte, denen wir ausgesetzt sind und waren. Was für uns gilt, gilt auch für unserer Vorfahren.

Moritz Pfeiffer, 1982 geboren, hat ein Buch geschrieben: Mein Großvater im Krieg 1939-1945 (Bremen 2012). Das Geleitwort stammt von Wolfram Wette. Er bescheinigt Moritz Pfeiffer „quellennah, kenntnisreich, problembewusst und unprätentiös“ gearbeitet zu haben: „Er gefällt sich nicht in der Rolle des Anklägers, sondern beschränkt sich auf die Rolle des sensiblen, aber zugleich hartnäckigen Rechercheurs (S. 10f.). So gelinge es ihm, an einem familiengeschichtlichen Beispiel die Mechanismen von Erinnern, Vergessen und Verdrängen einsehbar zu machen:

Insgesamt – so Wolfram Wette – gelange der Autor zu der – ihn durchaus beunruhigenden – Einsicht, „dass meine Großeltern die Frage nach ‚Chronologie und Kausalität der Grausamkeiten‘ weder 1943 noch 2006 gestellt oder beantwortet haben“. Auch seien sie Zeit ihres Lebens unsensibel gegenüber den Leiden der Opfer geblieben. Der Enkel stufe seine „respektierten und geliebten“ Großeltern im Rückblick unter moralischen Gesichtspunkten als „belastet“ ein (vgl. S. 10).

Natürlich, und wie selbstverständlich – möchte man sagen – bewertet Moritz Pfeiffer das Leben seiner Großeltern im nationalsozialistischen Deutschland auch und gerade unter moralischen Gesichtspunkten und kann – füge ich hinzu – die Rolle des Anklägers doch nicht ganz vermeiden. Und Wolfram Wette stellt in bestätigender Weise fest: „Aus Umfragen von heute ist uns bekannt, dass Jugendliche die wesentlichen Fakten über die Zeit des Nationalsozialismus sehr wohl geläufig sind […] Und wie man sieht, verbindet sich bei Jugendlichen das historische Wissen – wie lückenhaft es auch immer sein mag – ganz selbstverständlich mit den moralischen Bewertungsstandards von heute (S. 7f.).“

Historischer Referenzrahmen und moralische Bewertungsstandards

Wir bewegen uns mit der offenen wie der latenten Anwendung von „moralischen Bewertungsstandards von heute“ auf die Kriegsgeneration konsequent in eine Klemme hinein, die Wolfram Wette am Ende seines Geleitwortes deutlich markiert und dennoch einseitig auflöst.

Diese einseitige Auflösung beruht zunächst auf der Zurückweisung der Frage (vgl. S. 11ff.):

„Und wie hättest du dich (damals) verhalten.“

Wolfram Wette fragt: „Ist besagte Frage gerechtfertigt? Bringt sie einen Erkenntnisgewinn? Wem nützt, wem schadet sie?“ Für eine Zurückweisung dieser Frage stützt sich Wolfram Wette auf gewichtige KombattantInnen; so Susanne Miller, die davon ausgehe, dass diese Frage eine „ganz unpassende und falsche sei“. Das von Wette mit Susanne Miller ins Feld geführte Argument erweist sich dann allerdings als höchst fragwürdig: Denn erstens könne sich niemand genau in die damalige Zeit der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkrieges hineinversetzen. Daher sei es zweitens ein „nutzloses Unterfangen“, sich mit solch „unterschwellig moralisierenden Fragen“ zu konfrontieren. „Stattdessen komme es – drittens – auf etwas ganz anderes an, nämlich darauf, was der junge Mensch aus der Geschichte gelernt habe und wie er das Gelernte heute und in der Zukunft zu praktizieren gedenke.“

Einen weiteren Kronzeugen bemüht Wolfram Wette mit Jan Philipp Reemtsma. Er spricht aus, was ganz offensichtlich auch Susanne Millers Argumentation anleitet, dass sich hinter dieser Frage, häufig die Anmaßung von Zeitzeugen verstecke, „die meinen, nur der könne mitreden, der dabei gewesen sei“. Wolfram Wette zitiert Reemtsma darüber hinaus, wenn er die fundamentalen Lehren beschreibt, die aus der NS-Zeit zu ziehen seien (vgl. ebd., S. 13). Reemtsma nennt sie das „zivilisatorische Minimum“ und führt dazu aus: „Wir müssen voneinander – ohne jede Nachsicht – verlangen, dass wir keine Mörder werden. Dass wir uns nicht freiwillig an Verbrechen beteiligen, dass wir andere Menschen nicht denunzieren, ihr Leben nicht zerstören.“

In der Summe sind sich Miller und Reemtsma einig – und Wolfram Wette schließt sich hier an –, dass die Frage „Wie hätte ich mich verhalten?“ letztlich keinen Erkenntnisgewinn erbringe. Sie diene allenfalls der Entlastung desjenigen, der sie stellt. Viel wichtiger und viel folgenreicher sei die Frage der heute lebenden Menschen:

„Wie soll ich mich verhalten?“

Wolfram Wette schließ sich an und mahnt: „Habe ich die historische Lektion über das ‚zivilisatorische Minimum‘ für die verantwortliche Gestaltung meines gegenwärtigen und zukünftigen Lebens gelernt?“

Wer würde hier widersprechen?

Damit wir uns andererseits nicht eine naive moralische Selbstgefälligkeit angedeihen lassen, bedarf es hingegen einer differenzierteren Betrachtungsweise, die Millers und Reemtsmas Argumente selbst kritisch hinterfragen. Wolfram Wette deutet dies zumindest an, indem er auf Bernhard Schlink verweist: Der Schriftsteller und emeritierte Staatsrechtler Bernhard Schlink, Verfasser des Weltbestsellers „Der Vorleser“ – so Wette –, habe neuerdings kritisiert, dass die NS-Geschichte mit heutigen Moralvorstellungen bewertet werde. Er spreche von einer um sich greifenden „Kultur des Denunziatorischen“. Schon in der Schule, kritisiere Schlink, werde statt des Verständnisses des Verhaltens im Dritten Reich dessen moralische Bewertung „eingeübt“. Er sehe die Gefahr, dass künftige Generationen von dieser Zeit einfach nichts mehr wissen wollten.

Wolfram Wette kritisiert Schlinks Position – er schütte hier wohl das Kinde mit dem Bade aus – und unterstreicht mit Miller und Reemtsma, dass es damit nicht getan sei. Auch er schließt sich der Forderung an, dass insbesondere die Historiker aufgefordert seien, „die Teilhabe vieler Zeitgenossen an den damaligen Staatverbrechen zu bewerten, und das geht nur mit den Augen und mit den Wertmaßstäben von heute“, was selbstverständlich jeweils genau kenntlich gemacht werden müsse.

Bernhard Schlinks Position und die radikalere Variante in der theoretischen Position von Neitzel/Welzer

Bernhard Schlink macht in seinem Vortrag darauf aufmerksam, dass Moralisierung immer mit einer Reduktion von Komplexität einhergehe (ich möchte hinzufügen, dass ihr in der Regel eine Beobachterhaltung erster Ordnung zugrunde liegt).

  • Bernhard Schlink plädiert schlicht dafür, im moralischen – auch im wissenschaftlichen, kulturellen Urteil den Kontext zu wahren, in dem das Vergangene sich abgespielt hat. Er warnt vor einer Haltung, die unterstellt, die damals Handelnden hätten wissen und denken können, was sich in 60 Jahren sozialwissenschaftlicher Forschung herausgestellt habe. Die damalige Lebenswelt sei weit entfernt gewesen von unserer heutigen Vorstellungswelt. Es erweise sich als zentrales Paradoxon, dass – in dem Maße wie unser Wissen wachse – sich die damalige Lebenswelt von uns entferne: „Je mehr wir über das Dritte Reich wissen, desto weniger wissen wir darüber, wie damals gelebt, wie gedacht und gefühlt wurde.“
  • Der Abstand zwischen dem, was aus heutigem Wissen und heutiger Reflexion an damaligem Wissen und Reflexion vorausgesetzt werde und dem, was damals tatsächlich gewusst und gedacht wurde – so Schlink –, werde mit dem Zuwachs heutigen Wissens größer und größer. Schlink bestreitet nicht das die damalige Lebenswelt nicht erforschbar wäre. Allerdings sei sie weniger die Welt der staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen, als vielmehr die Welt der sozialen Beziehungen, der Freundes- und Kollegengruppen, der Milieus. Sie hinterlasse ihre Spuren weniger in Statistiken, Akten und speziellen Verlautbarungen als vielmehr in privaten Aufzeichnungen, in Tagebüchern, Briefen, den Büchern, die damals gelesen, den Filmen, die damals gesehen, den Predigten, die damals gehört und den Vergnügungen, die damals gesucht wurden.
  • Wie die Menschen damals gefühlt hätten, lasse sich nicht ohne Einfühlung in ihre Wahrnehmungen und Empfindungen herausfinden. Und wie moralisch sie sich damals verhalten hätten, lasse sich nicht herausfinden ohne Rücksicht darauf, welche Verhaltensmöglichkeiten und moralische Verpflichtungen sie damals gesehen hätten.
  • Mit der heutigen Außensicht die damalige Innensicht zu verbinden, sei nicht unmöglich, aber eben schwierig! Das Desinteresse an der damaligen Innensicht komme auch daher, dass die Selbstzeugnisse der Kriegsgeneration oft der Rechtfertigung und Entschuldigung dienten.

„Es waren Legenden, Beschönigungen, Verfälschungen, die von der Nachkriegsgeneration demontiert werden mussten.“

Eine durchaus radikalere Position kommt den von Sönke Neitzel und Harald Welzer vorgelegten Überlegungen zum „Referenzrahmen des ‚Dritten Reiches‘“ bzw. zum „Referenzrahmen des Krieges“ zu (siehe dazu: „Pardon wird nicht gegeben“). Moritz Pfeiffer kann sich mit den „respektierten und geliebten“ Großeltern gewissermaßen auf Augenhöhe im Sinne noch lebender Zeitzeugen auseinandersetzen.

Opa war (k)ein Nazi und der Enkel ist ein Antifaschist - Was können wir heute sagen über den Sozialisationshintergrund von Franz Streit?

Von Oer- Erkenschwick ins Kärntner Lavanttal

Kurze Vorbemerkung

In einem Seminarkontext zu Kommunikationstheorien auf der einen Seite und zu Fragen der Lehrergesundheit auf der anderen Seite hat heute (10.6.16) ein Teilnehmer die Auffassung vertreten, dass das beobachtbare "Presswerk der Gegenwartsvernichtung" (Peter Fuchs) aus dem Blickwinkel von Dieter Lenzen unvermeidbarer Weise dazu führen müsse, das 17jährige Abitur machen und 21jährige dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen müssten, massenhaft "Desorientierung" zur Folge habe, weil 17jährige weder über die notwendige Lebenserfahrung noch über eine fundierte und solide Entscheidungsgrundlage verfügten, die sie in die Lage versetzten z.B. Verantwortung für eine Schulklasse zu übernehmen. Das Bundesfreiwilligenjahr (z.B. in sozialen Einrichtungen) oder selbstgewählte Aus- und Orientierungszeiten (travel and work etc.) seien kleine, aber notwendige Herausforderungen, um die nötige Reife zu erlangen.

Ich erinnere mich einer Äußerung meines Neffen, wonach die gegenwärtige Generation der 16jährigen aus seiner Beobachtung relativ lethargisch daherkäme und außer "Grillen und Chillen" nichts im Sinn habe. Er könne damit nur schwer umgehen, wenn er bedenke, dass er als 16jähriger mehrere Zeitungen ausgetragen habe, um sich wenigestens finanziell ein wenig Spielraum zu gestatten.

Sofort war bei mir wieder die Frage präsent, was denn 16-/17-jährige junge Kerle gemacht haben, um sich zu orientieren - wohlgemerkt in einer Zeit der Weltwirtschaftskrise, der Massenarbeits- und Perspektivlosigkeit und der politischen Umbrüche, in der eine von Krise zu Krise taumelnde (Weimarer) Republik zum Spielball und zum Zankapfel radikaler Kräfte von rechts und links gleichermaßen wurde?

Opa war ein Nazi!

Und was macht ein Enkel, der 60 Jahre nach dem Tod seines Großvaters erfährt, dass er – vermutlich als überzeugter Nationalsozialist – 20 Tage nach seinem 29. Geburtstag im September in Rußland den Heldentod gestorben ist? Hier geht es nicht um die Frage, ob jemand sich schlicht unter „moralischen Gesichtspunkten als ‚belastet‘“ erweist, sondern es geht allenfalls um die Rekonstruktion eines Lebens, das selbst den Preis bedeutet, für die Identifikation mit einem Regime, das nicht nur Europa mit Staatsterror und Genozid überzogen hat, sondern das bereit war Generationen junger Männer einer Blut- und Bodenideologie und der Hybris von der Herrenrasse zu opfern. Hierzu gibt es keine authentischere und ernüchterndere Lektüre als Heinrich Gerlachs „Durchbruch bei Stalingrad“!!!

Ich stelle mir selbst ganz unmittelbar immer wieder die Frage, wie ich mich verhalten hätte und was aus mir geworden wäre? Und ich kann nicht verhehlen, wie sehr mich meine möglichen Antworten schockieren, und wie sehr ich dankbar dafür bin, mir diese Frage nur theoretisch beantworten zu müssen! Antworten muss ich mir heute noch geben, warum ich mich 1977 vor dem Landgericht Koblenz wegen Landfriedensbruch, Nötigung und Beleidigung verantworten musste. Ich selbst habe mir durchaus einen konfrontativen politischen Sozialisationsprozess gestattet, den ich mehr als vierzig Jahre später auf seine Kontextbedingungen hin befragen kann. Ich kann mir sogar erlauben, aufzuzeigen, wie dieser Prozess einen kämpferischen Demokraten aus mir gemacht hat, der unsere fdGO heute leidenschaftlich vertritt und verteidigt.

Der von mir als „Zeitzeuge“ bemühte Franz Streit - der Großvater meines Neffen - war das Kind österreichischer Arbeitsmigranten, die vor Beginn des Ersten Weltkriegs ihr Heil in der Fremde, in Oer-Erkenschwick – auf der Zeche Ewald – gesucht haben. Der Bergbau lockte tausende von Arbeitsmigranten aus Polen, Italien und auch aus Österreich. Dies führte zu einer Bevölkerungsexplosion mit all den sattsam bekannten Folgeproblemen, insbesondere bei der Versorgung mit Wohnraum. Dort hinein wird am 3. September 1914 Franz Streit geboren – in die Jubelstimmung des aufbrechenden Völkergemetzels. Seine Kindheit ist eine typische Kriegskindheit, eine Kindheit der Entbehrungen und des Hungers hinein in die Wirren einer jungen, von Anfang an in Richtungskämpfe taumelnden Republik. Das Jahr seiner Einschulung ist das Gründungsjahr der NSDAP. Seine Lehrer sind Weltkriegsveteranen, die der Republik mehrheitlich distanziert bis feindlich gegenüberstehen. Sie vermitteln die Legende vom Dolchstoß genauso wie die Schmach von Versailles. Das Potential aktiver Demokraten war verschwindend klein. Die Ablehnung von Republik und Parteienstaat war Programm und die Schüler wurden mehrheitlich zu antidemokratischen Grundhaltungen erzogen. Eine konservative bis reaktionäre Lehrerschaft verkörperte die Traditionen einer obrigkeitsstaatlichen Nationalerziehung. Wolfgang Keim (Darmstadt 1995) spricht von einer „relativ problemlosen Faschisierung weiter Teile der Volksschullehrerschaft“ (ebd. S. 29).

Just als Franz Streit die Schule verlässt und auf den Arbeitsmarkt drängt, schließt die Zeche Ewald in den Turbulenzen der Weltwirtschaftskrise. Sie wird erst 1938 ihre Steinkohleförderung wieder aufnehmen. Die übergroße Zahl der Bergleute wird arbeitslos und fristet ein Dasein unter dem Existenzminimum. Die Arbeiter radikalisieren sich in unterschiedlichen politischen Milieus und Richtungen. Was den 16jährigen Franz Streit zu den Nationalsozialisten trieb, lässt sich im Einzelnen nicht rekonstruieren. Er selbst hat sein Heil als 18jähriger dann in einer Rückwärstbewegung gesucht, indem er in die alte Heimat Österreich ausweicht, wo es Verwandtschaft im Kärntner Lavanttal gibt. Christian Kölsch hat auf eindrückliche Weise gezeigt, wie gerade das Lavanttal sich zu einer Hochburg der Nationalsozialisten entwickelte.

Christian Klösch (Des Führers heimliche Vasallen - Die Putschisten des Juli 1934 im Kärntner Lavanttal, Wien 2007) widmet ein eigenes Kapitel der "Rolle der Lehrerschaft bei der Verbreitung der nationalsozialistischen Weltanschauung" (a.a.O, S. 32-36). Die Generation, die die Ära des Nationalsozialismus gestaltete und mitprägte, grenzt Klösch auf die Jahrgänge vo 1890 bis 1915 ein: "In Kärnten wurde diese Generation von Lehrer/-innen erzogen, die sich zum überwiegenden Teil zur großdeutschen Tradition bekannten. Schätzungen zufolge waren 80-90% der rund 1.350 Kärntner Pflichtschullehrer/-innen in den 1920er und 1930er Jahren deutsch-national eingestellt." Dies wird deutlich z.B. an Verlautbarungen, wie sie 1933 nach der Machtübernahme Hitlers im Kärntner Schulblatt verbreitet wurden: "Wir [...] haben dabei nichts umzulernen, sondern müssen uns in den Dienst der großen Sache stellen und mithelfen, die neue deutsche Reich aufzubauen (Zitat übernommen von Christian Klösch, a.a.O, S. 33)." Auch nach dem Anschluss - sozusagen im Rückblick - testiert der stellvertretende Gauleiter, Franz Kutschera in der Zeitschrift "Der Erzieher der Südmark", dass die Lehrerschaft "an den Kämpfen für unsere Weltanschauung und unser Recht" wesentlichen Anteil genommen habe. Klösch weist nach, dass spätestens 1933 die Lavantaler Lehrerschaft mehrheitlich auf nationalsozialistischer Linie gewesen sei: "Von den 109 Kärntner Lehrkräften an Volks- und Hauuptschulen, die seit dem Verbot der NSDAP dauernd oder vorübergehend entlassen wurden, stammten 30 aus dem Lavanttal, darunter alle vier Frauen. Das bedeutet, dass über ein Viertel aller Lavanttaler Lehrer/-innen in diesem Zeitraum wegen NS-Betätigung gemaßregelt wurden."
 
 Die Lehrerschaft agierte wiederum in einer Zeit der wirtschaftlichen Umbrüche und Krisen. Christian Klösch referiert, dass sich die wirtschaftliche Situation der Kärntner Bauernbetriebe im Zuge der Weltwirstschaftskrise dramatisch verschlechterte:
 
"Durch die Massenarbeitslosigkeit brach die Binnennachfrage nach landwirtschaftlichen Produkten ein. Die ständig steigende Steuer- und Abgabenquote des Staates sowie der Preisverfall bei allen landwirstschaftlichen Produkten infolge eines Überangebots in Europa verschärften die Krise. Eine Aufstellung aus dem Jahre 1933 besagt, dass die Bauern - verglichen mit 1913 - im Schnitt nur mehr 70%" des Werts für ihre Waren bekamen, die Kosten für die täglichen Gebrauchswaren aber um 140 bis 150% angestiegen waren."
 
Die Folge war ein rapides Absinken des Lebensstandards. Allein in Kärnten wurden 1933 - so berichtet Klösch - 876 Zwangsversteigerungen beantragt. Hinzu kam eine ausgeprägte industrielle Monostruktur im Lavanttal:
 
"Aufgrund von Absatzschwierigkeiten musste bereits 1930 z.B. die Papierfabrik Frantsch mit ihren knapp 600 Arbeitskräften komplett zusperren, und das Braunkohlebergwerk fand kaum mehr Abnehmer für seine Kohle. 1932, berichtet die Arbeiterkammer, stand im Bezirk Wolfsberg praktisch die ganze Industrie still [...] Die Stadt Wolfsberg begann 1931/32, an 'Ausgesteuerte', also solche Arbeitslose, die keine staatliche Unterstützung mehr bekamen, täglich ein Mittagessen und ein wenig Bargeld auszugeben. Insgesamt wurden in Wolfsberg im Winter 1931/32 300 Personen auf diese Weise unterstützt, im Winter 1932/33 waren es bereits 480."
 
In diesem Klima, in diesen Umbrüchen bewegte sich Franz Streit offensichtlich ab 1932 fast durchgehend. Unterkunft fand er bei seinen Großeltern. Christian Klösch zeigt in mehreren Kapiteln nacheinander auf,
 
  • wie 1. die politischen Parteien - auch im Übrigen die Sozialdemokratie - nach rechts rücken: "Die Ausschaltung des Parlaments am 5. März 1933 nahmen die Sozialdemkraten im Lavanttal ohne Protest hin";
  • wie das Bürgertum des Tales überwiegend eine "großdeutsche Einstellung" an den Tag legt;
  • wie das Lavanttal nach und nach von "nationalen Vereinen" dominiert wird: "Besonders die Turnerjugend fing an, mit der NSDAP zu sympathisieren: waren die Väter großdeutsch, so war die Jugend nationalsozialistisch [...] In Lavanttal wurden kurz vor und nach dem Juliputsch alle deutsch-völkischen Turnvereine wegen nationalsozialistischer Betätigung verboten und durften unter strenger Kontrolle der Behörden erst 1935/36 ihren Turnbetrieb wieder aufnehmen."
  • wie die Presse Schrittmacherdienste leistet: Das einzige "Regionalmedium", die "Unterkärntner Nachrichten" wurde nach der Machtübernahme Adolf Hitlers in Deutschland offen nationalsozialistisch: "Darüber hinaus schürten und verbreiteten sie antisemitische Vorurteile und Ressentiments."

Eine kurze Zwischenbemerkung:

Gestern, am 17. Juni, habe ich meine Schwester besucht. Sie hatte ihrerseits Besuch von ihrem zweitältesten Bruder - mag sich merkwürdig anhören - ergibt sich aber zwingend aus der Tatsache, dass ihr Vater (der ja nicht mein Vater ist) verheiratet war und mit seiner Frau Gerda zwei Söhne hatte: Gert (Jahrgang 1940) und Werner (Jahrgang 1942). Werner ist ziemlich genau ein halbes Jahr jünger als Ulla. Ihr könnt es ja in Hildes Geschichte nachlesen. Bei unserem gestrigen Zusammentreffen hat er mit noch einmal bestätigt, dass sein Vater - Franz Streit - vermutlich mit der ganzen Familie im Zuge der Weltwirtschaftskrise wieder nach Österreich (Kärnten) zurückgekehrt ist, und zwar zu seinen Großeltern, nach Sankt Leonhard im oberen Lavanttal. Werner hat mir erzählt, dass der Großvater keinen eigenen Landbesitz hatte, sondern Arbeiter war. Franz, sein ältester Sohn hatte in Sankt Leonhard, bei einem örtlichen Handwerksbetriebe ein Lehre als Maler begonnen. Am 3. September 1932 vollendete Franz Streit sein 18. Lebensjahr. Wie schon weiter oben bemerkt, wast die wirtschaftliche Lage im gesamten Lavanttal extrem angespannt.

Christian Klösch berichtet, dass die Auseinandersetzungen zwischen den Dollfuß-treuen Austrofaschisten und den Nationalsozialisten an Härte und Schärfe zunahmen. Am 6./7. Mai 1933 kam es zu Demonstrationen gegen Österreich und gegen den Kanzler Dollfuß. Klösch zitiert aus dem "Lavantaler":

"In der Nacht zuvor haben Nazihelden auf den Straßenseiten im Markte mit großen Lettern gegen Bundeskanzler Dollfuß Schmiere angebracht und in der Hakingermalerei Tüchtiges geleistet. Diesem nächtlichen Vorspiel folgte der Aufmarsch [...] in 'weißen' Hemden unter Führung des Bürgermeisters Weinberger. Auch Sprengelarzt Dr. Jantschitz samt Frau nahmen daran teil. An weiblichem Geschlecht und Schulkindern fehlte es nicht. Den Marschliedern folgten Sprechchöre gegen Bundeskanzler Dr. Dollfuß und die Aufführung des Kinderspiels 'Wer füchtet sich vor dem schwarzen Mann?' Der Vorschreier war ein gerichtlich abgestrafter SA Mann (a.a.O., S. 66)."

 

   
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