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Vorwort zu "Papa Anna Bleiben"

 

Fährmann hol mich über! Oder: Der Lebenslauf besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen (Niklas Luhmann)

Vor ein paar Jahren ritt Jochen Bittner in der Folge 3 der Artikelserie „Wo sind die Kinder?“ in der ZEIT eine heftige Attacke gegen die „Hoffnungsträger der Republik“ (ZEIT 6/04). In Wirklichkeit seien sie eine hoffnungslose Brut, zwischen 25 und 35 Jahre alt, die sich der Reproduktion verweigerten: Eine ganze Generation potenzieller Eltern ziehe es vor zu surfen, zu feiern…, statt auch nur einmal darüber nachzudenken, wer ihnen in vierzig Jahren die Schnabeltasse ans Bett bringen soll. Ein paar Abschnitte weiter wandeln sich die aggressiven Untertöne in ein eher sanftmütiges, von Mitleid getragenes Bedauern. Er beschreibt nämlich, dass die Wahrscheinlichkeit für einen jungen Erwachsenen mindestens einmal zu heiraten, in Deutschland mittlerweile auf 60% abgesunken ist. In den sechziger Jahren betrug sie immerhin noch 90%. Die Scheidungshäufigkeit hingegen – so Bittner - habe sich in den vergangenen Jahren hingegen verdreifacht: „Die Aussicht, dass eine Ehe zerbricht, liegt heute bei 40% (inzwischen sind es nahezu 50%, WR) – in den siebziger Jahren waren es 13%.“ All die Trends, die dahinter stehen, stellt Bittner allerdings auch in den Kontext einer Zunahme von Freiheit. Dabei siege Individualität über alte Konventionen und Moral werde zur Verhandlungssache. Trennung und Scheidung seien keine Schande mehr. Man gewinne den Eindruck, die Deutschen seien freier als je zuvor. Aber – so Bittners Schlüsselfrage: „Sind sie deswegen auch glücklicher?“ Die Antwort ist eindeutig: Nein! Die Ergebnisse vieler empirischer Studien muteten eher paradox an: „Auf der einen Seite gehen Beziehungen immer häufiger in die Brüche, auf der anderen Seite wünschen sich auch die Jüngeren eine lebenslange feste Beziehung, und nicht von vornherein eine auf Zeit: Sie glauben an die große Liebe und träumen davon, dass sie ewig währt.“

 

Vielleicht liegt in diesem Wunsch das universale und Generationen übergreifende Motiv, dass Tina Schneider und mich, eine junge Frau und einen älteren Herrn, die mehr als 30 Lebensjahre trennen, dazu veranlasst, ein gemeinsames Buch zu machen. Ein „gemeinsames Buch“? Es ist Tinas Buch, dem ich lediglich eine Einführung voran schicke und ein Nachwort hintanstelle, um meinerseits zu danken und zu fragen, ob es dieses oben erwähnte Motiv tatsächlich gibt. Daneben muss man sich natürlich fragen, ob es einen halbwegs überzeugenden Grund gibt, der nicht mehr überschaubaren Flut an Büchern über die Liebe ein weiteres hinzuzufügen? Die Begründung ist so schillernd, wie Tinas Geschichte; die Geschichte einer ver-rückten und ent-rückten Tina, die im Prozess des Schreibens langsam wieder Wasser unter den Kiel bekommt, die aus einer Rosamunde-Pilcher-Schmonzette eine Sach- und Lachgeschichte bastelt, an der wir Alte uns gleichermaßen erbauen wie bilden können.

Wir jungen Alten könnten eigentlich ja schon wissen, dass die Liebe möglicherweise erst da beginnt, wo das Verliebtsein endet. Mit solchen Spitzfindigkeiten werden wir uns in Tinas Geschichte zwangläufig beschäftigen müssen, denn die meisten Liebenden waren ja irgendwann auch einmal verliebt; und selbst diejenigen, die irgendwann der Auffassung sind, sich nicht mehr zu lieben, werden im Erinnern ihrer geschwundenen Liebe häufig jenen „Ursprungsmythos“ entdecken, der mit der Erfahrung eines heftigen Verliebtseins verbunden war.

Arnold Retzer (2004) empfiehlt, sich an den Wendepunkten oder gar am vermeintlichen Ende der Liebe dieser Ursprungsmythen zu erinnern. Taub, blind und stumm gegenüber dem verblassten Zauber des Anfangs (re)agieren wir allerdings häufig so, dass wir – vom Eros machtvoll getrieben – einen neuen Mythos begründen (wollen). Wir „fallen in die Liebe“, geraten in orkanartige Turbulenzen und betreten ein Land, in dem – so beschreibt es Arnold Retzer in seiner systemischen Paartherapie – die aktuellen Mythen des Fortschritts, die Autonomie und die vernünftige Beherrschung der eigenen Lebensbedingungen radikal und folgenreich in Frage gestellt werden. Insofern bleibt die Liebe natürlich ein Skandal. Sie ist alles andere als vernünftige Beherrschung, gar Selbstbeherrschung. Was kann die Liebe denn in einer funktional differenzierten Gesellschaft, die den Logiken und Zwängen des Funktionierens unterworfen ist, anderes sein als ein Skandal? Roland Barthes beobachtet 1977 im Kontext seiner „Fragmente einer Sprache der Liebe“ gar, dass wir von einer generellen Abwertung der Liebe ausgehen müssen, von einer Krankheit, von der man geheilt werden müsse. Man schreibe ihr keine bereichernde Kraft mehr zu wie früher. Allerdings hat natürlich eine solche Betrachtungsweise ihren Preis. Arnold Retzer meint, bei dieser Ausgrenzung der „unvernünftigen“ Liebe bestehe natürlich die Gefahr, dass nur noch ein vernünftiger, in keiner Weise mehr liebender Mensch zurückbleibe, für den umgekehrt aber auch die Gefahr nicht allzu groß sei, geliebt zu werden.

Von daher mag es nicht verwundern, dass ich mit David Schnarch (2004) darauf aufmerksam machen möchte, dass die meisten Menschen sich natürlich an Zeiten erinnern – meist eher die jungen Jahre – in ihrem Leben, in denen eine leuchtende und glänzende Erotik die ganze Welt zu durchfluten schien: „Sie erinnern sich an das herrliche Prickeln beim Anblick eines bestimmten Menschen und an ihren sehnlichen Wunsch, dieser möge lächelnd auf sie zukommen; sie erinnern sich an die heftige Gefühlswallung, als eine bestimmte Person ihren Arm berührte; sie erinnern sich an die unerträgliche Freude, dem geliebten Menschen unerschrocken in die Augen zu schauen. Selbst wenn die Menschen älter werden, heiraten, Kinder haben und in verantwortungsvoller Position sind, durchzuckt diese sexuelle Elektrizität sie immer wieder… Das kribbelnde Versprechen des Erotischen rüttelt einen immer noch auf, schenkt immer noch Lebenskraft und das innere freudige Erwachen, das nicht unerheblich zu dem Vergnügen und der Lust beiträgt, die man im Leben empfindet.“

Da strahlt es uns also mit der Leuchtkraft von tausend Sonnen an; das Urmotiv sich zu Erinnern, zu Erzählen, Mythen zu begründen, den eigenen VER-RÜCKTHEITEN auf der Spur zu bleiben, sich nicht gänzlich zu verlieren; die Fähre zwischen Skylla und Charybdis hindurchzusteuern, ohne dass sie zerschellt. Also schreib dein Buch, Tina! Du hast es schon geschrieben. Wie ich meine, auf eine eher ungewöhnliche Weise. Denn du lässt selbst Roland Barthes alt aussehen, der meint, dass es nicht unbedingt das Ende einer erlebten Liebesgeschichte ist, das zum Schreiben bewege. Seiner Erfahrung nach tritt der Wunsch, ein solches Buch zu schreiben, in zwei Momenten auf: „Entweder am Ende, weil das Schreiben eine wunderbare, besänftigende Kraft besitzt. Oder aber am Anfang, in einem Moment des Überschwangs, weil man glaubt, man werden einen Liebesroman schreiben – um ihn dann dem geliebten Wesen zu schenken und zu widmen.“ All diese Motive machen Tinas Geschichte zu einer schillernden Melange.

Aber dir ist noch etwas sehr viel Ungewöhnlicheres gelungen. Der „Mythos“, der in deinem Schreiben Gestalt annimmt, resultiert aus einer Unmittelbarkeit, wie sie vielleicht nur im Zusammenhang mit seismografischen Aufzeichnungen eines Erdbebens entsteht. Und dennoch wächst da Sprache, die immer in der Lage ist, diese Unmittelbarkeit zu brechen. Folgt sie einerseits den gewaltigen Ausbrüchen eines Seelenbebens, so löst sie die Bedrängnisse immer wieder auf in überraschenden und verblüffenden, selbstironischen und humorvollen Passagen, die gleichzeitig eine Metaebene des Erlebten begründen; eine Metaebene wohlgemerkt, die diesen Bericht für die Väter- und Müttergeneration von Tina zu einem beeindruckenden und lehrreichen Erlebnis werden lassen.

So sehr dieser funkelnde Diamant auch für sich selbst steht, so sehr lädt er uns Alte zu der Frage ein, wodurch und auf welche Weise sich denn hier eine Horizonterweiterung ereignet? Und mag es in der Tat für die Jungen und die ganz Jungen nichts zu lernen geben, weil sie viel zu sehr im Sturm der Liebe stehen und vor lauter Wald keine Bäume mehr sehen, so werden uns Alten Fenster und Türen geöffnet, durch die wir schauen und gehen können. Und vielleicht werden wir danach mehr verstanden haben, als wir vorher je verstehen konnten. Möglicherweise werden wir mit Tinas Hilfe zu Sehern (im Sinne Karl Otto Hondrichs, siehe Nachwort), die einen Lichtstrahl in das Dunkel ihrer eigenen verstrickten und verstrickenden Beziehungsnöte und die damit häufig verbundenen Wendepunkte in ihrem Leben werfen können.

Die verrückteste Idee ergibt sich dabei vielleicht aus der paradoxen Vorstellung, neben dem Verlieben könnte es so etwas geben wie ein Entlieben: Es lässt sich eine Theorie des Entliebens vorstellen und es könnte daraus folgend oder eher sie begründend eine Praxis des Entliebens Gestalt annehmen. Aber warum sollte es so etwas geben, warum sollte man sich darum bemühen? Nun, nicht jeder, der in die Liebe fällt, fällt damit in ein Rosenbett, in ein Blütenmeer, schwebend und bebend zugleich. Häufig bleiben von den Rosen nur verwelkende, fahle Nachwehen des tobenden und tosenden Lebens. Und in der härtesten Variante besteht das Rosenbett nur noch aus dürrem Gezweig und nadelspitzen Dornen. Dies setzt häufig umso rascher ein, je eindeutiger die Verstrickungen sichtbar werden, in denen man sich nolens volens wieder findet, wenn Adam Philipps´ so sehr zutreffender Aphorismus „Monogamie – aber drei sind ein Paar“ die Hintergrundmusik spielt. Dann beginnt häufig das Spiel zwischen Lust und Schuld, zwischen Begierde und Bindung, der manchmal einem Kampf zwischen Eros und Thanatos gleicht. Häufig beginnt dann das Taktieren und Winden, das Wimmern und Klagen; dann kämpfen Apoll und Dyonisos mit harten Bandagen, wie weiland zwei Highlander gegeneinander („Es kann nur einen geben!“). Wir verlieren die Kontrolle und unserer Fähre droht ständig zwischen der Skylla lustvollen Begehrens und der Charybdis vernunftgeleiteten Verzichts zu zerschellen. Am Ende sitzen alle vor den Aschehäufchen eines mächtigen Feuersturms, der sie hinweg gefegt hat und eine neue Ordnung nimmt langsam Gestalt an.

Dass du den damit verbundenen Wendepunkt in deinem Leben erreicht, kultiviert und genutzt hast – genau das wünsche ich Dir, liebe Tina.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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