Die Hand halten oder nicht
Zu einer zentralen Frage und zu einer aktuellen akuten Bedrängnis in meinem ganz persönlichen Alltag bietet einmal mehr die ZEIT (15/20, S. 29) den angemessenen und eindringlichen Reflexionsanstoß. Sie lässt den Vorsitzenden des Ethikrats, Peter Dabrock und den „bekanntesten Jesuiten des Landes“, Klaus Mertes miteinander darüber streiten, wie strikt Besuche bei Alten und Sterbenden begrenzt werden dürfen. Dabei übernimmt Dabrock die Argumentation aus der Sicht eines klassischen Utilitarismus:
Von einem konsequenten Utilitarismus (lat. utilitas, Nutzen, Vorteil) kann man sprechen, wenn Handlungen einer klaren Zweckorientierung folgen – vielleicht in einem von Experten angeführten Wohlfahrtsstaat, dessen Gesetze und Verordnungen das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl“ zu gewährleisten versuchen. Diesen Eindruck kann man gewinnen, wenn – wie vordem jedenfalls nicht in einem vergleichbaren Ausmaß – Virologen und Mediziner die Richtlinien der Politik maßgeblich beeinflussen zu scheinen. Hierzu passt der philosophisch-ethische Fachbegriff des Konsequentialismus als Sammelbegriff aus dem Bereich der Ethik, die den moralischen Wert einer Handlung aufgrund ihrer Konsequenzen beurteilen.
Klaus Mertes hingegen vertritt im Disput die Position einer klaren Individualorientierung, bei der pragmatisch und bezogen auf den Einzelfall Handlungsoptionen erwogen und umgesetzt werden.
Evelyn Finger und Charlotte Parnack (FP) moderieren durch gezielt stimulierende Fragehaltungen und –techniken, die den konfrontativen Charakter der jeweiligen Positionen sehr deutlich hervor treten lassen. Bereits die Eröffnungsfrage befördert die Polarität der weitgehend unvereinbaren Positionen recht knallhart ins Bewusstsein: FP beziehen sich auf Besuchsregelungen in Krankenhäusern und Pflegeheimen (hier am Beispiel NRW):
„Besuche sind untersagt, Ausnahmen unter Schutzmaßnahmen gibt es nur, wenn es ‚medizinisch oder ethisch-sozial geboten‘ ist, etwa bei Kindern und Sterbenden …] Finden Sie es richtig, dass Besuchsmöglichkeiten wegen des Coronavirus jetzt derart eng gefasst werden?“
Dabrock stimmt hier eindeutig mit dem Argument zu, man müsse eine Güterabwägung treffen: „Wenn die akute Gefahr besteht, das Besucher das Virus in die Einrichtung tragen, sodass die Einrichtung ihren Betrieb schließen müsste, weil es dort vermehrt zu Todesfällen kommt: dann ist im Sinne des Schutzes von Leib und Leben für eine gewisse Zeit eine Einschränkung der Selbstbestimmung möglich und auch richtig.“ Mertes hingegen „sieht das anders“ und konfrontiert Dabrock mit einer dilemmaträchtigen Frage: An einem persönlichen Beispiel weist er darauf hin, dass es beispielsweise für die Genesung schwer Erkrankter wichtig ist, „das jeden Tag ein naher Mensch ihm die Hand hält“. Schwerkranke dürften nach den erwähnten Regelungen keinen Besuch mehr bekommen. „Mit welchem Argument, Herr Dabrock, verweigern sie ihm das?“
Der Disput füllt eine ganze Zeitungsseite, wobei die konfrontative Ausgangslage hiermit markiert ist. Dabrock insistiert darauf, dass der Eingriff in die Grundrechte zeitlich befristet sei – immer einer akuten Beweislast ausgesetzt sei, die etwas zu tun habe mit der Qualität eines „Ausnahmezustandes“. Er wirft Mertes vor, von einer individualethischen Perspektive auszugehen, die den sozialen Kontext vernachlässige: „Ich meine, dass wir den Schutz der anderen Patienten und der Beschäftigten in der Einrichtung und das an der Grenze arbeitende Gesundheitssystem in Rechnung stellen müssen.“
Wie für ein Schulbuch aufbereitet, bleibt Klaus Mertes bei der ihm von Dabrock vorgehaltenen „individualethischen Perspektive“ mit der absoluten Betonung des Selbstbestimmungsrechts und befeuert auf diese Weise eine klassische Dilemmasituation, mit der wir uns alle gegenwärtig auseinandersetzen müssen: „Die Fürsorge für den einzelnen Kranken zählt also nicht, weil die Fürsorge für die vielen Gesunden wichtiger ist? Ich finde, Sie dürfen das Wohl der Institution nicht so kategorisch über das Einzelschicksal setzen. Es ist ein fundamentales Recht jedes Menschen, in der Not Beistand zu bekommen, selbst wenn sich für ihn ein Infektionsrisiko ergibt.“
FP verstärken die Entscheidungsnot durch zwei Beispiele, die uns vor Augen führen, dass es hier in der Tat nicht um einen akademischen Disput geht, sondern um alltägliche – schier ausweglos erscheinende Problemsituationen:
„Ein älterer Mann in Thüringen zum Beispiel, der mit seiner dementen Frau in einer Einrichtung lebt und sie pflegt, wurde von ihr getrennt, weil ihr Zustand sich verschlechterte und sie auf eine andere Station verlegt wurde – er droht mit Selbstmord, um zu ihr zu dürfen. Eine Kinderklinik in Hamburg nimmt kranke Kleinstkinder, die älter als ein Jahr sind, nur noch ohne elterliche Begleitung auf, bisweilen setzen Krankenhäuser schon Wachschutz gegen Besuche ein. Ist das alles noch verhältnismäßig?“
An dieser Stelle räumt Dabrock ein, dass Regeln – wo der Einzelfall nicht gesehen und die Ausnahme nicht gewährt werde – unmenschlich würden, und dass er dies alles andere als „toll“ fände.
Um das konkrete Ausmaß weniger konsequenter Regelungen greifbarer zu machen, konfrontieren FP Klaus Mertes mit der Frage, ob er denn den „vielfachen Tod von Alten wie jetzt in Italien in Kauf nehmen würde“? Klaus Mertes antwortet mit einem klaren: „Nein. Ich würde auch meine pflegebedürftige Mutter, die 91 Jahre alt ist, jetzt nicht anstecken wollen. Das gilt ebenso für meine Mitbrüder …] Unvorstellbar aber, sie völlig zu isolieren, weil Ausnahmezustand herrscht…“
Klaus Mertes erweitert die Perspektive um eine explizit politische Dimension und bezweifelt, dass beispielsweise ein Heimleiter, „der jetzt schon keine Ermessenspielräume mehr sieht, später wieder das Wohl des Einzelnen in den Blick nimmt …] Ich bin erschüttert über die hohe gesellschaftliche Akzeptanz der Beschneidung von Grundrechten.“ An dieser Stelle tritt der Dissens zwischen Mertes und Dabrock am deutlichsten zutage, da Dabrock mit einer gegenteiligen Bewertung aufwartet: „Ich bin nicht erschüttert über die Bereitschaft, sich einschränken zu lassen. Ich deute das als Zeichen der Solidarität.“
Peter Dabrock ist evangelischer Theologe, während Klaus Mertes katholischer Ordenspriester ist – offenkundig ein durchaus folgenreicher Unterschied, der sich auf eine dramatische bis süffisante Weise offenbart: Klaus Mertes hegt harsche Zweifel, dass all die Schutzmaßnahmen etwas mit Solidarität zu tun hätten. Er spricht vom Selbstschutz der Jungen und Gesunden. Es herrsche eine „irrsinnige Angst vor der eigenen Verletzbarkeit. Wir haben kein vernünftiges Verhältnis zu unserer Sterblichkeit …] Wir können Schwächere nicht schützen, ohne uns verletzlich zu machen. Der Hirte schützt das Schaf, indem er sich dem Wolf entgegenstellt.“ Insofern verteidigt er auch den Aufruf des Papstes an die italienischen Priester – von denen viele gestorben sind –, bei den Kranken zu bleiben: „Wer in der Nachfolge Jesu lebt, der darf vor der Todesgefahr nicht zurückschrecken.“
Peter Dabrock hält nun Peter Mertes an dieser Stelle vor, dass er katholischer Ordenspriester sei und dass seine radikale Haltung nun ein Vorteil des Zölibats sein möge. „Zu meinem christlichen Lebensmodell“ – Dabrock – „gehört meine Familie mit Kindern. Von der Verantwortung für sie kann und will ich nicht abstrahieren.“ Man mag es nun für eine besondere Art von Sarkasmus halten, dass Peter Mertes hier entgegnet: „Danke für dieses starke Argument für den Zölibat.“
Auch im Schlussakkord formieren sich noch einmal die Bataillone einer pragmatisch-utilitaristischen Haltung gegenüber einer radikalen individualethischen Position. FP stellen die Frage in den Raum: „Lassen wir andere Menschen um unserer selbst willen allein sterben, ja oder nein?“
Klaus Mertes: „Nein. Wenn ich für mich das Recht beanspruche, nicht alleine zu sterben, darf ich es auch anderen nicht verweigern, selbst in Extremsituationen.“
Peter Dabrock: „Menschen sterben oft auch allein im Operationssaal. Aber Sterbende zu begleiten bleibt ein Werk der Barmherzigkeit. Wir müssen jetzt alles, alles versuchen, damit das gelingt.“
Auch ich befinde mich mit meiner Familie in einer Extremsituation: Seit 14 Tagen haben wir Claudias Mutter (96), meine Schwiegermutter nicht mehr besucht. Wir haben sie bis zum 22.März jeden Tag besucht. Mir helfen die Rückmeldungen aus dem Laubenhof, dass es ihr gut geht. Und mir, der ich sie fast täglich gesehen habe, hilft, dass ich sie auf einem konsequenten Weg in die Demenz weiß. Der tägliche Besuch kam für jeweils einundeinehalbe Stunde einem Kokon gleich, der in seiner rigiden Struktur und Ritualisierung eine extemporalisierte Wohlfühlsituation erreichte – mehr oder weniger in seiner Ausprägung und Güte. Mein ganz persönlicher Trost liegt darin zu hören, dass sie mit Appetit weiterhin ihre Mahlzeiten wahrnimmt und dass sie auf Ansprache reagiert. Und ich hoffe, dass es dann nicht so ganz entscheidend sein mag, dass ich derjenige bin, der das jeweilige Gegenüber ausmacht. Die Beantwortung der Frage, was ich, was wir vermissen durch die Kontaktsperre hat etwas zu tun mit der Tapferkeit derjenigen, die – wie Peter Dabrock – die Auffassung vertreten, die Einschränkung der Grundrechte sei im Interesse der Vielen die angemessene Richtlinie der Politik – allerdings nur bis zu dem Punkt, an dem es dann doch irgendwann um den finalen Abschied geht. An jeder erdenklichen Stelle meines Lebens und meiner Verantwortung habe ich und werde ich daran keinen Zweifel aufkommen lassen.