Maurice Halbwachs - Bücher und ihre Geschichte(n) - Bücher und ihre Botschaften
Die meisten von uns kaufen Bücher oder bekommen Bücher geschenkt. Zweimal in meinem ausgehenden Berufsleben sind mir Bibliotheken übereignet worden - vielleicht 10.000 Bücher und Schriften, derer ich mich bedienen konnte - in denen ich mich verlieren konnte. Den Zugang zu einer der nachgelassenen Bibliotheken verdanke ich mittelbar meinem langjährigen Institutsleiter, Prof. Dr. Rudi Krawitz, der mir (und einem seiner Mitarbeiter) die Einlagerung der nachgelassenen Bibliothek von Prof. Dr. Ernst Begemann anvertraute bzw. überließ. Dies war ein Jahr vor der Versetzung in den Ruhestand und führte zu einem nachhaltigen Skandal in jenem Institut, dem ich bis zum September 2017 angehörte. Was den Skandal anbelangt, ist hier lediglich festzuhalten, dass während eines Krankenhausaufenthaltes im Frühjahr 2017 der gesamte bibliothekarische Nachlass Ernst Begemanns im Altpapier-Container landete. Wer - in den 50er und 60er Jahren Sozialisierte - wäre wohl in der Lage, dies unwidersprochen hinzunehmen. Im Zuge dieser Einleitung möchte ich so weit gehen, an dieser Stelle festzuhalten, dass es sich wohl nicht nur um die Wertschätzung eines Nachlasses mit vielen persönlichen Anmerkungen und Einlassungen handelt. Ich habe seinerzeit gesprochen von morphischen Feldern und heillosen Kränkungen: Ernst Begemanns nachgelassene Bibliothek - ein Schlusswort! Glücklicherweise war es mir persönlich gelungen, einige hundert Bücher (incl. der Anmerkungen Ernst Begemanns) vor der Vernichtung zu bewahren. Der folgende eingerückte Abschnitt mag meine Betroffenheit noch einmal unterstreichen und wird zugleich mit der ernüchternden Einsicht verbunden, dass nur mein langjähriger Institutsleiter bereit war, noch einmal genauer hinzusehen.
Ich will mit Blick auf den bedauerlichen Umgang mit Ernst Begemanns bibliothekarischem Nachlass zu einem Abschluss kommen. Dabei offenbart sich für mich, wie sehr Ernst Begemann mit seiner nachgelassenen Bibliothek ein morphisches Feld (Rupert Shaldrake) aufspannt, das auch meinen Versuch nachhaltig beeinflusst, vor meiner Versetzung in den Ruhestand mit Kurz vor Schluss eine private und berufliche Bilanz zu ziehen. Ich lasse die Hoffnung noch nicht fahren, dass der ein oder andere Akteur in diesem Geschehen zumindest Bereitschaft zeigt, noch einmal etwas genauer hinzusehen. Die ganze Wahrheit ist hierbei allerdings nicht zu haben!
Die zweite nachgelassene (Arbeits-)Bibliothek verdanke ich meinem Freund Prof. Dr. Winfried Rösler (die Kollegen werden hier im Übrigen alle mit ihren akademischen Titeln wiedergegeben, weil es in diesem Beitrag um akademische Nachlässe geht). Ich war weder in dem einen Fall in der Lage, dem Nachlass gerecht zu werden, noch ist es mir im zweiten Fall gelungen, die nachgelassenen Schätze angemessen zu adressieren. Immerhin habe ich aber inzwischen für die noch existenten Bücher und Tonträger einen Abnehmer gefunden. Ein örtliches, neu eingerichtetes Seniorenstift übernimmt wesentliche Anteile für eine zu begründende Hausbibliothek.
Und nun zum eigentlichen Auslöser dieses Beitrages.
Einmal mehr hatte ich heute das Vergnügen mich um meine jüngste Enkelin kümmern zu dürfen. Während ihres Mittagsschlafes stöberte ich in den Regalen meiner Tochter und meines Schwiegersohnes. Dabei stieß ich auf eine Veröffentlichung von Maurice Halbwachs, eine in der Reihe suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1985 veröffentlichte Publikation, die erstmals 1925 erschienen war: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Die Quittung der Buchhandlung Bauer in Vallendar lag noch bei. Winfried Rösler hatte es am 21. August 2006 erstanden. Die Taschenbuchausgabe erscheint jungfräulich und weist keinerlei Bearbeitungshinweise auf. Wenige Stunden später hat sich dieser Zustand gründlich gewandelt, und ich zitiere in der Folge 100 Jahre alte Erkenntnisse, Thesen, Annahmen, die mich teils erheitern, teils verblüffen, aber durchaus auch schockieren. Das fünfte Kapitel trägt die Überschrift: Das kollektive Familiengedächtnis (Seite 203-242). Maurice Halbwachs (es ist unabdingbar, sich den kurzen Wikipedia-Eintrag anzuschauen) geht hier der Frage nach: "Was ist also eigentlich dieser Familiensinn und dieses Familiengedächtnis? Welche von all den Ereignissen, die in der Familie stattfinden, behält es?" (S.222)
Ich fühle mich genötigt zu begründen, warum ich mich schockiert fühle: Unter der Maßgabe, dass ich in der Folge auch belegen kann, dass Maurice Halbwachs nicht (nur) ein latentes - möglicherweise im Sinne von generationsübergreifenden Traumata - Familiengedächtnis im Blick hat, stellt sich unmittelbar die Frage, worin sich denn ein Familiengedächtnis manifestieren könnte? Die brutalste Erkenntnis ist zweifellos die, dass es in meiner Familie keine manifesten Spuren eines solchen Familiengedächtnisses gibt - abgesehen von meinen eigenen Bemühungen. Familiensinn - dies wird sich auch im Sinne der Thesen von Maurice Halbwachs bestätigen, gibt es inselhaft, vor allem mit Blick auf die mäandernden Verästelungen innerhalb eines nur noch mit dem Begriff der Sippe zu greifenden komplexen Phänomens. Maurice Halbwachs stellt vor hundert Jahren zunächst einmal fest:
"Suchen wir einen Vorstellungsrahmen, der uns zur Wiedererweckung von Erinnerungen dienen könnte, so denkt man sofort an die Verwandtschaftsbeziehungen, wie sie in jeder Gesellschaft festgelegt sind. Wir denken tatsächlich dauernd an sie, weil unsere täglichen Beziehungen zu den Unsrigen wie auch zu den Mitgliedern der anderen Familien uns unablässig zwingen, uns daran zu orientieren." (S. 222) Halbwachs bedient sich vordergründig betrachtet lapidarer Anmerkungen: "Von dem Augenblick an, wo ein neues Mitglied in sie eintritt, räumt die Familie ihm einen Platz in ihrem Denken ein. Es mag durch Geburt, Heirat, Adoption in sie hineinkommen, sie merkt sich das Ereignis, das ein Datum besitzt und in der Tat unter besonderen Umständen stattfindet. Daraus entsteht eine Initialerinnerung, die nicht mehr verschwinden wird." (S. 225) Selbst dann nicht - möchte ich hinzufügen -, wenn derjenige seinen Platz in der Familie verliert; aufzuzeigen am Beispiel meines (Ex-)Schwagers.
Maurice Halbwachs hat - wie gesagt vor hundert Jahren (und im Übrigen auch als Schüler Emil Durkheims) - dazu bereits folgende Vorstellung entwickelt:
"Mit den Personen und den Ereignissen der Familie verhält es sich wie mit vielen anderen. Es scheint so, als ob man sie sich auf zweierlei Arten in Erinnerung bringe: einerseits, indem man besondere Bilder beschwört, die jeweils einer einzigen Tatsache, einer einzigen Begebenheit entsprechen - das wäre hier die Folge der ganzen Eindrücke, die wir von unseren Angehörigen besitzen, und die es erklärt, daß wir ihnen ein eigenes Gesicht zuerteilen, und sie nicht mit anderen verwechseln -; andererseits, indem man bei Nennung ihres Namens ein Vertrautheitsgefühl empfindet wie in Gegenwart eines Wesens, dessen Stellung in einem Ganzen und dessen relative Lage zu den benachbarten Wesen und Gegenständen man gut kennt - hier handelt es sich um die Vorstellung von den Stufen der Verwandtschaft, wie sie sich mit Worten zum Ausdruck bringen läßt." (S. 225f.)
Hochinteressant - auch mit Blick auf meine eigenen Bemühungen um ein Familiengedächtnis (nehmen wir meine Mutter und Hildes Geschichte; nehmen wir meinen Bruder und den Versuch die damit verbunden Wunde zu heilen) nimmt sich eine Bemerkung aus, die Maurice Halbwachs in einen größeren, experimentellen Kontext einbettet:
"Nur diejenigen der Vorfahren halten sich in der Überlieferung, deren Andenken immer lebendig bleibt, weil die heutigen Menschen ihnen einen Kult gewidmet haben und mit ihnen, zumindest in fiktiver Weise, in Beziehung bleiben. Was die übrigen betrifft, so verschmelzen sie zu einer anonymen Masse." (S. 229)
Maurice Halbwachs fragt: "Was würde geschehen, wenn sämtliche Mitglieder meiner Familie verschwunden sein würden?" Er vermutet, dass er eine gewisse Zeit die Gewohnheit beibehalten würde, ihren Vornamen einen Sinn beizulegen und erklärt dies folgendermaßen:
"Wir sind tatsächlich, wenn eine Gruppe uns lange mit ihrem Einfluß durchdrungen hat, derart durch diesen Einfluß gesättigt, daß wir, wenn wir uns alleine wiederfinden, so handeln und denken, als ob wir noch immer unter ihrem Druck stünden. Das ist ein ganz natürliches Gefühl, denn ein frischer Verlust bringt erst im Laufe der Zeit alle seine Wirkungen hervor." (S. 228)
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