<<Zurück

 
 
 
 

Lautverschiebung (22)

Über die Jahre I

Der kleine Winzig sprach zu seiner Frau:
Komm in den totgesagten Park und schau
Wie alle Kräutlein wieder blühn.
Sie blühen rotgelblilablau
Und alles ist voll Hoffnungsgrün!

Der kleine Winzig sprach zu seiner Frau:
Vertreib mit mir die Trübsal und das Grau!
Ich bin so selbstbewusst und kühn
Und weder trunken, blind noch blau,
Die Liebe soll auf’s Neu erblühn.

Der kleine Winzig sprach zu seiner Frau:
Nimm’s Leben leicht, nicht so genau!
Die Last, das Leid und auch die Mühn
Sind Mörtel im Familienbau,
Worüber nachts die Sternlein glühn!

Der kleine Winzig sprach zu seiner Frau:
Zur Welt gehörn der Eber und die Sau!
Die Frau ist keine platte Fläche,
Sie hat Kontur und Vorderbau,
Den ziert sie auch mit Wäsche!

K(l)eine Trauer

Alle Frauen werden Nonnen
– Jung und alt!
Mein heißes Blut ist nun geronnen
Und mein Herz wird kalt.

Erbärmlich fleh ich um ein bisschen Zeit.
Der Kopf denkt: Nein!
Die Seele schreit –
Und alle sind allein.

Erde, Wasser, Luft und Sonne,
Alles schien schon dein/mein.
Kosmisch diese Wonne,
Ach du/ich armes Schwein.

Leben ist auch Pflicht!?
Gewiss mein Kind –
Adel durch Verzicht,
Wo Astern Rosen sind.

Wo Sommer Winter bleiben.
Hör doch Bruder:
Lass das Schreiben,
Geh ans Ruder!

Lass es rollen
Durch die Welt!
Du musst wollen,
Wo und wann es hält.

Draw a distinction! 

Unterschiede,
Die einen Unterschied machen,
Beleben das Leben.
Dies dacht ich grad eben.

Fast nüchtern und unaufgeregt
Pfleg ich Arschloch und Zähne.
Die Kellnerin hat gut aufgelegt:
Und wie ich so wähne

Regt sich ein wenig die Trauer.
Bescheiden – aber immer ein Abschied –
Sitzt der Frosch vor der Mauer,
Beginnt müde sein Lied.

Er weiß: Heute erhört ihn niemand.
Da bleibt er lieber gleich stille
Und blickt in ein Land
Voll Lust, doch mit nüchterner Brille.

Unterschiede,
Die einen Unterschied machen,
Beleben das Leben.
Dies dacht ich grad eben,
Was will man da machen.

Es vollzieht sich das Leben
Und manchmal die Ehe.
Mal Wohl und mal Wehe.
Draw a distinction – na eben!

Paarlauf

Schau, das Paar und seine Kreise –
Wie es sprüht und lebt
Und auf synchrone Weise
Über allen Niederungen schwebt.

Sieh nur ihre Augen strahlen
Und ihr Lachen in der Sonne blitzen,
Ihre Körper fliegen, malen,
Während ihre Spuren ritzen

Feine Linien in das Eis.
Ihre Herzen jubilieren, springen,
Ihre Seelen schimmern rein und weiß,
Engel hört man Halleluja singen.

Ach, so leben wir doch alle
Für ein Jahr, auch mal für zwei,
Tappen blindlings in die Falle
Und aus Eigenart wird Einerlei.

Immer wieder habe ich auf sprachlich verdichtete Formen der Daseinsbeschreibung und –bewältigung  zurückgegriffen. Wie Seismographen zeichnen sie Eruptionen auf; in der Regel orientiert an wendepunktrelevanten Ereignissen und Geschehnissen. Die weiter oben wiedergegebenen fünf Gedichte sind nach 1997 entstanden. Sie weisen eine erste – zunächst sanfte – dann immer bestimmter auftretende Lautverschiebung auf. Sie taugen erstmals dazu eine rein düstere, destruktive Haltung zu ersetzen durch eine Perspektive, die mit einer Mischung aus sanfter Resignation, Humor und Selbstironie so etwas erzeugt wie eine Beobachtungsqualität zweiter Ordnung. Eine solche Qualität nimmt dann Konturen an, wenn genügend Abstand von den Dingen sowohl Selbstdesinteressierung als auch Selbstironie ermöglicht. Insgesamt sind aus meiner Feder etwa 120 Gedichte geflossen, die sich genau an diesem markanten Unterscheidungsmerkmal differenzieren lassen. Es werden weitere Gedichte folgen, die die beobachtete Lautverschiebung zu einer Sinnverschiebung anstoßen, in deren Folge eine eher kindlich-naive-trotzige Haltung einer widerborstigen Welt gegenüber einer zunehmend reifen und realistischeren Perspektive weicht.

Darin spiegelt sich vielleicht mehr und mehr die von Reinhold Niebuhr  in einem Aphorismus empfohlene Haltung, mit Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die wir nicht ändern können, mit Mut, die Dinge zu ändern, die wir ändern können, und mit Weisheit, das eine vom anderen unterscheiden zu  können. Diese Weisheit wird einem aber ganz offensichtlich nicht in den Schoß gelegt. Eine weitere hilfreiche Unterscheidung in diesem Zusammenhang übernehme ich von Odo Marquard: Das Zufällige - das, was auch anders sein könnte, weil es durch uns änderbar ist - versteht Marquardt als eine "beliebig wählbare und abwählbare Beliebigkeit". Er nennt es das Beliebigkeitszufällige. Davon unterscheidet Marquard das Zufällige, das zwar auch anders sein könnte, aber gerade nicht durch uns änderbar ist (Schicksalsschläge: also Krankheiten, geboren zu sein und dgl.).  Marquard geht also davon aus, dass es eben nicht nur das Beliebigkeiteszufällige gibt, sondern auch das Schicksalszufällige.

Kleine Randbemerkung zur Philosophie Odo Marquardts: Dazu gehört essentiell die Überzeugung, dass es überwiegend Zufälle dieser zweiten Art (Schicksalszufälle) sind, "die als natürliche und geschichtliche Gegebenheiten und Geschehnisse, welche uns zustoßen, unser Leben ausmachen (Zukunft braucht Herkunft, Stuttgart 2003/2015, S. 157f.)". Er geht so weit zu behaupten, dass das Schicksalszufällige die Wirklichkeit unseres Lebens ausmacht. Das habe vor allem Hermann Lübbe gezeigt - Handlungen würden dadurch zu Geschichten, dass ihnen etwas dazwischenkomme, passiere, widerfahre: "Eine Geschichte ist eine Wahl, in die etwas Zufälliges - etwas Schicksalszufälliges - einbricht: darum kann man Geschichten nicht planen, sondern muss sie erzählen (ebd., S. 158)."

Ja, gewiss ist dies wohl auch zu meinen Urmotiv geworden Geschichten zu erzählen – nunmehr unter der Maßgabe einer maßgeblichen Lautverschiebung, die eine behutsame, aber markante Verschiebung der Sinnkoordinaten zur Folge hat. Die von Odo Marquard angebotene Unterscheidung wird auch von dem bereits mehrfach erwähnten Paartherapeuten Detlef Klöckner aufgenommen. Dabei ist zunächst für ihn deutlich, dass sich im Kontext einer Langzeitperspektive quasiautomatisch Klippen auftürmen, „an denen das Paar scheitern oder wachsen kann“. Und ebenso deutlich sind für ihn die Unterschiede, die sich mit Blick auf lebenslange Monogamie auf der einen Seite und serielle Monogamie auf der anderen Seite ergeben:

„Manche persönliche und manche gemeinsame Transformationen sind nur erfahrbar, wenn man in einer Beziehung verbleibt, andere nur, wenn man immer wieder wechselt oder sich fern von Beziehungen aufhält. Um diese Unterschiede kommt niemand herum. Man wird im Leben also einiges oft, anderes weniger und vieles nicht erleben, je nachdem, welche Weichen man sich selbst stellt, und natürlich, welche das Leben zufällig anbietet und aufbürdet (Detlef Klöckner, Phasen der Leidenschaft, Stuttgart 2007, S. 100).“

Wer im Sinne des Phasenmodells, das Detlef Klöckner entwirft, bis zur letzten Phase – bis zum Fürsorglichen Finale – durchhält, weiß, dass man eine Ehe so wenig planen kann, wie Geschichten; also bleibt im Grunde genommen – sofern man sich selbst auf der Spur bleiben will – nur die Möglichkeit, zu erzählen: Phase I  –  VERZAUBERUNG – bildet den Auftakt meiner Erzählungen, genauso, wie Detlef Klöckner sie charakterisiert, als singulare Verliebtheit, die vom mentalen Ausnahmezustand bis zur Lust-Angst-Ambivalenz reicht. Phase IV – INTIME DIALOGE – geht ein in die Kapitel 20 und 21. Klöckner spricht von Gewohnheiten und Umbrüchen und Freundschaft; von Wiederverzauberung versus unromantischer Fixierung. Sieben Liebesbriefe – geschrieben zwischen März und Juli 2008 – belegen die Wiederverzauberung (in der Mohnfrau, Seite 109-133). Gemeinsam haben wir - Claudia und ich, je auf unsere Weise - versucht unser Schiff durch hohen Seegang zu steuern, nachdem wir beide erfahren haben, welche Weichen das Leben zufällig anbietet und uns auch aufbürdet. Mehrfach schon habe ich erwähnt, dass wir auf ein gemeinsames FÜRSORGLICHES FINALE hoffen; Phase V nach Klöckner; im besten Falle geprägt von einer komplementären Vertrautheit und dyadischer Dämmerung. Hier geht es noch einmal und zuletzt um existentielle Erfahrungen, Vermächtnis und in der Regel unvermeidbare Degeneration. Was uns jetzt schon hilft – und warum ich diese Aufzeichnungen auch als Vermächtnis betrachte – hängt mit unserer starken generativen Verankerung zusammen. Detlef Klöckner schreibt dazu:

"Phase V ist ein Spagat des abnehmenden Lebens. Das Paar steht vor der Bilanz seiner zurückliegenden Aktivitäten. Es braucht selbst Stütze und hat die Aufgabe, seine Lebenserfahrung und Werte an Nachfolgende zu vermitteln. Die leidenschaftlichen Wendungen der Altersbeziehung gehen über das Individuelle hinaus. Es ist eine Suche nach Versöhnung, Weitergabe und spirituellem Halt (S. 232f.).“

Ein Aspekt der Bilanz unserer zurückliegenden Aktivitäten lässt sich lyrisch verdichten, indem die Rückschlüsse aus Phase IV – Intime Dialoge – eine andere Klangfärbung annehmen als die von mir – vor allem in Phase I – Verzauberung – angebotene Liebeslyrik:

Überstehn

Wir sind die Silben
Auf dem Sprung zur Sprache
Wir schreiben dieses Buch,
Wir haben es geschrieben.

Du und Ich,
Erst zaghaft, überrascht,
Dann freudig, sanft getrieben,
Als ging es ums Verlieben.
So traumhaft finden sich die Worte,
Denn jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.


Doch streben wir nicht zu den Sternen,
Wir wissen doch:
Aus dieser Welt gilt es zu lernen.
Wir segeln dabei hart am Wind
Und sehen beide,
Was der Horizont verspricht.
Dahinter liegt Phantasia
Doch nicht für uns.


So können wir bewahren,
Was andern früh im Feuer schon verbrennt,
Wenn Alter blind in Ego rennt.


Wir lindern unsre Schmerzen,
Bewahren uns in unsren Herzen
Und mischen die Essenzen neu.


Wir bleiben auf der Hut,
Und finden immer neuen Mut,
Und werden nicht das Höllenfeuer sehn,
Wir werden unverzagt uns überstehn.

Auch wer sein Pferd von hinten aufzäumt, muss nicht verkehrt herum aufsitzen - Warum ich unbedingt einem toten Gaul die Sporen geben wollte (21)

Ja, unsere Nachbarin auf dem Heyerberg. Von unserem Wintergarten sehe ich  das Wohn- und Arbeitszimmer meiner überübernächsten Nachbarn. Dort wohnt R.B.K. mit ihrem Lebensgefährten. Räumlich trennen uns nicht einmal einhundert Meter; ein Vierteljahrhundert liegt zwischen unserer aberwitzigen Romanze. Ich schreibe und arbeite ja in der Regel mit Blick auf den Heyerberg – ein neugieriges Plätzchen, von dem aus ich auf die steile Zufahrt zu den letzten Häusern schaue. Ein bis zweimal am Tag sehe ich jene Frau, wenn sie zur Arbeit fährt oder nach Hause zurückkehrt. Wir begegnen uns heute völlig unbefangen und haben zur gegebenen Zeit unseren Abschied voneinander genommen. Mir ist eine vorwärtsweisende Auseinandersetzung mit Hilfe Gunthard Webers für mich selbst schon 1998 gelungen; durch jene Intervention, die Gunthard im Rahmen einer Aufstellung mit mir erarbeitet hat; jene Intervention, die in meinen Brief an den Freund und an meine Frau auch die Perspektive für einen respektvollen Abschied voneinander hätte weisen können.

Vor fast fünfundzwanzig Jahren begegneten sich zwei erwachsene Menschen in völlig unterschiedlichen Ausgangslagen. Da war zum einen ein Mittvierziger, seit 16 Jahren verheiratet und Vater von zwei Töchtern. Drei Jahre zuvor war er vom Schuldienst in den Hochschuldienst versetzt worden und arbeitete als Akademischer Oberrat in der LehrerInnenausbildung. Im Lehramtsbereich – insbesondere für den Grundschulbereich konnte man getrost von Lehrerinnenausbildung sprechen; zwischen 80 und 90 Prozent aller Studierenden waren weiblich. Im Zuge der Versetzung häuften sich die Unkenrufe und seiner Frau wurden nahegelegt ein scharfes Auge auf ihn zu haben. Hinter verdeckter Hand war die Rede von einem Richard-Gere-für-Arme. Und auf der anderen Seite war da eine Quereinsteigerin, die allein schon durch ihr fortgeschrittenes Alter auffiel; Mutter zweier nahezu erwachsener Söhne, lebenserfahren, polyglott und auf eine durchdringende bis geheimnisvolle Weise attraktiv - solche Zuschreibungen sind das folgerichtige Ergebnis einer verblendeten Wahrnehmung, wie sie vermutlich nur Verrückte und Verliebte – wo ist der Unterschied? – in die Welt zaubern.

1996/97 hatte sich mein Privatleben zu einer stillen, ins Chaos abdriftenden Veranstaltung entwickelt. Ich verlor jede Empfindung für eigenen Schmerz. Meine inneren Nöte und meine Orientierungslosigkeit fanden weder eine Sprache noch einen Spiegel. Was ich sollte, und was ich wollte, was ich konnte und was mir an Erwartungen vor Augen stand, umgab mich wie ein zäher, diffuser Nebel. Dieser Nebel und eine abgeschattete Gefühlswelt haben über die Jahre schleichend eine kritische Masse angehäuft, die dann nach der Explosion so ziemlich alles in Trümmer gelegt hat, was bis dahin entstanden war. Weiter oben habe ich relativ hilflos darauf hingewiesen, dass mir auch 27 Jahre nach dem schmerzhaftesten Wendepunkt meines Lebens, verbunden mit dem Tod meines Bruders, die Zugänge zu dem unmittelbaren Erleben am Mittag dieses 21. Juni 1994 weitgehend versperrt bleiben. Das mag damit zusammenhängen, dass sich zunächst einmal so etwas ereignete, wie eine Implosion – das Gegenteil der mit Zeitzünder initialisierten Explosion in der ersten Hälfte des Jahres 1997. Wie hätte ich denn wissen und fühlen sollen, wer ich unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse von 1994 wirklich war oder auch sein konnte? Es gibt auch heute noch so vieles, was sich an Erinnerungen und Eindrücken überlagert. Es drängt sich einerseits die Selbstbildfacette einer gediegenen Hybris auf! Mir kommt die aufgeklebte Fassade eines omnipotenten, überheblichen Arschlochs in den Sinn, das auf der anderen Seite, nichts konnte, nichts zustande brachte, um mit seinen eigenen Bedrängnissen halbwegs angemessen und heilsam umzugehen. Es gab so Vieles, woran man seine eigene Überheblichkeit erproben konnte. Auf die Frage, ob ich mir eine Habilitation vorstellen könne, hatte ich im Vorfeld der Ereignisse um den 21. Juni 1994 selbstredend beim finalen Einstellungsgespräch mit einem klaren: „Ja, selbstverständlich!“ geantwortet.

Es verbietet sich – allemal aus meiner heutigen Perspektive mit Blick auf das Paar, dass wir darstellten – unmittelbar vor meinem Einstieg in die Achterbahn – von zwei eklatant füreinander ungeeigneten Menschen zu sprechen. Gleichwohl waren wir mit unseren jeweiligen Grundausstattungen nicht annähernd in der Lage, uns selbst und einander zu helfen. Und ich gehe bereits an dieser Stelle von der Hypothese aus, dass die überwiegende Zahl von Trennungen vollkommen unangemessen bliebe, verfügten die Trennungswilligen über die Grundausstattung, die mir erst drei Jahre Heidelberger Interventionskultur vermittelt hat.

So aber waren wir den Einflüssen und Dynamiken, die von 1994 an  unser Leben bestimmten, mehr oder weniger hilflos ausgeliefert. Meine Frau war willfährige Projektionsfläche meiner ungelösten Klemmen, gewissermaßen Opfer wider meinen Willen, allein meinen Kindern begegnete ich mit blinder Liebe und maßloser Milde. Streit stand immer in Aussicht, und für meine grundaggressive Stimmung fand ich keine andere Adresse als die meiner Frau. Man kann so etwas tragisch nennen, weil die Weichen und Ausfahrten zu einer Kurskorrektur demjenigen verborgen bleiben, dem die Welt nur noch ein Nagel ist, auf den es einzuschlagen gilt. So funktionierte ich vordergründig betrachtet mit Blick auf die mir auferlegten Pflichten. All meine Bedürftigkeit und alle meine Zuwendungsfähigkeit pulsierten über meine Kinder. Jede Differenz, die es zuhauf gab, jedes Missverständnis, das zu ignorieren ich nicht willens war, befeuerte meinen Unwillen und meine Aversion. Wenn ich heute Fotos oder Filme ansehe aus diesem Zeitfenster inmitten der 90er Jahre, überkommen mich gleichermaßen Trauer und Scham – vielleicht auch ein völliges Unverständnis demjenigen gegenüber, der begann wie ein Berserker den privaten Raum umzupflügen.

George Steiner spricht von den Verrückten, die gleichzeitig der Gnade Gottes teilhaftig werden und die gleichzeitig bereit sind ihre persönliche, öffentliche und materielle Existenz auf’s Spiel zu setzen; die aber vor allem bereit und fähig sind, sich selber und anderen unaussprechliche Schmerzen zuzufügen. Ich habe hinzugefügt, dass sich diese Schmerzen, diese Kränkungen einschreiben in das Seelenpergament der Handelnden und Betroffenen gleichermaßen. Dies allein ist der Grund, warum ich nach einem Schuldenerlass gierte. Zehn Jahre später zeichnete sich am Horizont die kleine Chance ab, meine heillos überzogenen Konten auszugleichen und aus der abgrundtiefen Schuldenfalle zu entkommen. Dass mir dies umfänglich gelungen ist, vermittelt den fatalen Eindruck, ich sei doch nichts anderes als eine erbärmliche Krämerseele. Gleichwohl glaube ich nach all den Erfahrungen zutiefst, dass man Schulden zurückzahlen muss, dass man überzogene Konten ausgleichen muss. Den Schmerz, den man anderen zugefügt hat, muss auch die eigene Seele, die eigene Haut ritzen und verletzen,  um überhaupt auch nur nachempfinden zu können, was man angerichtet hat auf dieser Welt und wofür man Verantwortung trägt. Es mag darüber hinaus mein Alter sein, das mich milde stimmt und unterdessen dem Verstand mehr Gewicht einräumt als dem Herzen – zumindest mit dem Blick auf das Paar, das wir heute noch sind. Völlig anders stellt sich das Schuldenkonto mit Blick auf die eigenen Kinder dar. Kinder lieben bedingungslos und verzeihen maßlos, meine Kinder lieben bedingungslos und verzeihen maßlos. Würde ich meinen Kindern etwas schulden, fände ich schlichte Lösungen. Die Schuld, die mir alleine gegenwärtig bleibt, liegt in dem, was Karl Otto Hondrich folgendermaßen zu bedenken gibt (Karl Otto Hondrichs „Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft“, erschienen 2004 in der edition suhrkamp, Band 2313 gehört zu meinen absoluten Schlüssellektüren). Ich danke Gott und den Umständen, dass ich 2004 nicht auf ein Geborgenheitsdesaster zurückblicken musste, sondern mit Hilfe meiner Frau und Gunthard Webers das genaue Gegenteil bis heute erfahren darf:

Karl Otto Hondrich ist der Auffassung, dass all diejenigen, die heute in der Ehe noch dauerhafte Geborgenheit suchen, ein hohes Risiko des Enttäuschtwerdens laufen. Liberale Scheidungsgesetze besiegelten nur ein moralisches Tauschgeschäft, das wir, als Träger kollektiver Moral, längst in unseren Köpfen vollzogen hätten: „Geborgenheit geben wir für Freiheit – in der Hoffnung auf neue Geborgenheit (Hondrich 2004, 162)." Tiefer liegende systemische Bindungszusammenhänge im familialen Kontext und der Verlust von Geborgenheit lassen Hondrich auf schier unlösbare Beziehungsgeflechte verweisen, die vor allem dann zu einer belastenden, vielfach ausweglosen Unübersichtlichkeit führen, wenn aus einer Verbindung auch Kinder hervorgegangen sind:

Zwei Menschen, die ihre Bindung auflösen, bringen sich selbst um Geborgenheit. Sie wissen das und setzen deshalb alles daran, wenigstens die Bindung zu ihren Kindern zu erhalten. Den Partner darf man verlassen, die eigenen Kinder nicht. Scheidungskinder, das ist heute Konsens auch unter zerstrittenen Eltern, sollen die Bindung zu beiden, zu Mutter und Vater behalten. Das ist die Leitidee aller gerichtlich und außergerichtlich ausgeklügelten Besuchsregelungen. Hinter dem Bemühen, diese so gerecht, verständnisvoll, Interessen ausgleichend wie möglich zu gestalten, steht, unerkannt, ein gewaltiger soziologischer Kraftakt: die Geborgenheit, die mit dem Scheitern der Gattenbindung verloren ist, in der Bindung zwischen Eltern und Kindern zu retten (Hondrich 2004, 162)."

Die fundamentale Bedeutung dieser Zusammenhänge, ihre unabsehbare Wirkung wird deutlich, wenn Karl Otto Hondrich eine feinsinnige Unterscheidung vornimmt, die uns vor der Hand zunächst irritiert, wenn nicht gar provoziert. Kaum jemand mag ihm widersprechen, wenn er davon ausgeht, dass der frühe Tod von Eltern für die betroffenen Kinder einen unwiederbringlichen Verlust an Geborgenheit bedeutet: „Ein größeres Unglück läßt sich kaum denken. Aber es bleibt ein Unglück.“ (Hondrich 2004, 164) Es sei aber gerade diese existentielle Dimension des Unglücks, die es zulasse, dass sich die Überlebenden mit dem Verstorbenen bruchlos in eins setzten, ihn in die Identität der Familie, diese sogar bestärkend, mit einbezögen. Bei einer Scheidung sei genau dies aber kaum möglich:

"Nicht durch ein Unglück, Naturkräfte, höhere Mächte oder Gottes Willen wird den Kindern Geborgenheit genommen, sondern durch den Willensakt von Menschen, und zwar von denjenigen, die sie am meisten lieben  (Hondrich 2004, 164)."

Was steckt denn eigentlich dahinter, wenn „zwei Menschen ihre Bindung auflösen“? Die Folgen können wir sehen. Viele bringen sich selbst um Geborgenheit! Ist es der freie Wille – eine freie Willensentscheidung – eine bestehende Bindung aufzulösen? Die einen sagen so, die anderen so. Unbedingte Willensfreiheit vermag selbst als Idee nicht  zu überzeugen. Geht man von bedingter Willensfreiheit aus, gewinnt man zumindest eine Vorstellung davon, dass jemand seinen Willen nach persönlichen Motiven und Neigungen ausrichtet und dann möglicherweise das tun kann, was er will. Eine darauf gründende Idee von Handlungsfreiheit muss dann aber immer noch konzedieren, dass sich Willensentscheidungen erst in der Abwägung konkurrierender Wünsche und Sehnsüchte herausbilden. Und wir geraten in eine kaum noch auflösbare Verstrickung, wenn wir weiterhin konzedieren, dass Willensentscheidungen eingebunden sind und abhängen sowohl von Persönlichkeitsattributen (Habitus – Haltung – Charakter - Wertorientierung) als auch zeitgeistbezogenen – eben auch sozial und kulturell geschuldeten äußeren Einflüssen.

Der Berserker, der da Anfang 1997 auf die Bühne tritt, vertrat tatsächlich um Ostern herum die Auffassung, er benötige einen Neustart und sein – und das Leben – aller könne eine Neuausrichtung finden, indem man ganz einfach die Reset-Taste betätige. Im Rückblick kann von einer freien Willensentscheidung noch nicht einmal im Entferntesten gesprochen werden. Und es ist hier nicht nur fair, sondern auch ein Gebot der selbstkritischen Besinnung einzugestehen, dass zuvorderst die als Ehesanierungsinstitut Erwählte diesen Zusammenhang sehr schnell begriffen hatte -  lange bevor der gefühlstaube und realitätsblinde Berserker dessen gewahr wurde! Wie es dennoch zu dieser unsäglichen Affäre kommen konnte? Alle Zutaten zu einer Soap ersten Ranges waren angerichtet:

  • Der männliche Hauptprotagonist hatte sich schlicht ganz für sich in eine tiefgreifende Krise hineingelebt. Das Rüstzeug für eine Bewältigung der komplexen Krise fehlte gänzlich. So sehr hier jemand jene berühmte incurvatio in se ipsum – die trauma- und schuldbedingte Einkrümmung in sich selbst – betrieb und befeuerte, so wenig vermochte er genau dies zu durchschauen und machte – mehr noch – sein soziales Umfeld zum Schlachtfeld der eigenen Katastrophe. Andererseits agierte da jemand auf einer Bühne, die der Selbstdarstellung und jeder Form des Narzissmus einen nahrhaften Humus bereitete. Auf dieser Bühne konnte man sich selbst (als Hochschullehrer) in feinst ziselierten Zeithäppchen inszenieren und dabei gänzlich absehen von allen katastrophalen Begleitchören, die im Verborgenen auf der Hinterbühne agierten.
  • Die weibliche Hauptprotagonistin, der ich hier nicht zu nahe treten möchte (das habe ich ja 1997 grenzüberschreitend getan), kam sowohl meinen narzisstischen als auch den in mir üppig ausgeprägten Kümmerer-Anteilen entgegen. Und: Nur wenige Jahre jünger als ich selbst verkörperte sie als reife, schöne, attraktive, welterfahrene, polyglotte Frau im Übermaß eine erotisierende Melange im Format einer kritischen Masse. Mein alter ego zehn Jahre später, der gute Freund, wird Worte wählen, die – cum grano salis – den Nagel auf den Kopf treffen: Ein guter Wein, der mit zunehmender Reife in seiner Geschmacksfülle und –tiefe immer noch attraktiver wird und ein Phänomen, bei dem man leicht das Wasser unter dem Kiel verlieren kann!

In der Mixtur perfider Verführungsszenarien ausreichend vorgebildet, spielte mir der Zufall eine Karte in die Hände, die ich bereit war tatsächlich bedenkenlos zu spielen. Was ich in den folgenden Zeilen berichte, widerspricht jeglicher Professionalität und hätte mich seinerzeit –schon zu Beginn meiner akademischen Laufbahn – bereits nachhaltig disqualifiziert. Nebenbei bemerkt bietet vermutlich kein zweiter Ort in so vorzüglicher Weise die Bühne für theatralische Inszenierungen und Selbsthysterisierungen wie die Universität. Dietrich Schwanitz hat entsprechende Zutaten in seinem Schlüsselroman Campus in Szene gesetzt .

Profession und Professionalität sind nicht das gleiche. Den ersten Akt der nun folgenden Tragikomödie inszenierte ich mit Hilfe eines guten Freundes. Eine eher beiläufige Bemerkung, mir sei da eine studentische Quereinsteigerin aufgefallen, die lange im Ausland gelebt habe, Mutter zweier Söhne sei und in Scheidung lebe, führte bei ihm zu der unverzüglichen Namensnennung der so spärlich attribuierten Person. Er kenne die sehr gut. Bei nächster Gelegenheit brachte er mir ein Kinderfoto mit, auf dem er einem etwa gleichaltrigen Mädchen einen Kuss auf die Wange gab. Einigermaßen verblüfft bat ich ihn um Verwendung des Fotos in noch unklarer Form. Das Wintersemester 1996/97 neigte sich dem Ende zu. In einem Abschlussseminar ließ ich gegen Ende das Foto umlaufen mit dem Hinweis, wer sich auf dem Foto wiedererkenne, sei zu einem Kaffee in die Vorhölle (der Name der Studentenkneipe auf dem Campus Oberwerth) eingeladen. Die Höllenfahrt, die damit für das nächste halbe Jahr eingeleitet wurde, begann sanft und unter dem überstrapazierten Motto: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.

In den folgenden spärlichen Schilderungen verenge ich die Perspektive extrem auf meinen eigenen beschränkten Blickwinkel. Und man kann vorab behaupten, dass die unvermeidbare Frage Würdest du dein Leben noch einmal genau so leben? nur folgendermaßen beantwortet werden kann: So wie sich ein lebensbedrohlich Erkrankter einer lebensbedrohlichen Rosskur unterzieht, um zu gesunden, war der Höllenritt 1997 absolut alternativlos. Wer die Welt wieder klar wahrnehmen möchte, muss den dichten Schleier einer wahnhaft verstellten Weltsicht lichten und letztlich auflösen. Dazu ein kleiner Ausflug in eine mir fremde, aber zunehmend vertrauter werdende Weltsicht:

Die ersten fünf Bücher, die in meiner Verantwortung veröffentlich worden sind, hat ein Freund lay-outet, der mir – vor allem auch nach Kopfschmerzen und Herzflimmern sowie der Mohnfrau – die Frage gestellt hat, wie man denn so leben  und denken könne. Auf die Gegenfrage, wie es denn anders ginge, hat er geantwortet: Herzensfragen, wenn sie erotisch aufgeladen sind, entscheidet man ausschließlich mit dem Kopf! Das hat mich seinerzeit verblüfft. Heute habe ich mir mit der partiellen Umkehrung der Pascalschen Devise, dass das Herz seine Gründe hat, welche der Verstand nicht kennt, eine weitaus pragmatischere und lebenstauglichere Haltung zu eigen gemacht.

Was sich jedenfalls vom Februar bis in den Juni 1997 in mir und um mich herum zugetragen hat, das ist gewiss kein Heldenstück, und es taugt auch nicht zur Romanze, sondern es reicht schlicht an die Grenze des Erträglichen. Das Ergebnis spiegelt sich in den Monaten Juni, Juli, August und September wider, die ich meinen ganz persönlichen Knast nenne. Dem voraus ging im Februar bis hinein in den Mai der Höhenflug, der zu einem Blindflug mutierte. Als ich der Sonne zu nahe kam, erfolgte der Absturz in einer Weise, wie sie nur griechische Tragödienstoffe aufzubereiten vermögen.

Nur so ist im Übrigen auch Ich danke Euch für diese Nacht zu verstehen – zehn Jahre später entstanden, als ich in der Rolle des mörderischen Beobachters mich all der süßen und bitteren Erfahrungen entsinnen konnte, die ich ja selbst am eigenen Leib erfahren hatte.

All die Verrücktheiten und Zumutungen, die mit meinem zuerst berserkerhaften und zuletzt in Agonie versiegenden Agieren verbunden waren – so bin ich heute noch der Überzeugung – müsste sich ein versierter Schriftsteller ausdenken; er müsste sie erfinden, denn ich sehe mich außerstande, sie hier aufzuschreiben. Für mich ist es  im Nachhinein keine Frage, dass mir die Fremdbeobachtung ungleich leichter fällt als die schonungslose Selbstbeobachtung. Darin liegt die große Schwäche meiner Aufzeichnungen, die ich erst dort wieder konkretisiere, wo sich die Wende andeutet und schließlich auch ereignet:

Der Zufall wollte es, dass jene Wohnung in der Teichstraße, in der wir 1979 unseren Hausstand begründet hatten, 1997 im Sommer einen Leerstand aufwies. Ostern bin ich aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen, weil Claudia (zu Recht) darauf bestand. Wie ein Dieb habe ich mich schon da aus dem Haus geschlichen – durch ein Seitenfenster im Souterrain. Jedes Buch, selbst jeder Bleistift hatte plötzlich das zehnfache an Gewicht. Zum Schluss standen in der Teichstraße ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Warmwasserbereiter, ein Kühlschrank, eine Spüle und ein Telefon. Gegessen habe ich in der Mensa.

Hier erfolgten nach griechischen Maßstäben Peripetie und Katharsis – man kann von einem Wendepunkt im Wendepunktgeschehen sprechen. Dafür gibt es im Übrigen eine Zeugin – weit entfernt in Kempten, eine enge Freundin meines verstorbenen Bruders aus seiner Ausbildungszeit am Brüderkrankenhaus in Koblenz Mitte der siebziger Jahre. Jene Claudia aus Kempten hat mir in mehreren langen nächtlichen Telefongesprächen den Kopf und die Seele gewaschen. Über meine suizidalen Phantasien seinerzeit - im Knast -  habe ich bis heute mit niemandem gesprochen (Gunthard Weber gegenüber und dem Teilnehmerkreis bei der IGST - im Frühjahr 1998 - habe ich mich geöffnet). In meinen Träumen begegnete mir mein Bruder. Die letzten Treffen im Frühjahr 1994 standen im Zeichen meiner Bemühungen, ihn zur Besinnung zu bringen, ihn davon zu überzeugen, dass sein Platz in seiner Familie war. Er hatte mir durchaus nachvollziehbar seine Nöte geschildert, die Erfahrung als Mann endlich wieder wahrgenommen zu werden. Als er sich auf den Weg nach Österreich machte, soll die letzte Bitte an seine Frau gewesen sein, sie solle ihm gewogen bleiben. So mahnte er mich – er – in dessen Fußstapfen ich getreten war und mich nun selbst nicht schützen konnte. Er mahnte mich, die Lektionen zu lernen, die er – als der Jüngere – wohl kurz vor seinem Tod dabei war zu lernen. Die Ahnung wurde zur Gewissheit, dass mit der nächsten Frau nichts besser würde – im Gegenteil. Allein das Leben der geschiedenen Mutter, der ich da begegnete, führte mir vor Augen, worum es eigentlich ging. George Steiners Botschaft/Mahnung, dass es nicht Gründe sind, die das Herz bevölkern, gewann Einfluss, lange bevor sie mich in den letzten Monaten erreichte: „Es sind Notwendigkeiten gänzlich anderen Ursprungs. Jenseits der Vernunft, jenseits von Gut und Böse, jenseits der Sexualität, die selbst auf dem Höhepunkt der Ekstase ein so unbedeutender und flüchtiger Akt sind.“

Ich habe mehrfach auf den Zeithaufen von nahezu 380.000 Stunden hingewiesen, der sich hinter 42 Jahren auftürmt (gemeint sind die 42 Jahre unseres gemeinsamen Weges). Ein Leben muss gelebt werden, Sekunde für Sekunde, Minute für Minute und Stunde für Stunde. Wenn Assimilation an Grenzen stößt, dann müssen wir neu lernen; und lernen funktioniert nicht mit der Reset-Taste. Alles nur schlicht auf Anfang zu setzen, reicht nicht hin.

Claudia agierte souverän und besonnen. Sie fixierte schriftlich den Minimalkatalog an Pflichten, die sich aus unserer gemeinsamen Verantwortung vor allem für die Kinder ergaben. So riss der Kontakt nie wirklich ab. Ich erinnere mich noch, wie wir im Pühlchen abends Inliner gefahren sind. Die trüben Schleier, die eine neue Liebe über die alte Liebe deckt, verzogen sich nach und nach. Wir aßen wieder häufiger gemeinsam zu Abend, bevor ich mich in die Teichstraße zurückzog. Über Wochen und Monate näherten wir uns zaghaft wieder an. Meine einsamen Nächte vermittelten mir auf untrügliche Weise, dass ich der Hilfe bedurfte. Dies registrierte auch mein Umfeld. Meine Freundschaft mit Reinhard Voß geht in das Jahr 1996 zurück. Unmittelbar nach Antritt seiner Professur auf dem Uni-Campus Koblenz fanden wir zueinander – eine Freundschaft, die bis heute Bestand hat. Er vermittelte den Kontakt nach Heidelberg zur IGST. Gemeinsam mit Rudi Krawitz – seinerzeit Leiter des Instituts, an dem ich arbeitete – legte er den Grundstein für meine dreijährige Weiterbildung zum Familientherapeuten. Als ich die ersten Schritte auf dem Weg dorthin beschritt – zuerst durch einen Vorbereitungskurs bei Gunthard Weber im Frühjahr 1998 – hatte sich das Desaster meiner Affäre verlagert. Mir war unmittelbar klar, dass es hier nicht um Ausbildung, sondern, schlicht um meine ganz persönliche Therapie ging. Und natürlich hatte ich meinen maßgelbichen Anteil an dieser aberwitzigen AffäreAffären in der Lebensmitte drängen zumeist irgendwann auf Entscheidung. Erst mit der Vorstellung, aus dieser Affäre tatsächlich eine neue Lebensperspektive abzuleiten, baute sich vor mir die Betonmauer auf, gegen die ich seit Wochen anrannte. Ich war dabei mir das Hirn aus dem Schädel zu rammen. Und die Schmerzen drangen nach und nach in jene Regionen vor, in denen Herz und Seele beheimatet sind. Zum Schluss war es eine Form von Panik und Angstattacken, und ich kam den Erkenntnisschüben nicht mehr hinterher.

Auch im Rückblick überwiegt die Melange aus Schuld und Scham; Schuldgefühle einerseits Claudia gegenüber, Schuldgefühle aber auch R. gegenüber, deren Rolle im klassischen Dreieck mir mehr und mehr deutlich wurde. Scham verspürte ich meinen Kindern gegenüber – genauso, wie sie von Karl Otto Hondrich weiter oben so eindrücklich begründet wird.

Aber erst der Weg nach Heidelberg zur IGST führte zu einer nachhaltigen Durchdringung des angerichteten Chaos, dass nur noch Verlierer zu produzieren schien. Im März 1998 besuchte ich den einwöchigen Vorbereitungskurs bei Gunthard Weber. Gunthard Weber hatte fünf Jahre zuvor Zweierlei Glück publiziert und damit die systemische Psychotherapie Bert Hellingers einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Ich werde mich auch hier zunächst einmal beschränken – auf’s Wesentliche:

In der Einleitung zu Zweierlei Glück schreibt Gunthard: „Die drei Seminare bei Bert Hellinger sind mir jedoch in unauslöschlicher Erinnerung geblieben. In jedem der Seminare erfuhr ich etwas, was mich noch Jahre später bewegte, was weiterwirkte und etwas in mir ins Lot brachte oder an den richtigen Platz rückte.“

Nach dem Einführungskurs – eine intensive Aufstellungswoche in Wiesloch – absolvierte ich auch das erste Jahr bei Gunthard Weber, bevor ich dann das zweite Jahr bei Uli Clement und das dritte Ausbildungsjahr bei Andrea Ebecke-Nohlen besuchte. Bereits der Vorbereitungskurs veränderte alles! Der Blick auf Familiensysteme und die wertschätzende Herangehensweise an die unterschiedlichsten Familiendynamiken begann die mächtigen Blockaden aufzulösen, die schlicht aus einem nicht vorhandenen Abstand zu den eigenen Bedrängnissen und Nöten herrührten. Gunthard schreibt über Bert Hellingers Art:

„Man wird aber auch deshalb so nachhaltig bewegt und erfaßt, weil er bei jedem einzelnen Grundthemen seines Menschseins in den Vordergrund rückt wie Zugehörigkeit, Bindungsliebe, das Gelingen und Scheitern von Beziehungen und Gegenseitigkeit, das Annehmen des Schicksals und der Vergänglichkeit und weil er mit sparsamsten Mitteln oft etwas sagt, was den Kern der Seele bewegt.“

Dies ist eine treffliche Selbstcharakterisierung mit Blick auf Gunthard Weber. So und nicht ein Jota anders habe ich ihn in seiner Aufstellungsarbeit erlebt. Man lernt in einer intensiven Woche zuvorderst Geduld, Selbstdisziplin, gewiss auch eine Ahnung von der Luhmannschen Haltung der sogenannten Selbstdesinteressierung. Als Stellvertreter in Aufstellungen zu agieren, heißt von sich selbst abzusehen und dennoch den Impulsen zu folgen, die sich aus der Ausgangslage und der Dynamik einer Aufstellung ergeben. Jeder der Teilnehmer hatte im Laufe der Woche Gelegenheit seine Herkunfts- und seine Gegenwartsfamilie zu stellen. Die Teilnahme an über dreißig Aufstellungen stellte eine außerordentliche Herausforderung dar. Die emotionale Beanspruchung war enorm. Die Wochen nach diesem Auftakt waren gleichermaßen geprägt von einer radikalen Konfrontation mit der eigenen Geschichte wie von nachhaltiger Durchlüftung eines moralinsauren Klimas.

Es gab zwei entscheidende Schlüsselerfahrungen in meinen Aufstellungen. Wenn Hellinger/Weber zum einen die Unausweichlichkeit im Annehmen des Schicksals und der Vergänglichkeit betonen und zum anderen Fragen der Zugehörigkeit, der Bindungsliebe und des Gelingens und Scheiterns von Beziehungen in den Vordergrund stellen, lässt sich leicht erahnen, welche Schlüsselmomente in meinen Aufstellungen zum Tragen kamen:

  • Von enormer emotionaler Bewegung war der Abschied von meinem Bruder Willi geprägt. Als Beobachter – außerhalb des Aufstellungsgeschehens – wurde ich mit dem Weg meines Bruders konfrontiert. Dass mein Bruder final aus dem Feld geht – den Lebenden, die er zurücklässt, den Rücken zugewandt – löste im Feld selbst und auch bei mir einen solch gewaltigen akuten Schmerz aus, als vergegenwärtige sich das Geschehen mit einem Mal erneut. Die lösenden Sätze berührten zwei Felder intensiv: Die Verantwortung innerhalb der Familie, die mir zufiel einerseits und die Bindung, die zwischen uns Bestand hatte andererseits. Mich schließlich sagen zu hören: „Du bist tot, ich lebe noch ein bisschen, dann komm ich auch!“ berührte mich so, wie es mich gleichzeitig schockierte und schließlich als memento mori tief in mir verankerte.
  • In einer Aufstellungsdynamik theoretische Begriffe wie Zugehörigkeit, Bindung, Geborgenheit in konkrete Hinbewegungen übersetzt zu sehen, zu erleben, wie Stellvertreter alternative Beziehungsformationen ertasten; schließlich zu sehen, was es bedeutet, die neue – die fremde – Frau in diesem Feld agieren zu sehen, konkret an ihrer Seite zu stehen, deiner Frau und deinen Kindern gegenüber, brachte schlagartig die Absurdität zum Vorschein, die mit dieser Alternative verbunden war. An den richtigen Platz zu rücken, erschien wie eine Erlösung nach einem Leben in der Diaspora. Verbunden mit diesen Auslotungen war schließlich eine Intervention, die meinem gesamten künftigen Leben eine entscheidende Wende vermittelte. Es folgte jenes Ritual, das ich so gerne zehn Jahre später den Venusmenschen - meiner Frau und dem guten Freund - nahegebracht hätte und das mich in meinem künftigen Leben wie ein Schutzmantra begleitet:

Gunthard Weber bot – ähnlich wie Bert Hellinger – als Lösung für Verstrickte in ausweglosen Dreiecksbeziehungen eine Intervention an, die mich der Geliebten gegenüber in eine neue, lösende Position brachte. Sie legt nahe, dass man sich der Trauer überlässt, dem ganz tiefen Schmerz, der Trauer darüber, dass es vorbei ist. Diese Trauer dauert nicht sehr lange, geht aber sehr tief und tut sehr weh. Dann sind sie auf einmal voneinander gelöst, und dann können sie nachher gut miteinander reden, und alles was noch zu regeln ist, vernünftig und mit gegenseitigem Respekt lösen. Bei Trennungen ist die Wut sehr häufig Ersatz für den Schmerz der Trauer. Oft fehlt, wenn zwei nicht voneinander lassen können, das Nehmen. Dann muss der eine dem anderen sagen:

„Ich nehme, was du mir geschenkt hast. Es war eine Menge, und ich werde es in Ehren halten und mitnehmen. Was ich dir gegeben habe, hab ich dir gern gegeben, und du darfst es behalten. Für das, was zwischen uns schief gelaufen ist, übernehme ich meinen Teil der Verantwortung und lasse dir deinen, und jetzt lasse ich dich in Frieden. Dann können beide auseinandergehen.“

Sowohl Gunthard Weber als auch Bert Hellinger betonen, dass man Aufzeichnungen zu Aufstellungen nicht dazu hernehmen kann, sich sozusagen Wissen anzueignen. Die Arbeit und die Aussicht auf Lösungen ergeben sich aus der konkreten Aufstellungsarbeit. Mit Blick auf Verallgemeinerbarkeit oder gar Rezepturen hat Hellinger wohl einmal geäußert: „Das Beste kann man nicht sagen, und das Zweitbeste wird missverstanden.“ Im Rückblick auf mein destruktives Driften seit 1994 kann ich eine weitere Metapher Hellingers heranziehen, insofern sie meine Situation bis zur Aufstellungswoche recht präzise beschreibt:

„Man tappt im Dunkeln, tastet die Wände entlang, bis man eine Tür findet. Kommt eine ‚Lichtung‘, sucht man das, wovon man erleuchtet wird, in einem vollen Wort zu sagen… Wenn das eine Form gefunden hat, wird der, der es hört, auf einer Ebene jenseits des Denkens erfasst. Es wirkt etwas Gemeinsames und bewegt, ohne dass er weiß wieso.“

Wer so sehr geprägt war und ist von einer traumatisierenden Trennung in frühen Jahren, und wer – dennoch – mitten im Leben, aus der Familie heraus alles tut, diese Familie in Schutt und Asche zu legen, der geht im besten Fall geläutert aus diesen Irrungen und Wirrungen hervor. Unter den vollkommen veränderten Vorzeichen suchte ich behutsam den Kontakt zu R., die sich früh – so erfahren sie war – und in nachvollziehbarer Wut und Enttäuschung zu verwahren suchte als Ehesanierungshilfe missbraucht zu werden. Es hat eine Reihe von Treffen gegeben, über die es tatsächlich gelungen ist, sowohl die Hitze als auch die Wut zu besänftigen. Man mag zweifeln an der Richtigkeit und Angemessenheit meiner Vorgehensweise. Tatsache war hingegen, dass die überschaubare Bühne unserer kleinen Universität keine andere Wahl ließ, als meine Rolle in dieser maßgeblich auch von mir zu verantwortenden Affäre zu klären. Dass es gelungen ist, lag an der in Heidelberg gewonnen Grundhaltung auf das Geschehene sowohl mit Dankbarkeit als auch mit Demut zurückzublicken. So wie wir beide jeweils unseren Anteil daran hatten, so ist es uns auch gelungen die Tür zu finden, durch die wir gemeinsam gehen konnten, um danach unserer Wege zu gehen.

Am Ende des vorausgegangenen Kapitels sowie zu Beginn dieses Kapitels habe ich erwähnt, dass R. heute unsere Nachbarin ist. Geblieben ist gegenseitige Wertschätzung und Achtung. Ich sage das heute mit einem gewissen Stolz und einer satten Genugtuung. Zweifellos hängt diese Bewertung auch damit zusammen, dass es mir 2001 gelungen ist, mit meiner ersten langjährigen Lebensgefährtin endlich jenen Frieden zu finden, den wir uns über zwanzig Jahre nicht gestattet haben.

 Ein paartherapeutisches Husarenstück - Ein Nullsummenspiel (20b) 

Zu diesem Gedicht entstand ein Text, mit dem ich unserer gemeinsamen Geschichte eine Wende geben wollte. Der 28./29.2.2008 markiert einen Wendepunkt, an dem sich mit aller Deutlichkeit ein Vorher und ein Nachher scheiden lassen. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass das Motiv für das gegenwärtige Unterfangen, die Ereignisse aus den Jahren 2007/08 und auch darüber hinausgehend vor allem bis 2012 bzw. 2014 noch einmal durch eine analytische Brille betrachten zu wollen – sine ira et studio – sich primär aus dem Umstand nährt, dass uns keine wirklich erfolgreiche Anknüpfung gelungen ist. Mein Vorsprung in der Einschätzung solcher Dynamiken resultierte ja aus meiner eigenen desaströsen Dreiecksgeschichte aus dem Jahr 1997. Vermutlich ist selten eine Lehre aus dionysisch-erotischen Verirrungen so gründlich und so allumfassend gezogen worden. Meine beiden Mitprotagonisten von vor 14 Jahren haben da leider auf halbem Wege abgebrochen.

Nüchtern zu bilanzieren bleibt – nach einem kurzen Aufschwung – schlicht eine vollkommen zerstörte Beziehung der in der Tat eklatant füreinander ungeeigneten Eheleute (im folgenden Brief – Hera und Zeus), deren Auflösung sich über viele Jahre hinzog. Die Kontrahenten rede(te)n nur noch über Anwälte miteinander. Die beiden seinerzeit innig Verbundenen pflegen – vordergründig betrachtet – nur noch eine distanzierte und abgekühlte Begegnungskultur; es herrscht eine Ernüchterung aller Orten vor. Das hätte man früher haben können. In meinem Brief konnte ich endlich auch meinen Erkenntnissen und den daraus folgenden Argumenten Raum geben – aber aus guten Gründen erst nach der eingetretenen Wende:

                „Liebe Claudia, lieber Freund,

ich konnte es Euch nicht sagen. Verliebte leben auf der Venus – ich lebe auf dem Mars. Eigentlich finden wir da keine gemeinsame Sprache. Dies wir so ungemein deutlich, wenn man betrachtet, worum es eigentlich geht. Zu den vielen aufschlussreichen Studien zu Dreiecksbeziehungen gehört an vorderster Stelle Hans Jellouscheks Standardwerk: Die Rolle der Geliebten in der Dreiecksbeziehung. Ich versuche jetzt einmal die letzten Zeilen meines Gedichts zu erläutern und unserem damit verbundenen Dilemma etwas näher zu kommen:

Doch bleibt Dein Weg zu Dir –
er führt Dich hin zu ihr und ihr!

Und dies auf jeweils eigene Weise, denn: Unsere ménage à trois in allen Ehren. Aber in dem primären Dreieck bin ich nicht gemeint, ich habe damit nichts zu tun!!! Und ich will damit auch nichts zu tun haben. Und das konnte ich im Vorfeld des 29. Februar nicht sagen. Aber jetzt ist es an der Zeit tacheles zu reden:

Was Ihr beiden miteinander entwickelt, das ist Eure Sache: Im primären Dreieck gibt es keinen Dritten im Bunde, sondern nur eine Dritte, und das ist Deine Frau. Das ist deshalb so eindeutig, weil das von Jellouschek analysierte Dreieck ein Dreieck ist, in dem Claudia Semeles Rolle hat. Sie ist die heimliche Geliebte (ich möchte hier nicht auf die mails Deiner Frau vom Juli vergangenen Jahres eingehen). Deiner Frau kommt die Rolle der Hera, die der betrogenen Ehefrau zu, und Du, lieber Freund hast die Zeus-Rolle. Ihr beiden kennt dieses Buch. Die Eindeutigkeit dieses Dreiecks ergibt sich schlicht aus der Tatsache, dass Du – aus welchen Gründen auch immer – Claudia als heimliche Geliebte in Deiner Wohnung empfängst („wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“). Du hast keinen Ansatz gemacht, Deine Verhältnisse zu klären. Wenn Ihr in absehbarer Zeit erwachen werdet, werden diese Zusammenhänge auch Euch glasklar erscheinen. Die Haltung der drei Affen – nicht reden, nicht sehen, nicht hören – wird hier nicht wirklich weiterhelfen!

Das ist der auch der Grund, warum ich von Eurer Sache spreche. Das zweite Dreieck ist ein sekundäres, gleichwohl ein brisantes. Es ist umso brisanter, weil das primäre Dreieck überhaupt nicht geklärt ist. Aus diesen Zusammenhängen lässt sich für mich jetzt auch nachvollziehen, warum Du – mein Freund – ein wirkliches Problem hast, dieses ‚nicht gesellschaftsfähige Dreieck‘ zu Hause auch wirklich transparent zu machen. Du hast noch einen privaten Rückzugsramu und wirst ihn bis auf weiteres haben. Gleichwohl ist da Deine eigene Familie, und natürlich die Beziehung zu Deiner Frau, die völlig ungeklärt ist, die nach wie vor mit dem Prinzip der ‚Heimlichen Geliebten‘ konfrontiert wird. Hinweise auf das, was daran ungeklärt ist, finden sich haufenweise bei Jelllouschek. Und daran möchte ich persönlich nicht beteiligt sein. Claudia ist daran unabdingbar und ohne jedes Wenn und Aber beteiligt, weil sie verstrickt ist in dieses primäre Dreieck.

Und jetzt kommen die Delikatessen – und über die sollten sich alle Beteiligten im Klaren sein:

  1. ‚Wenn wir uns außerhalb unserer Beziehung in einen anderen verlieben und plötzlich das Gefühl haben, wir seien zur allumfassenden Liebe fähig und könnten ohne weiteres noch einen anderen dazu lieben, dann ist das ein Irrtum. Solange Eros mit hineinspielt, befinden wir uns nicht in der Agape, sondern im Eros. (Julia Onken, Geliehenes Glück – Ein Bericht aus dem Liebesalltag, München 1991).‘
  2. ‚Das Sicheinlassen auf sexuelle Beziehungen erzeugt Prägungen und Bindungen, die ins Unglück führen. Die Tragik liegt heute nicht mehr darin, dass die Liebenden nicht zueinander kommen – wie Romeo und Julia –, sie liegt vielmehr darin, dass sexuelle Beziehungen (zuweilen) Liebe erzeugen und dass man weder nach ihr leben noch voneinander loskommen kann (Niklas Luhmann, Liebe als Passion, Frankfurt 1991).‘

Ich beanspruche für mich, da einen Erfahrungsvorsprung zu haben. Ich muss ihn ja haben mit meiner desaströsen Vergangenheit. Und so habe ich kommen sehen, was da kam seit dem Juni/Juli 2007.

Was mein Dilemma vollständig und ausweglos gemacht hat, hängt damit zusammen, dass ich keinerlei Chance sah – vor der Zeit – auf etwas hinzuweisen, was Hans Jellouschek zur Conclusio seiner Gesamtargumentation macht. In Liebesbeziehungen mit sexueller Ausprägung regiert Dionysos – er verkörpert im Gegensatz zu Apoll, der für das Vernunftprinzip steht, die Leidenschaft und den Eros. Und es war und ist selbstverständlich nicht meine Aufgabe, Euch in dieser Hinsicht zu belehren. Aber es wird Euren gemeinsamen und individuellen Lernprozess fortan begleiten:

„Dionysos ist weder ein Gott der freundlichen Harmonie, der niemandem weh tut, noch ist er ein Gott der schnellen Lösungen, die die alten Ordnungen wieder herstellen. Dionysos ist ein Gott des Leidens und des Sterbens, ein Gott, der immer wieder zugrunde geht. Sich auf ihn einzulassen heißt, mit dem Tod Bekanntschaft zu machen. Semele lernt diesen Tod kennen… Sie lässt die heimliche Geliebte sterben: mit ihrem Wunsch den Zeus in seiner wahren Gestalt zu sehen. Damit gibt sie das heimliche Dunkel auf, lässt den frühlingshaften Anfang los. Sie nimmt Abschied von der strahlenden Kind-Frau (oder von dem Elchkälblein, das gar nichts gemacht hat), in die manche Geliebte ihrerseits so verliebt sind, dass sie sie nicht loslassen können, weil ihre ein besonderer Charme, ein besonderer Zauber, eben der Zauber des Anfangs, zu eigen ist. Semele macht den Schritt vom Frühling in den Sommer, von der Tochter zur Frau. Sie lässt zugleich damit ihren Vater los und sich als sein Kind.“

Aus all dem folgt, warum unser Dreieck auf Veränderung drängt:

  1. Wir sind – wie zu sehen – nicht das primäre Dreieck, sondern das sekundär-nachgeordnete. Alle therapeutischen Erfahrungen legen nahe, dass nichts gelingen kann, wenn da nicht aufgeräumt wird. Claudia hat dabei die fast singuläre Rolle heimliche (Deiner Frau gegenüber) und unheimliche Geliebte (mir gegenüber) zu sein. Dies ist eine ganz besondere Hypothek, von der ich seit langem weiß; ein Wissen, das Ihr Euch aneignen müsst.
  2. Jellouschek ist mit vielen anderen der Überzeugung, dass Dionysos ebenfalls seine Potentiale nicht entfalten kann, wenn Zeus mit Semele und Hera ein ‚göttliches Dreigestirn‘ bilden, also das Dreieck als offizielle Beziehungsform etablieren würde: ‚Dies ist eine in der Anfangssituation der Verliebtheit oft auftauchende Phantasie: ein friedliches Zusammenleben zu dritt… Ich will nicht bestreiten, dass wir, was Vielfalt der Beziehungsformen angeht, einen sehr eingeengten Horizont haben. Allerdings bin ich sicher, dass ein bruchloser Übergang  von der Zweierbeziehung in einen Dreiecksbeziehung und Vorstellungen von einem friedlichen In-, Mit- und Nebeneinander zum Scheitern verurteilt sind. So, wie ich dieser Vorstellung begegne, ist sie meist eine sehr regressiv-kindliche Phantasie. Es ist der Versuch Dionysos zu verniedlichen. Was durch ihn bei allen dreien (vieren) aufgebrochen ist, ist so tief  und so erschütternd, dass man es nicht schnell wieder in ein friedliches Zusammenleben einfangen kann. Da, wo es versucht wird, geht es bald mindestens auf Kosten eines der drei, und Eifersüchteleien, offen oder verdeckte Feindseligkeiten machen dem Experiment schnell ein Ende.‘

Und dabei wird hier sogar noch völlig abgesehen von der fortgesetzten Kränkungsgeschichte deiner Frau gegenüber, die endlich ein Recht auf Offenheit hat.

Ich hoffe meine moderate Marsperspektive erreicht die Venus-Reisenden irgendwann. Was irreversibel angestoßen worden ist, das hat mit Jellouschek alle krisenhaften Attribute und alle systemisch sattsam bekannten Hintergründe – vom schlichten Wunsch, einmal wieder gut zu ficken bis hin zu Tod und Trauer, ungelösten Bindungen und unaufgeräumten inneren Behausungen. Ich habe vor zehn Jahren angefangen meine Bude zu entrümpeln, zu lüften, basierend auf dem Sturm, der mein/unser Leben 1996/97 durcheinander gewirbelt hat. Emma hat nunmehr das ihrige getan, um auf Augenhöhe aufräumen zu können.

Euer Jupp

Dass uns nach dem Hinwegfegen letzter Loyalitätsreste zunächst das Abrutschen in einen Kriegsmodus drohte, zeigte sich an dem hieran anknüpfenden Briefwechsel. Ungewöhnlich genug hatten wir zu dritt versucht, irgendeine Perspektive zu erkennen, um einen Ausweg aus dem eigetretenen Desaster zu finden. Nach meinem Brief an die beiden Venusmenschen schrieb mir der Freund am 2. März 2008:

               

„Lieber Jupp,

ich hab mir gerade noch einmal das durchgelesen, was du in ‚stürmischer Nacht‘ verzapft hast. Mir ist die Differenzierung primäres/sekundäres Dreieck erst durch diesen bemerkenswerten Brief zugänglich geworden, und ich kann nun sehr wohl nachvollziehen, dass du diese Trennung betonst, dich aus dem primären Dreieck heraushalten willst. Es ist in der Tat

  1. an mir und Claudia gelegen, unsere Beziehung vor dem Hintergrund meiner noch bestehenden Ehe mit meiner Frau zu definieren und
  2. liegt es an mir, den ‚Arsch in der Hose‘ zu haben, Bärbel und meiner Familie das Ergebnis aus 1. Endlich mitzuteilen.

Damit hast du in der Tat nichts zu tun und dennoch ist es dir ein Anliegen ‚Tacheles‘ zu reden, wie du schreibst, als ‚betroffener Zuschauer‘. Das hast du getan mit deinem Brief und in unserem heutigen Gespräch, für das ich mich bedanke. ‚Infantile Regression‘ lautete der terminus technicus für das Spiel, das C. und ich im vergangenen ¾ Jahr (beide!!!) gerne gespielt haben. Da sind wir (C. und ich) uns viel zu ähnlich, als dass ich das nun abstreiten könnte oder wollte.

Der heutige Tag, die stürmische Nacht davor, werden tiefgreifende Folgen haben für uns Drei. Das sehe ich, wie du. Nichts bleibt ohne Folgen. Aber ich habe seit der Trennung von meiner Frau keine Angst mehr vor Veränderung, kann diese mehr denn je als Chance begreifen. Was auch immer sich nun als Chance (für jeden von uns Dreien) herausstellen wird – der Käs ist noch nicht gegessen. Die ménage à trois eine Option, die uns ‚in allen Ehren‘ in der eigentlichen Sache nicht wirklich weiter bringt.

Ich habe vor einigen Wochen erst angefangen, ‚Die Rolle der Geliebten…‘ von HJ zu lesen, habe leider nicht die Zeit gefunden, konsequent dran zu bleiben. Das werde ich jetzt nachholen.

Ich danke dir, Jupp,  und natürlich Claudia, für all das, was ihr mir in den letzten Monaten gegeben habt. Das war nicht wenig. Ich frage mich nun, was kann davon bleiben und was ist der Preis??? Kann unsere (J + C + F) Freundschaft weiter bestehen? Das werden die nächsten Wochen zeigen, und ich wünsche mir die Muße, auf die Antworten auf meine Fragen abzuwarten.

Ich fand, es war ein bemerkenswerter Tag heute und sage nun ‚gute Nacht‘.

Ganz liebe Grüße

Der Freund

Viele offene Fragen standen im Raum. Und dennoch blieb mir in meiner Antwort nichts anderes übrig, als die vollkommen verstellte Perspektive des Freundes zu registrieren. Wenn man nur wenige Zentimeter vor dem eigenen Spiegelbild steht, lassen sich keine Konturen erkennen; eine unverzichtbare Voraussetzung, um überhaupt wieder handlungsfähig zu werden:

               

„Lieber Freund,

ich habe deinen Brief mit Interesse zur Kenntnis genommen und das meiste – wie ich hoffe – auch verstanden. Was ich nicht zu deuten weiß, vielleicht ist es einfach ein Versehen, möglicherweise auch das Gegenteil, ist der einleitende Satz: ‚… was du in stürmischer Nacht verzapft hast‘. ‚Verzapfen‘ wird, egal wo du nachschaust, immer nur pejorativ/negativ konnotiert: Unsinn, wirres Zeug, Mist verzapfen, Unfug erzählen!

So ganz passt das, was sich anschließt, nicht dazu. ‚Ich danke euch für diese Nacht‘, die Nacht, die ich unter etwas anderen Prämissen durchlebt habe, als sie sich dann am Samstag darstellten, ist ein Eingeständnis meiner Betroffenheit. Und ich wiederhole noch einmal: Keinen Monat, keine Woche, keinen Tag, keine Stunde, keine Minute länger hätte dieser Schwebezustand, der seine ‚kritische Masse‘ erreicht hatte, andauern können. Dass mir diese Situation die Gelegenheit verschafft hat, genauer hinzuschauen und etwas zu erkennen, was bis zu diesem Zeitpunkt niemand sehen konnte/wollte, ist rein logisch und argumentativ der eigentliche Gewinn. Das primäre vom sekundären Dreieck zu unterscheiden, hat den Durchbruch und die rasante dynamische Veränderung ermöglicht, die seit Freitag, dem 29.2.2008 eingetreten ist. Was es mir möglich macht, dir heute zu antworten und die Form, die ich dabei wähle, hängen damit zusammen, dass du dich in einer vergleichbaren Situation befindest, wie ich 1997. Und dabei bin ich der festen Überzeugung, dass die Rangfolge, der du folgst, anders aussehen wird:

Ich habe am Samstag u.a. gesagt, dass du jetzt im Kontext des primären und des sekundären Dreiecks zum ersten Mal wieder deine Frau sehen kannst. Du kannst überhaupt jetzt erst sehen, dass du auf einem Weg warst – bevor du auch nur ansatzweise die Beziehung zu deiner Frau geklärt hattest –, dir eine andere Frau an die Seite zu stellen, die heimliche Geliebte. Alle, aber auch alle nur erdenklichen Attribute einer klassischen heimlichen Liebe sind erfüllt. Du hast dich in eine Beziehung(sphanatasie) hineingesteigert, die du bis zum vergangenen Wochenende vor deiner Frau verborgen hast.

Deine Frau hat mir am 28. Juni 2007 geschrieben: ‚…schön ist, dass er in euch zwei gute Freunde gefunden hat. Er hat mir jedesmal, wenn sie anrief, und ich ein großes Unwohlsein vom Bauch her hatte, gesagt, das ist eine gute Freundin. Da ist nichts. Er hat mich also die ganze Zeit angelogen. Das ist, womit ich im Moment furchtbar zu kämpfen habe. Wie gesagt, ich weiß nicht, ob der Brief richtig ist an dich, aber da ich weiß, dass du schon was ahnst, ist es vielleicht ganz gut. Ich muss gestehen, ich habe sein Tagebuch gefunden und darin gelesen. Ich weiß, das macht man nicht. Aber ich war so in brass, da ist es eben passiert. Was mich schrecklich verletzt, ist eigentlich, dass ich belogen wurde und dass er mich direkt eintauscht gegen eine neue…‘

Die in deiner mail mir gegenüber aufgemachte Prioritätenfolge sehe ich nicht. Aus meiner Sicht ist es nicht an dir und Claudia, erstens eure Beziehung ‚vor dem Hintergrund deiner noch bestehenden Ehe mit Bärbel zu klären‘ und dann zweitens den ‚Arsch in der Hose‘ zu haben, Bärbel und deiner Familie das Ergebnis aus Punkt eins endlich mitzuteilen.

Wenn du jemals wieder einen Arsch in die Hose bekommen willst, dann kann es nur um die umgekehrte Reihenfolge gehen. Es tut mir sehr leid, dass du das zumindest in deiner mail, die du mir zugegebenermaßen sehr früh, nämlich schon am 2. März um 00.20 Uhr gesendet hast, noch nicht sehen konntest. Für dich kann’s ums Verrecken nur darum gehen erstens endlich mit deiner Frau zu klären, was dich im letzten ¾ Jahr umgetrieben hat, damit ihr endlich die Chance bekommt, das zu betrachten, was euer gemeinsames Leben von fast 30 Jahren ausmacht; auch die Momente und Ressourcen, die einem noch einmal deutlich machen, wen man geliebt hat und liebt, wirklich liebt – ohne die tausend Sonnen eines wunderbaren Frühlings. Vielleicht ist es ja doch der Mensch, der einem drei Kinder geboren hat, und von dem man weiß, dass es einen schier umgebracht hätte, wenn er dabei zum Beispiel auf der Strecke geblieben wäre. Es ist sicherlich an der Zeit, mit all den Demütigungen aufzuräumen, die eine fortgesetzte Missachtung des Menschen zur Grundlage hatte, den man geheiratet hat, mit dem man drei Kinder in diese Welt gebracht hat, von denen das jüngste mal eben vierzehn ist,  und von denen der Sohn eine Bedürftigkeit an den Tag legt, die einen unter Umständen an die eigene Bedürftigkeit aus Kindertagen erinnert, und von denen das älteste gerade gut genug ist, es zu belügen, um die heimliche Liebe nicht zu gefährden und preiszugeben.

Nein, mein Freund, Tacheles wird aus alledem, wenn du spürst, dass die von dir vorgegebene Reihenfolge geradezu absurd wirkt. Du wirst sehen und erfahren müssen, was Vorrang beansprucht. Das Ergebnis aus deinem ersten Punkt  ist doch längst eindeutig: Der Frühling ist vorbei. Vielleicht wirst Du Claudia irgendwann dafür dankbar sein, dass ihr diesen Frühling haben durftet, so wie sie dir dafür dankbar ist! Aber Semele macht den Schritt vom Frühling in den Sommer, von der Tochter zur Frau. Sie lässt ihren Vater endlich los und sich als sein Kind. Claudia hat die große Chance, diesen Entwicklungsschritt für sich zu nutzen. Für deine weitere Entwicklung gibt es Semele nicht mehr! Du wirst künftig Claudia als eine erwachsene Frau sehen. Und dieses Wissen und diese Intuition hat ganz offensichtlich ihr Handeln am Freitag geleitet.

Und bitte: Der Begriff der ‚regressiv-kindlichen Phantasie‘ ist Jellouscheks Bezeichnung eines Verhaltens, das etwas retten will, was nicht zu retten ist. Und insofern ist es eben nicht der terminus technicus für ‚das Spiel, das C. und du im vergangenen ¾ Jahr (beide!!!) gerne gespielt habt‘. Nein, die ‚regressiv-kindliche Phantasie‘ bezieht sich einzig auf den Versuch etwas von dem zu retten, was diesen Frühling ausgemacht hat. Und es ist mit Jellouschek der Versuch, ‚Dionysos zu verniedlichen‘. Und er gibt uns eine richtungsweisende Perspektive an die Hand: ‚Was durch ihn (Dionysos) bei allen dreien (und ich sag bei uns allen vieren) aufgebrochen ist bzw. aufbricht, ist so tief und so erschütternd, dass man es nicht schnell wieder in ein friedliches Zusammenleben einfangen kann.‘

Also nochmals, es tut mir leid, deine Reihenfolge ist absurd. Insofern ist der Käse, der zu essen ist, mehr als reif: Das ganze Krisenszenario, das mit Kränkung, Verlust, Tod und Trauer, alten Eltern und um ihre Perspektiven ringenden Kinder aufgebrochen ist, das ist überhaupt nicht eines, bei dem es darum geht – wie du sagst –, die Beziehung zwischen Claudia und dir vor dem Hintergrund der noch bestehenden Ehe mit deiner Frau zu definieren und ihr das dann endlich mitzuteilen. Das ist absurd – das ist Absurdistan in galaktischer Dimension. Wenn überhaupt, kann es nur um das Umgekehrte gehen. Aber du hast Claudia diesbezüglich gar nichts mitzuteilen. Du kannst nur endlich die Beziehung zu DEINER Frau klären. Ansonsten ist es so, dass ihr – Claudia und du – jetzt damit konfrontiert werdet, euch zu überstehen. Und ich hoffe für euch, dass dies in einer wertschätzenden Weise möglich sein wird. Aber der Frühling ist vorbei. Und nur derjenige wird jemals wieder einen Arsch in seiner Hose haben, der die damit angestoßenen Entwicklungschancen zu nutzen weiß. Der Baustellen sind genug!

Nachdem ich mir die Mails deiner Frau noch einmal durchgelesen habe, verspüre ich das unbändige Bedürfnis, ihr die Mailwechsel und Briefe der letzten Tage zukommen zu lassen. Sie hat es an erster Stelle verdient, eine Perspektive und Klarheiten zu bekommen. Sie ist das eigentliche Opfer des letzten ¾-Jahres. Aber ich werde das nicht tun. Das ist deine Sache, wenn du begriffen hast, wie die Prioritäten liegen.

Dein Freund Jupp

Bei diesem Chaos drängt sich Dirk Baeckers Lebensgleichnis geradezu auf:

 „Stellen Sie sich vor […] Sie seien der Schiedsrichter, ein Mitspieler oder auch der Trainer bei einem ungewöhnlichen Fußballspiel, in dem das Spielfeld rund ist, mehrere Tote ### zufällig über das Spielfeld verteilt sind, die Leute auf das Spielfeld kommen und es wieder verlassen, wie sie wollen, jeder jederzeit einen neuen Ball ins Spiel bringen kann und jederzeit eins oder auch mehrere Tore zu seinem Tor erklären kann, das Spielfeld insgesamt eine abfallende Fläche ist und das Spiel überdies auch noch so gespielt wird, als habe es Sinn. In dieser Situation, die die Wirklichkeit selber ist und die so wenig mit der klaren Sachordnung zu tun hat, von der wir träumen, hilft nur die lose Kopplung. Wer sich in dieser Situation fest koppeln lässt, das heißt, wer sich für Nähe oder Ferne entscheidet, so als gäbe es diese in der Form einer eindeutigen, sich wechselseitig ausschließenden Alternative, muss zwangsläufig verrückt werden. Wer in dieser Situation jedoch sagen kann, das ist ‚nahe genug‘, entscheidet sich für lose Kopplung, fängt an zu beobachten, verwechselt sich selbst nicht mit den Bedingungen, auf die er sich einlässt, und entdeckt auch bei den anderen Spielräume des Verhaltens, die das Chaos nicht etwa noch größer werden lassen, sondern es für einen Moment so zu ordnen erlauben, dass man Spaß daran bekommt, sich an dem Unsinn zu beteiligen.“

In den Tagen um den 29. Februar 2008 herum noch von Spaß zu reden, käme einem recht zynischen Blickwinkel gleich. Hier waren sich einige Menschen viel zu nahe gekommen, einige Tote lagen auf dem Spielfeld, der Ball war schon lange nicht mehr zu kontrollieren und ständig wechselnde Torpositionen trugen nicht eben zu einer halbwegs verlässlichen Orientierung bei, ein vertrauenswürdiger Schiedsrichter nicht in Sichtweite – eine Situation zum Verrücktwerden.

Um zu entscheiden, was sich nun in den nächsten gut vier Jahren zutrug, kann man pendeln zwischen Schmierenkomödie und Tragikomödie. Gänzlich auf der Strecke blieb die Frau des Freundes. Der hatte ich noch im März 2008 geschrieben:

         „Meine Liebe,

das ist eine zweite, späte Antwort auf deine mail vom 28. Juni2007. Ich möchte mich bei dir entschuldigen. Das, was ich dir am 29. Juni 2007 geschrieben habe, entspricht nach wie vor meiner Überzeugung. Aber es war zu diesem Zeitpunkt vielleicht nicht die angemessene Antwort auf deine mail. Sie beruhte vor allem, was deinen Mann anbetrifft, auf einer irrigen Voraussetzung. Ich habe damals geschrieben, der Unterschied zwischen ihm und mir sei, dass ihn keine andere Frau blockiere. Wie dumm!!! – auch mich hat 1997 keine andere Frau blockiert, sondern ich bin in eine Auseinandersetzung mit meiner eigenen Frau gegangen und wollte mir dazu eine andere Frau an die Seite stellen. Wie dumm, könnte man jetzt sagen. Aber es war – bezogen auf die lange Sicht und jetzt aus dem Rückblick von elf Jahren – überaus klug. Es hat mich in eine Krise hineingeführt, die alle unbewältigten Konflikte, alle Baustellen, die ich nicht zu Ende geführt hatte, zum Vorschein brachte. Und die Frau, die mich wirklich ‚blockiert‘ hat und die alle Freiheit meines Handelns so über die Maßen eingeschränkt hat, war Claudia.  Das Weggehen war der Beginn eines langen Weges zurück zu ihr.

Deinem Mann ist es haargenau so ergangen. Nicht Claudia hat ihn blockiert oder blockiert ihn. Nein, sein Versuch, sie sich an die Seite zu stellen, entspricht genau dem, was ich 1997 gemacht habe. Es sind auch bei ihm die alten, die uralten Baustellen, und es ist vermutlich eure ungeklärte Beziehung, die ihn wirklich blockiert für alles entschiedene und freie Aufbrechen in eine neue Welt. Ich glaube, das kann er jetzt zum ersten Mal wirklich sehen, genau wie ich damals. Claudias ‚Job‘ ist erledigt. Die beiden können dankbar sein für das ¾ Jahr, das sie miteinander hatten. Das, was sie hatten, ist definitiv vorbei und jetzt beginnt etwas Neues.

Ich möchte dir von meiner Geschichte nur so viel erzählen, dass es sich so unendlich gelohnt hat, die seinerzeitige tiefe Krise zu einer wirklich neuen Orientierung zu nutzen. Das war ein langer Weg, der Claudia und mich wieder zusammengeführt hat. Ohne das, was in den letzten zehn Jahren gewachsen ist, hätte ich das letzte ¾ Jahr nicht überstanden. Die Welt ist für mich jetzt wieder klar. Sie ist so klar, wie sie nie war.

Eure Zeitrechnung in dem Sinne, dass ihr jetzt tatsächlich gleichermaßen zurück, aber vielleicht doch auch nach vorne schauen könnt, die beginnt erst jetzt; jetzt, nachdem dein Mann definitiv erfahren hat, dass es keinen Weg mit Claudia oder irgendeiner anderen Frau geben kann, wenn er nicht mir dir tatsächlich das anschaut, was euer gemeinsame Geschichte über so viele Jahre/Jahrzehnte ist. Dazu braucht er Zeit. Er muss und wird seinen unendlichen Schmerz verkraften und verarbeiten. Das ist nicht allein und vielleicht am wenigsten der Schmerz um die ‚verlorene‘ Claudia, sondern so, wie ich ihn erlebt habe, der Schmerz über so viel Versäumtes, Verpasstes, der Schmerz über so viele Verletzungen, die für ihn schon in der Kindheit beginnen (ich kenne kein vergleichbares Elternhaus, wie das deines Mannes, in dem die Kinder in ihrer Bedürftigkeit so allein gelassen worden sind). Und euer Sohn droht(e), was die Vater-Sohn-Beziehung angeht, vielleicht in eine ähnliche Situation zu geraten. Aber dein Mann ist so anders. Er ist ein toller Mann – und ich kann Claudia verstehen. Und ich kann dich verstehen: Ich hoffe sehr für euch, dass du deinen Mann wieder sehen kannst und dass du all die tollen Seiten an ihm entdecken kannst. Und ich hoffe inständig, dass dein Mann dich wieder sehen kann und all die tollen Seiten an dir wieder und neu entdecken kann.

Ich wünsch euch einen langen Atem – ich selbst weiß nur, dass es sich lohnt und ich grüße dich sehr herzlich Jupp

Die Frau unseres Freundes hatte keinen Einblick in mein schuldenbedingtes heilsökonomisches Defizit. Sie hatte keine Ahnung davon, dass ich in unserem gemeinsamen Seelengrundbuch eine beträchtliche Grundschuld hatte eintragen lassen, deren Löschungsbewilligung nicht in Aussicht stand. Nur die Erfahrung, wie man selbst zu einem ansehnlichen Schuldenkonto gelangt – mit anschließender Privatinsolvenz, konnte hier die Voraussetzungen für einen annähernden Schuldenerlass begünstigen. Und nur so ist ihre – die Antwort der Frau unseres Freundes zu verstehen, die vor allem ein gewisses Unverständnis für meine Haltung signalisierte. Dass auch das Ehekonto unserer Freunde offene Rechnungen beinhaltete, war mir genauso wenig klar:

„Lieber Jupp,

es ist in meinem Inneren ein heilloses Durcheinander. Meine erste Frage an dich ist, wie konntest du damit ein Dreivierteljahr leben? Zu wissen, die Frau, die ich liebe, nähert sich einem Freund an in meinem eigenen Haus? Bist du ein Heiliger? Oder wie kann man damit leben? Ich war am Anfang wahnsinnig eifersüchtig. Das alles ist nun leider passiert. Warum haben beide das alles heimlich gemacht? Es wusste doch jeder! Warum hat mich mein Mann teilweise beschimpft, ich wäre all dem intellektuell nicht gewachsen, und ich müsste endlich was aus meinem Leben machen. Heute weiß ich natürlich, warum er das gemacht hat. Ich war total verletzt, und da hatte er mit deiner Frau im Rücken leichtes Spiel. Er war stark, so wie ich damals mit Michael. Du weißt sicher davon.

Es ist schlimm zu sehen, dass es meinem Mann dreckig geht. Aber er hat das auch als schlimm empfunden, als es mir so ging, als er im vergangenen Jahr auszog. Ich bin doch ziemlich blöd, dass es mir nahe geht, dass er leidet. Eigentlich müsste ich doch Schadenfreude haben. Aber die habe ich weiß Gott nicht. Ich müsste mich eigentlich freuen, dass er mir wieder ein bisschen näher kommt, aber ich habe sooooooo furchtbare Angst. Und ich weiß nicht, ob ich das schaffe, dass wir wieder ein Paar werden, das sich liebt. Ich weiß auch, das liegt nicht nur an mir. Ich stehe vor einem riesigen Berg.

In deinem Brief schreibst du, ich bin froh, dass die beiden sich hatten. Es hört sich für mich so an, als ob du Claudia für solche Zwecke schon einmal verleihst. Ich weiß, das ist Quatsch, aber es hört sich so an.

So, eine Nacht ist jetzt zwischen den Briefen. Mein Mann ist wieder aus Frankfurt zurück, und wir haben uns für Samstag mit den Kindern zum Essen verabredet. Ich glaube, ich werde ihm den Vorschlag machen, noch einmal mit den Leseabenden weiter zu machen. Ich weiß, er hat genau so viel Angst davor, was jetzt kommt. Kann man jemanden eigentlich noch spüren nach so vielen Verletzungen, ist da tatsächlich noch etwas? Wie ist so etwas möglich? Wie gehst du jetzt mit der Situation um? Ich weiß, du kannst mir all diese Fragen nicht beantworten, aber es tut gut, jemandem zu schreiben, der in der gleichen Situation war.

Ich muss noch hinzufügen, ich habe auch Bekanntschaften mit Männern geschlossen. Es waren auch wirklich nette dabei. Aber irgendetwas war immer in mir, das mir sagte: Das ist ja alles ganz nett, aber eben nur ganz nett! Ich glaube, man braucht das auch, um sein Selbstwertgefühl wieder aufzupolieren; war ja bei ihm auch so. All das hat vielleicht auch mit der langen Zeit zu tun, mit den Höhen und Tiefen, die ich mit ihm erlebt habe. Auf jeden Fall will ich den Kampf um unsere Ehe wieder aufnehmen. Jetzt, wo ich weiß, dass er auch mit mir kämpfen will.

So, lieber Jupp, das waren nur Ausschnitte aus meinem Kopf. Ich habe erst überlegt, ob ich dir schreibe. Aber ich glaube, es war richtig. Es gibt noch so viel Ungeklärtes, aber ich, oder besser wir, haben ja noch viel Zeit alles aufzuarbeiten. Ich bin ganz zuversichtlich-

Ich wünsche dir ein schönes Wochenende“

Mir rutscht noch heute das Herz in die Schuhe, wenn ich auch über meine Rolle in der nun folgenden – ja ich weiß nicht: Schmieren- oder Tragikomödie – nachsinne. Außer Frage steht, dass wir alles in allem bis zum Jahr 2012 tatsächlich in den vielen gemeinsamen Unternehmungen, Urlauben, Zusammenkünften – überhaupt in einem sehr gediegenen Netzwerk von Bekanntschaften und Freundschaften – eine Menge Spaß hatten; vermutlich wird keiner der Beteiligten die Zeit wirklich missen wollen! Und dennoch: Mit Abstand betrachtet ist es doch zum einen eine ausgewachsene Schweinerei, die hier jemand inszenierte, bis er endlich 2012 die Reißleine zog – seine ganz persönliche Reißleine! Diese Reißleine hat ganz gewiss zwei Auslöser. Und es wäre vollkommen unangemessen, hier jemandem das Schuldenkonto über Gebühr vollzuladen. Zwei eklatant füreinander ungeeignete Menschen haben sich schließlich und leider  auf ungute Weise auseinanderdividiert. Schadenfreude ist  nicht angezeigt. Lediglich die Frage, ob man selbst auch hier wieder viel zu lange zugeschaut hat!?

Ich schrieb der Freundin auf ihren Brief folgende Antwort:

„Liebe Freundin,

ich danke dir für deinen Brief und dein Vertrauen. Um mich zu verstehen, gibt es ein paar wichtige Mosaiksteine. Ich will sie dir gerne schildern:

  1. Der erste und sicher folgenreichste liegt mehr als elf Jahre zurück. Wenn ich mir alles noch einmal vor Augen führe, dann glaube ich, hat es selten einen Mann zuvor gegeben, der seine Frau so sehr verletzt hat, wie ich das getan habe. Um mein Handeln zu verstehen, muss man das einfach wissen. Ich bin alles andere als ein Heiliger. Am wichtigsten ist mir dabei, dass Claudia das erkannt hat und zum ersten Mal in unserem gemeinsamen Leben sehr konsequent nicht die Rücksichtnahme auf mich in der Vordergrund gestellt hat.
  2. Aber auch dazu muss man wissen, dass Claudia mir immer glaubhaft vermittelt hat, dass sie mich nicht verlassen würde. Bis zuletzt ist Claudia in diesem Punkt immer eindeutig geblieben. Sie hat deinem Mann nie in Aussicht gestellt, es könne sozusagen ein neues Leben mir ihr geben.
  3. Zuletzt habe ich vielleicht eher die Reißleine gezogen. Ich habe ganz klar gesagt: Keinen Monat, keinen Tag, nicht einmal eine Stunde länger möchte ich die zuletzt zugespitzte Situation weiter so haben. Wenn ich dir geschrieben habe, dass die beiden froh sein sollen für die Zeit, die sie hatten, dann schreibe ich das in dem klaren Bewusstsein, dass diese Zeit jetzt unwiederbringlich vorbei ist. Auch für Claudia und mich beginnt jetzt ein neuer Lebensabschnitt, auf den ich mich freue.
  4. Und es gibt zum vierten noch etwas klarzustellen, was ich dir jetzt im Vertrauen sage, und von dem ich weiß, dass es so und nicht anders war. Dein Mann und meine Frau sind nicht in ‚meinem‘ Haus fremdgegangen. Dass sie sich final aufeinander eingelassen haben, ist Tatsache, und es hat letztlich den Kipppunkt herbeigeführt und den Weg freigemacht für eine neue Entwicklung.

Alles, was du zum Verhalten deines Mannes schilderst, die Beschimpfungen und die Abgrenzungen, all das kommt mir so vertraut vor. Und du hast Recht: So wie dein Mann geblendet war von der Welt, in die er sich im Hinblick auf Claudia hinein phantasiert hat, genau so war ich 1997 eingenommen von der Idee, mit einer anderen Frau eine neue Welt haben zu können. Es war seinerzeit ein ähnlicher Punkt, der dieses merkwürdige Luftschloss zum Platzen gebracht hat.

Auch dass der Berg, vor dem du stehst riesig ist, kann ich nachvollziehen. Dass es mir heute so gut geht, verdanke ich einerseits Claudia, die 1997 sicherlich einen ähnlichen Berg vor sich gesehen hat. Ich bin ihr dankbar für die unendliche Geduld, die sie gehabt hat. Aber ich bin heute auch so unendlich froh, dass ich mich getraut habe, diesen gemeinsamen Weg zu gehen. Nichts in meinem Leben hat sich mehr gelohnt. Vermutlich hat mir das auch die Kraft gegeben, dieses letzte Dreivierteljahr unbeschadet zu überstehen und sogar gestärkt aus ihm hervorzugehen.

Es kann sicherlich nur eine langsame Annäherung sein, die sich da jetzt vollzieht. Aber du schreibst, dass du keine ‚Schadenfreude‘ empfindest. Das ist sicherlich schon ein sehr gutes Zeichen, obwohl: ein kleines bisschen Schadenfreude dürfen wir uns auch zugestehen, denn so wie man den Genuss hat, von dem, was man tut, so muss man sicherlich auch den Schaden ertragen, der mit einem solchen Handeln verbunden ist – es gibt halt eben nichts umsonst im Leben.

Claudia und ich haben das damals auch über die gemeinsamen Leseabende herausgefunden. Und wir haben uns dabei auch harte Kost zugemutet. Deinen Mann und Claudia habe ich in den letzten Tagen (vor dem 1. März) noch einmal mit dem Buch von Hans Jellouschek (Die Rolle der Geliebten in der Dreiecksbeziehung) konfrontiert. Uns hat das damals geholfen, eine Menge von dem zu verstehen, was so schwer zu verstehen ist. Und mit einem wachsenden Abstand zu dem, was alles passiert ist, glaube ich auch, dass dein Mann sich/und euch die Chance geben wird, noch einmal genauer hinzuschauen. Und ich glaube auch, dass er noch einmal beginnt, um eure Ehe, die ja auch eingebettet ist in eine Familie, zu kämpfen.

Ich bin froh, dass wir auf diese Weise noch einmal Kontakt aufgenommen haben, wobei ich ganz sicher glaube, dass es dafür jetzt genau der richtige Zeitpunkt war.

Ein schöneres als all die letzten – und vor allem ein erstes auch schon mehr befreites Wochenende wünsche ich auch dir“

Während ich mit der Frau des Freundes diesen Briefkontakt aufnahm – sie erwähnt, dass ihr Mann geschäftlich Anfang März in Frankfurt war –, schrieb der Freund seiner Semele einen Brief, mit dem er das Blatt tatsächlich noch einmal zu seinen Gunsten wenden wollte. Dieser Brief verfolgte eine perfide Strategie, die schlicht damit zu tun hatte, dass ich nicht nur in der Schuldenfalle saß, sondern dass ich mir – wie zu Beginn geschildert – im Sinne eines Manifestes die Verpflichtung auferlegt hatte, den Schierlingsbecher mit meinem Schwiegervater bis auf den letzten Tropfen zu leeren. Auch im letzten Dreivierteljahr war ich kein Jota von dieser Haltung abgewichen. Alle Heiligen gehen mir am Arsch vorbei. Meine Position war schlicht: Es gibt im Leben nichts umsonst – alles hat seinen Preis; wird der Preis aus Dankbarkeit und Liebe entrichtet, dann ist/wird alles gut. In seinem Brief versuchte der noch im Kampfmodus argumentierende Freund Claudia zu verdeutlichen, sie müsse sich endlich von ihrem Vater befreien, dessen Stelle ich längst eingenommen hätte. Der Schuss ging indes nach hinten los. Vermutlich hatte er da sein Blatt endgültig überreizt, da Claudia über eigene therapeutische Anstrengungen das schwierige Tochter-Vater-Verhältnis längst hinreichend beackert hatte.

Und es ist mehr als redlich, wenn zwei Venusmenschen nach ihrem Frühlingserwachen die Kraft und den Anstand haben, auch noch einmal gemeinsam zu betrachten, was denn da in einem – gewiss auch traumhaften – Dreivierteljahr geschehen ist. Dass unser gemeinsamer Freund in seinem Survival-Package über einen hoch wirksamen Verdrängungsmechanismus verfüge, das war allen engeren Freunden offenkundig in all den Jahrzehnten nicht verborgen geblieben. Dennoch wunderte sich der/die ein oder andere nicht schlecht, in welchem Schweinsgalopp sich die Annäherung an die Familie in der Folge vollzog. Das gab Anlass zu einer durchaus gediegenen und berechtigten Hoffnung. Dass redliches Bemühen zweier Venusmenschen um Kontenklärung auch einen geschützten Raum benötigt, vor allem dies soll hier konzediert sein. Und dennoch bleiben eher die Enthüllungsszenarien legendär.

Claudia begann endlich, ihre ureigensten Interessen und Potentiale zu bergen und zu entfalten. Im Juli 2008 belegte sie einen Malkurs im Allgäu – die Freude darüber war allerseits; vor allem auch darüber, dass sie nicht versuchte, mich in Schlepptau zu nehmen. Unterdessen pflegte ich weiterhin e-mail-Kontakt zu der Frau des Freundes, ermunternd, begeistert von den Fortschritten im ehelichen Wiederbelebungsversuch. Als sie mir dann Mitte Juli schrieb, wie begeistert sie von der Verwandlung ihres Mannes sei, und dass er es ich verdient habe, mit seinem geliebten Motorrad durch die Alpen zu düsen, hörte ich wieder einmal die Nachtigall trapsen.

Das Treffen des Freundes mit Claudia – dieses Mal in den sommerlichen Bergen – war zwar konspirativ, aber es galt zweifelsfrei dem Versuch einer gemeinsamen Aufarbeitung der Vergangenheit; es hatte also nicht mehr ganz die Qualität des „Spiels“ das die beiden Venusmenschen – wie der Freund sagt – „gerne gespielt haben“, weil sie sich nun eben einmal so über die Maßen ähnlich seien. Seine Frau hat davon nie erfahren – ich war auch damals nicht gewillt, das zarte Pflänzchen eines gemeinsamen Neubeginns schon wieder im Keim zu ersticken.

Auf dem Hintergrund der dann letztlich eingetretenen Entwicklung war das sicherlich ein Fehler. Die beiden waren schon versierte, mit allen Wassern gewaschene Spieler – Zocker aus Leidenschaft. Am 14.07.2008 erhielt eine Postkarte in Südtirol ihren Poststempel, adressiert an Familie Witsch-Rothmund mit ganz lieben Grüßen von unserem gemeinsamen Freund. Aus den Dolomiten kommend habe er Livigno erreicht und mache sich morgen über die Schweiz auf den Heimweg – ganz weit weg vom bayrischen Allgäu. Claudia erzählte nach ihrer Heimkehr natürlich auch nichts von dem konspirativen Treff, der zum sogenannten Rütli-Schwur der beiden Hauptprotagonisten führte. Er beinhaltete im Grunde genommen die Übereinkunft, sich die Butter auch künftig nicht mehr vom Brot nehmen zu lassen.

Ich werde ja sicher in meinen folgenden Aufzeichnungen auch noch einmal verdeutlichen, warum ich jedem sein Butterbrot von Herzen gönne. Gleichzeitig räume ich auch gerne ein, dass ich an Achterbahnfahrten kein gesteigertes Interesse mehr hatte. So war es einerseits durchaus folgerichtig, dass im Herbst die Ski-Exkursionen wieder aufgenommen wurden; die erste gemeinsam mit des Freundes Sohn – eine gute Entscheidung, auch für den Sohn!? Die einen sagen so – die anderen so; viele weitere Ski-Unternehmungen erfolgten dann in wechselnden Konstellationen, sogar als gemeinsame Familienunternehmungen.

Das wäre auch alles nicht weiter erwähnenswert, wenn sich nicht im Rückblick so umfassend klar und deutlich zeigen würde, dass die Wiederbelebung der ehelichen Gemeinschaft unserer Freunde einer Totgeburt glich, dem Versuch einen toten Gaul zu reiten. Warum? Weil der Freund nicht ansatzweise erkennen ließ, dass er bereit gewesen wäre, seiner Frau auch nur einen zarten Schimmer dessen angedeihen lassen zu wollen, was Peter Fuchs mit einer wechselseitigen Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz so prägnant beschreibt. Im Gegenteil ließen die neuen Prioritäten nach einem anfänglichen Aufschwung sehr schnell erkennen, dass das glatte Gegenteil der Fall war.

Intriganten sind wir alle!

„Die Paarbeziehung als Liebesbeziehung ist nun mal das Herzstück jeder Familie und wahrscheinlich auch das Beste für die Kinder, denn: Das Beste, was ein Vater für seine Kinder tun kann, ist ihre Mutter zu lieben (Wolfgang Hantel-Quitmann, Liebesaffären – Zur Psychologie leidenschaftlicher Beziehungen, Gießen 2005, S. 9)!“

Den „Ordnungen der Liebe“ Bert Hellingers (Heidelberg 1994) – diese These stelle ich hier einmal in den Raum – ist nicht von vorne herein ein normatives Konzept, sondern eines, was auf die Bindungsdimensionen (-qualitäten und –unterschiede) in familiären und intimen Beziehungen aufmerksam machen will.

Der Rütli-Schwur im Juli 2009 war das eine. Im Oktober desselben Jahres ergaben sich dann neuerliche – ich möchte es einmal – Irritationen (nennen). In meinem Tagebuch ist folgender Vermerk.

„Aus den neuerlichen Irritationen der letzten Tage ergibt sich dem Freund gegenüber – wenn überhaupt – der Hinweis, endlich einmal, vielleicht über eine Aufstellungsarbeit, zu einer Einsicht bzw. einem Überblick zu gelangen im Hinblick auf die merkwürdige Fortsetzung einer Konstellation, für die im Februar/März 2008 der Höhe- bzw. Wendepunkt markiert war. Das gilt natürlich auch für Claudia. Vor drei Wochen waren die Freunde zuletzt bei uns; unsere Freundin hatte Claudia um ein klärendes Gespräch gebeten – ausgelöst durch eine e-mail, die Claudia irrtümlich ihr statt dem Freund zugesandt hatte. Für mich eine Bagatelle, in meiner Haltung zwischen Toleranz und Ignoranz. Dann wenige Tage darauf – mit extrem hohen Aufforderungscharakter ein Papierkorb vor der Türe zum Garten hin; unsere Papiersammeltonne steht in der Garage. Den Papierkorb nehme ich mit, zerlege wie immer – in Raumnot – Kartonage und entleere zuletzt das Restpapier. Was bleibt zu oberst liegen und springt mir ins Auge? ‚Ich liebe dich – KEINER LIEBT DICH SO, WIE ICH!!!“ Ich traue meinen Augen nicht. Was soll das??? Ich puzzle mails zusammen und bekomme eine eindrucksvolle Bestätigung der Irritiationen der Freundin. Die anschließenden Gespräche mit Claudia, in die auch unsere gemeinsame Lektüre der Familienaufstellungen Gunthard Webers (einschließlich meiner eigenen) einfließen, bringen immerhin als ein Ergebnis zu Tage, wer hier die Supernova, und wer hier die 25-Watt-Birne ist. Ich fordere lediglich, dass die Rütli-Gang sich besinnt und endlich ihre Hausaufgaben im Sinne des Höchstrelevanzkriteriums (Peter Fuchs) erledigt.

Immerhin reagiert der Freund am 12. Oktober 2009 mit einer mail, in der unter anderem zu lesen ist:

„Nun hoffe ich, dass ich mit meinen Zeilen, die Claudia zerrissen hatte und die du ohne Kontext zufällig gelesen hast, bei dir nicht so viel Wut und Verunsicherung freigesetzt haben, wie ich ganz sicher niemals wollte und wie sie der ganzen Situation auch nicht angemessen wären. Verstehen würde ich das allemal. Vielleicht haben wir beide aber jetzt auch wieder die Chance, besser ins Gespräch zu kommen.“

Damals wie heute war längst klar, dass es natürlich nicht primär um mich ging. Der Vergleich Supernova – 25-Watt-Birne trifft es auf den Punkt, und ich will die ganze Chose hier in konzentrierter Form zu einem Abschluss bringen: Der Freund betrieb nach dem Tod seines Vaters 2010 – er ist exakt drei Wochen nach Claudias Vater verstorben – mit Vehemenz die Rückkehr ins elterliche Haus; ein weiterer harter Konfliktpunkt zwischen den beiden Eheleuten. Seine Frau sperrte sich lange und letztlich auch final gegen diese Bestrebungen. So kam es denn 2012 zum Schlussstrich durch den Freund. Nach einem abgebrochenen Urlaub auf einer Mittelmeer-Insel, in dessen Zug der Freund aufgrund eines Unfalls einen mehrtägigen Klinikaufenthalt in Kauf nehmen musste, erklärte er die finale Trennung von seiner Frau. Die Scheidung ist mehr als sechs Jahre später nach endlosen Streitereien rechtskräftig geworden. Von 2012 bis 2014 – das Jahr, in dem wir Weltmeister geworden sind –,  verlagerte der Freund seinen Wohnsitz endgültig wieder in die Heimat. Die Entrümpelung seines Elternhauses erlebten wir – als fleißige Helfer und mit der Unterstützung des inzwischen gediegenen Freundes- und Bekanntenkreises – vordergründig betrachtet als Befreiung.

Die Freundschaft zwischen dem Freund und Claudia hatte sich in ruhigem Fahrwasser etabliert, es folgten viele Ski-Unternehmungen in wechselnden Konstellationen. Der Freund wuchs nun vollends und alternativlos in unseren gewachsenen Freundeskreis hinein.

Es sind Allerweltsweisheiten, dass ein Ehepartner dem anderen – mit Blick auf den kruden Alltag, die Vielfalt der unterschiedlichen Interessen respektierend – nicht alles sein kann. Im Lob der Vernunftehe hat Arnold Retzer die Bedingungen und Hilfestellungen bei der Kultivierung einer liebevollen Partnerschaft überzeugend vertreten. Wir hatten uns alle miteinander arrangiert. Claudia ließ sich weiterhin den Pelz waschen, ohne W a s s e r. Die Zeit von 2012 bis 2014 habe ich als vollkommen entspannte Zeit in Erinnerung.

Der Wendepunkt trat ein, als der Freund dann 2014 Weltmeister wurde und im Zuge dieser Euphorie erstmals eine andere Frau an seiner Seite erscheinen ließ. In einer Frühphase – im Oktober 2014 verabredeten wir uns zu einer gemeinsamen Wanderung. Schon auf den ersten Metern vermittelte Claudia der Frau, dass niemand den Freund besser kenne als sie. Es entstand eine Frontstellung, die sich aus Oberflächlichkeiten nährte, die aber alle Qualitäten eines gediegenen Machtkampfes aufwies. Vermutlich war ich hier aufmerksamer und höchstsensibilisiert, weil ich mir andauernd die Frage stellen musste: „Warum in aller Welt gebärdet sich meine liebe Frau in dieser Weise?“ Ich habe mich nie für meine Frau geschämt, musste nun aber fortgesetzt erleben, dass sie sich über Monate und Jahre nicht entblödete, ihrem allerallerersten Freund gegenüber, der für kurze Zeit wieder ihr Freund geworden war, mit unübersehbaren Eifersuchtsgebärden zu begegnen. Der wiederum bestand irgendwann auf der Position: „Mit ihr, oder gar nicht.“ Dazu hatte ich ihn ermuntert mit dem schon leidlich bemühten Hinweis, er solle endlich mal wieder – neben Schwanz - auch Arsch in der Hose zeigen. Wenn er sich sein Leben nicht von seiner Wasch-mir-den-Pelz-Freundin diktieren lassen wolle, dann müsse er ihr die Stirn zeigen.

Das tut der Freund bis heute. Die neue Frau wohnt seit geraumer Zeit in seinem Haus. Der Kontakt zwischen dem Freund und meiner Frau ist inzwischen freundlich aber distanziert. Apropos Freunde: So ziemlich alle Freundschaftsbeziehungen der letzten 15 Jahre haben sich weitgehend auf das Niveau eines lockeren Miteinanders reduziert; man spricht da – statt von Freundeskreis sicher angemessener von einem durchaus gediegenen Bekanntenkreis, bis auf wenige Ausnahmen, die dem steten Wandel standgehalten haben. Das komplette Desaster, das ich auf meine Weise abzuwenden versuchte, offenbart sich in zwei relativ späten Briefen an den Freund und meine Frau. Auch 2015/16 war es für mich ein Leichtes meine Argumentation gedeckt zu sehen von der Hypothek, die aber inzwischen lange aus unserem Seelengrundbuch gelöscht war. Delikat in dieser Hinsicht, der Hinweis, mit wem ich/wir seit unserer Heyerberg-Zeit in unmittelbarer Nachbarschaft lebe:

Güls, den 5.1.2015 (Teil 1) bzw. den 18.5.2016 (Teil 2)

Teil 1 vom 5.1.2015

Liebe Claudia, lieber Freund,

es wird Zeit für einen Brief. Es hat öfter Briefe zwischen uns gegeben. Seit 2008 galt dabei die Aufmerksamkeit immer Aspekten des Aufbruchs. Wir haben zuerst versucht, intime Paarbeziehungen und Freundschaft miteinander zu vereinbaren. Das ist misslungen. Keine Frau duldet die Konkurrenz sozusagen im eigenen Haus (mit kränkenden Provokationen, Schiurlaub über den Hochzeitstag oder intime briefliche Kommunikation). Die wechselseitige Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz – wie Peter Fuchs sagt – ist alternativlos. Ich argumentiere gerne damit, dass Claudia dies im umgekehrten Fall nicht geduldet hätte. So ist es irgendwie logisch und auch folgerichtig, dass die Paarbeziehung zwischen Dir – dem Freund – und Deiner Frau letztlich definitiv gescheitert ist und eine „Revitalisierung“ ausgeschlossen erscheint. Jedes Wort darüber ist gesagt.

Der zweite Versuch, den Respekt vor intimer Paarbeziehung und Freundschaft miteinander zu vereinbaren, scheitert nun ebenfalls:

  1. Als Freund und Freundin – so kann man es auch in klugen und allzu klugen Erörterungen über Freundschaft (z.B. bei Arnold Retzer) nachlesen – ist es angemessen und kommt nahezu einer Verpflichtung gleich, den Freund vor erkennbaren Gefährdungen zu warnen. Die Sorge um den Freund ist eines der stärksten Indizien für wahre
  2. Diese Sorge und die Formen ihrer Mitteilung unterliegen den Kriterien einer vertrauensvollen, nahezu intimen Diskretion, die jederzeit die Beteiligten vor Bloßstellung und Brüskierung schützt.

Wählt man davon abweichende Formen der (öffentlichen) Kommunikation, die einer Brüskierung und Bloßstellung der Beteiligten gleichkommt, gefährdet und belastet man Freundschaft zutiefst. Vor allem setzt man sich der Vermutung aus, erneut den Machtkampf zu suchen, um Fragen der Höchstrelevanz zum Entscheidungskriterium für künftige Freundschaftsbeziehungen zu machen.

Noch einmal: Bedenken gegen eine neu entstehende intime, höchstrelevante Beziehung des Freundes (die das Ausmaß der einem selbst entgegen gebrachten Aufmerksamkeit relativieren) kann und darf man äußern: Dies aber nur diskret und wertschätzend (dem Freund gegenüber).

Sucht man den Machtkampf, setzt man sich zwangsläufig anderen Vermutungen aus und gefährdet das gesamte Beziehungsumfeld:

  1. Die Motive sind eigennützig und bangen um die eigene Höchstrelevanz.
  2. Die eigene Handlungsweise brüskiert Freund und Intimpartner gleichermaßen, einmal abgesehen von der Brüskierung der Intimpartnerin des Freundes.

Warum ist dies so folgenreich?

  1. Der Freund wird neuerlich in eine Entscheidung hinein gezwungen, in der es um die Klärung von „Höchstrelevanz“ geht. Er muss sich letztlich entscheiden für eine höchstrelevante, paartaugliche Form der Intimbeziehung und gegen die Freundschaft.
  2. Der eigene Intimpartner fühlt sich brüskiert und gekränkt, weil er die eigene Partnerin nicht als Freundin eines inzwischen selbst geschätzten Freundes erlebt, sondern als jemand, der wiederum Konkurrenz auslebt in Fragen der Höchstrelevanz.

Gibt es für die Nachvollziehbarkeit dieser äußerst knappen Form der Analyse hilfreiche Kriterien und Anhaltspunkte? Im Grundsatz folge ich der nüchternen – man könnte hier, im vorliegenden Zusammenhang, auch sagen – der resignativen Einsicht, dass nie irgendeine Frau wissen wird, wie sich irgendein Mann fühlt, dass sie nicht einmal wissen kann, wie sich irgendeine andere Frau fühlt (vice versa). Wir behelfen uns mit Konstrukten, die wir Empathie nennen oder Perspektivenübernahme, sollen dies unseren Kindern oder auch schon den Kindern in der Grundschule vermitteln.

Kann man das heilen? Man kann, aber – wie meist – nur um den Höchstpreis: Man kann sich entschuldigen – so wie es Bert Hellinger in allen ausweglos erscheinenden Situationen empfiehlt. Eine ernsthafte Entschuldigung in der Folge einer demütigen Selbstüberwindung ordnet das Feld neu. Hält man dies für aussichtslos, vermag man hier nicht zu folgen, verliert man den Freund und gefährdet die eigene Paarbeziehung (siehe Anhang vom 18.5.2016).

Und noch ein letztes Mal: Man kann über jemanden, der neu hinzukommt – wie im Falle unseres Freundes  – d e n k e n, was man will, man darf und muss diese Bedenken vielleicht zum fortgesetzten Gesprächsanlass in der Beziehung zum Freund nehmen, aber dies immer diskret und wertschätzend; ansonsten verliert man den Freund. Man lässt ihm sozusagen keine Wahl!

Selten in unserer fast achtjährigen gemeinsamen Freundschaft – von Eurer (vermeintlichen) Freundschaftsdimension (in der Zeit) mag ich gar nicht reden; sie war in der Tat bislang fast singulär (berücksichtigt man den immer wieder einmal einsetzenden Moduswechsel zwischen intimer und freundschaftlicher Beziehung), wie gesagt, selten war ich so sehr von Resignation eingenommen, wie gegenwärtig. Allerdings hatten wir früh schon die Einsicht im Sinne des Kölschen Grundgesetzes: „Et kütt, wie ett kütt“ und: „Et hätt noch immer jot jejange“ – ach ja,nicht zu vergessen: „Nix bleiv, wie et es!“

Euer Jupp

 

Teil 2 vom 18.5.2016

Liebe Claudia, lieber Freund,

nachdem ich – vor Wochen, wie oben schon betont, aus Resignation und Müdigkeit – begonnen habe, „unsere“ Geschichte noch einmal gründlich aufzuarbeiten, fiel mir heute obiger Brief in die Hände; immerhin aus dem Januar 2015. Was ich in diesem Brief versäumt habe, das hole ich in diesem Anhang nach. Ich erinnere mich, dass Claudia Euch beiden schon 2008 (ich meine mit „Euch beiden“ natürlich Dich, mein Freund, und Deine Frau) „Zweierlei Glück“ von Gunthard Weber empfohlen hatte. Auf S. 143f.  findet sich zu paartypischen Verstrickungen folgende Passage:

„Wer in einer wesentlichen Paarbeziehung war (mit sexuellem Vollzug), ist gebunden und kann nicht mehr raus ohne Schmerz und ohne Schuld.“

Zum Ende solcher Verstrickungen schreibt er:

„Meist geht es zu Ende, ohne das einer Schuld hat, sondern es geht zu Ende, weil jeder in einer für ihn eigenen Weise verstrickt ist oder weil jemand auf einem anderen Weg ist oder auf einen anderen Weg geführt wird. Sobald ich aber eine Schuld ausmache, habe ich die Vorstellung oder Illusion, ich könnte etwas tun oder andere oder ich bräuchte sich nur anders verhalten, und alles wäre gerettet. Dann wird die Größe oder Tiefe der Situation verkannt und verlagert sich auf die Schuldsuche und Vorwürfe, die sie sich gegenseitig machen.“

Mit der seinerzeit aufgetauchten, zumindest aber in die Welt gebrachten Vorstellung, man müsse etwas zu Ende bringen, was vor 35 oder 40 Jahren begonnen habe, ist das verbunden, was bei Hellinger als „Größe und Tiefe der Situation“ verstanden wird. An dieser Größe und Tiefe kann man – nach allem, was geschehen ist – ganz sicher nicht zweifeln. Um hieraus aber tatsächlich einen  W e g   zu finden, empfiehlt sich nach Hellinger folgende Intervention mit schlichten, aber fundamental bedeutsamen und lösenden Sätzen:

„Die Lösung ist, dass sich beide ihrer Trauer überlassen, den ganz tiefen Schmerz, der Trauer darüber, dass es vorbei ist. Diese Trauer dauert nicht sehr lange, geht aber sehr tief und tut sehr weh. Dann sind sie auf einmal voneinander gelöst, und dann können sie nachher gut miteinander reden, und alles was noch zu regeln ist, vernünftig und mit gegenseitigem Respekt lösen. Bei einer Trennung ist die Wut sehr häufig Ersatz für den Schmerz der Trauer. Oft fehlt, wenn zwei nicht voneinander lassen können, das Nehmen. Dann muss der eine dem anderen sagen:

„Ich nehme, was du mir geschenkt hast. Es war eine Menge, und ich werde es in Ehren halten und mitnehmen. Was ich dir gegeben habe, hab ich dir gern gegeben, und du darfst es behalten. Für das, was zwischen uns schief gelaufen ist, übernehme ich meinen Teil der Verantwortung und lasse dir deinen, und jetzt lasse ich dich in Frieden. Dann können beide auseinandergehen.“

Meine Aufarbeitung dient allein dem Zweck, auf die seit zwei Jahren ausgelebte Verstrickung hinzuweisen. Nachdem der Freund endlich (!!!) wieder bereit war, einer anderen Frau als Claudia Höchstrelevanz und damit  V o r r a n g  einzuräumen, ist das Feld bereitet für eine Lösung der nie wirklich aufgelösten Verstrickung. Das hat schon die Frau des Freundes ihre 30 Jahre andauernde Paarbeziehung gekostet (mit der Konsequenz der nun endlich anstehenden – auch juristischen – Auflösung dieser Ehe – vice versa) und bedroht(e) auch des Freundes Neuorientierung in der Welt der Frauen; mich hat es zunehmend belastet, Claudia hat es belastet und letztlich auch unser beider Paarbeziehung, die uns kostbar ist!

So bin ich überzeugt (ich habe es in Heidelberg erleben dürfen, und ich habe es vor allem an Leib und Seele erleben dürfen, wie befreiend die von Hellinger empfohlene Intervention ist), dass damit endlich ein Weg in die Freiheit geebnet werden kann. Was Freiheit in diesem Sinne bedeutet, das wird Claudia mir zutiefst attestieren. Denn sie erlebt, wie sich R.B.-K. (meine Verstrickung aus 1997) und der Jupp in letzter Zeit häufig – rein zufallsbedingt – begegnen: vollkommen unbefangen, ohne jede Häme, ohne jede Spitze (Kränkung, Beleidigung, Herabsetzung); denn R. ist unsere neue Nachbarin auf dem Heyerberg!

Das dürfte doch endlich auch uns allen einen ersten unbeschwerte(re)n Blick in die Zukunft erlauben!

Der Euch nach wie vor gewogene Jupp

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund