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Denn die Menschen: das sind ihre Geschichten - oder: gegen die narrative Atrophie

Odo Marquard, den ich so spät für mich entdecke, ist am 9. Mai 2015 verstorben. Er kann sich gewiss sein, dass er etwas zu sagen hat(te); als Apologet nicht nur des Zufälligen, sondern als ironisch-humorvoller Apologet der Geisteswissenschaften - oder etwas simpler und gefälliger als Verteidiger der Vielfalt. Seine Ausgangsthese in seinem Essay: Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften (in: Zukunft braucht Herkunft, Stuttgart 2015, 169-187):

"Je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften."

Seine Argumente (173ff.):

  • Die durch die experimentellen Wissenschaften vorangetriebene Modernisierung verursache lebensweltliche Verluste, zu deren Kompensation die Geisteswissenschaften beitrügen. Das feine Florett, mit dem Odo Marquard ficht, sticht in einer Zusammenfassung der Fundamentalia einer sich empirisch-experimentell vestehenden Wissenschaft. Denn: Wer überprüfbar experimentieren wolle, müsse die Experimentierer "austauschbar machen". Die Experiementierer aber seien Menschen und insofern eben nicht einfach austauschbar; nicht allein deswegen, weil es bei Menschen - sozusagen im Sinne eines bedauerlichen Störfaktors - als Randphänomen auch noch ergebnisverfälschende Emotionen gebe, sondern weil die Menschen primär tatsächlich verschieden seien, nämlich - noch vor aller Individualität - fundamental mindestens dadurch, dass sie in verschiedenen Traditionen sprachlicher, religiöser, kultureller, familiärer Art steckten und gar nicht leben könnten, wenn das nicht so wäre: "Wir Menschen sind stets mehr unsere Traditionen als unsere Experimente."
  • Die von den experimentellen Wissenschaften reklamierte Neutralisierung der geschichtlichen Herkunftswelten gelinge im Labor, nicht aber im Leben, und weil es Menschen gebe, bei denen das Labor zum Leben gehöre, nicht einmal durchgängig im Labor. Daher gelte grundsätzlich: Die modernen Wissenschaften würden exakt, d.h. zu experimentellen Wissenschaften, durch Neutralisierung jener lebensweltlichen Traditionen, in denen ihre Wissenschaftler stünden, also durch methodischen Verzicht auf ihre geschichtlichen Herkunftswelten.
  • Modernisierungen bestünden insofern in der - partialen Ersetzung der Herkunftswelten durch experimentell geprüfte und technisch erzeugte Sachwelten, die ihrerseits - damit er sich in ihnen zurechtfinde - den austauschbaren Menschen verlangten auf Kosten seiner traditionellen Verschiedenartigkeiten. Der Mensch werde nun auch lebensweltlich zum Sachverständigen und das, was sei, zur Sache: zum exakten Objekt, zum technischen Instrument, zum industriellen Produkt, zur ökonomisch kalkulierbaren Ware, wobei all dieses - weil es zur Globalisierung dränge - die Lebenswelten weltweit uniformisiere; mit einem Wort: die Gleichförmigkeiten siegten.
  • In der modernen Welt - so Marquard - würde immer schneller immer mehr zur Sache. Das bedeuete: "Immer weniger von dem, was Herkunft war, scheint Zukunft bleiben zu können." Das aber wäre unkompensiert - so seine Schlussfolgerung - ein menschlich unaushaltbarer Verlust, weil zunehmend der lebensweltliche Bedarf der Menschen nicht mehr gedeckt wäre, in einer farbigen, vertrauten und sinnvollen Welt zu leben. Dieser Verlust also rufe nach Kompensation!

Seine Idee und die zu ihrer Haltbarkeit notwendige Prämisse:

  • Odo Marquard versteht sich als skeptischer Optimist - nur so lässt sich seine Grundanahme verstehen, auf der seine Argrumentation gründet. Denn: "Wären in der modernen Welt alle Traditionen verschlissen (oder auch nur die meisten), käme jede Hilfe zu spät." Aber auch gerade modern seien und blieben wir Menschen stets mehr unsere Traditionen als unsere Modernisierungen: "Die Geisteswissenschaften helfen den Traditionen, damit die Menschen die Modernisierungen aushalten können." Dafür reklamiert Odo Marquard die Kunst der Wiedervertrautmachung fremd werdender Herkunftswelten und gelangt zu seiner Schlüsselthese:

"Denn die Menschen: das sind ihre Geschichten. Geschichten aber muss man erzählen. Das tun die Geisteswissenschaften: sie kompensieren Modernisierungsschäden, indem sie erzählen; und je mehr versachlicht wird, desto mehr - kompensatorisch - muss erzählt werden: sonst sterben die Menschen an narrativer Atrophie."

 

Odo Marquard unterscheidet drei Sorten von Geschichten:

  • Sensibilisierungsgeschichten: Modernisierung - betont Marquard mit Max Weber - wirke als Entzauberung. Das Ästhetische sei in der Lage durch "Ersatzverzauberung" zu kompensieren. In einer farblosen Welt stille es den Farbigkeitsbedarf durch Sensibilisierungsgeschichten;
  • Bewahrungsgeschichten: Marquard spricht analog von "lebensweltlichem Vertrautheitsbedarf", der sich kompensatorisch zu einer immer fremder werdenden Welt verhalte. Eine zunehmende Sensiblisierung für Natur und Geschichte manifestiere sich in "konservatorischen Aktivitäten": dem Museum, der forschenden Erinnerung, der Denkmalpflege - "keine Zeit hat soviel zerstört wie die Moderne; keine Zeit hat soviel bewahrt wie die Moderne". Die Geisteswissenschaften - so Marquard - untersützten dies, indem sie Bewahrungsgeschichten erzählten.
  • Orientierungsgeschichten: Hier rückt Odo Marquard in einer "undurchschaubar und kalt gewordenen Welt" den lebensweltichen Sinnbedarf in der Fokus. So sehr denn Marquard auch dazu ermuntert, sich auf Traditionen zu besinnen, mit denen man sich identifizieren könne, so sehr betont er die Notwendigkeit einer Distanzierung von Traditionen. Die Aufgabe der Geisteswissenschaften sei es, Orientierungsgeschichten zu erzählen.

Dass Odo Marquard eben kein schlichter Denker bzw. Traditionalist ist, offenbart sich im dritten Abschnitt, wenn er das "Lob der Vieldeutigkeit" anstimmt. Ich möchte behaupten, dass sich just in diesem Zusammenhang entscheidet, dass er zeitgemäße Reflexionen anbietet und sich auf einer Höhe mit der von Sloterdijk am Beispiel Niklas Luhmanns aufgezeigten "Selbstdesinteressierungshaltung" befindet:

Nachdem Odo Marquard, die Frage, ob denn die Wissenschaften erzählen dürften, als rhetorische Frage entlarvt und seine Position schärft, indem er 1. feststellt, das Wissenschaft das sei, was Wissenschaftler als Wissenschaft anerkennen; und 2. deutlich macht, dass Orientierungshilfen für derartige Anerkennungen genau damit einhergehen, dass Wissenschaft erzählt, "wie und in welchen historischen Zusammenhängen die Wissenschaften wurden, was sie sind", erfolgt das entscheidende Plädoyer für eine (unvermeidbare) Kultur der Vieldeutigkeit:

Wer erzähle - so insbesondere der Generalvorbehalt -, unterbiete das wissenschaftliche Soll an Eindeutigkeit, so dass es in den Geisteswissenschaften zu Mehrdeutigkeit oder Vieldeutigkeit komme: "Doch wer das den Geisteswissenschaften zum Einwand macht, übersieht etwas Wichtiges, nämlich dieses: Eindeutigkeit [...] ist in den interpretierenden Geisteswissenschaften kein Ideal, das nicht erreicht wird, sondern eine Gefahr, der es zu entkommen gilt."

Der nun folgende knappe (wissenschafts-)historische Exkurs ist unverzichtbar, um Marquards Apologetik des Erreichten zu verstehen. Insbesondere im brandaktuellen Kontext der Flüchtlings- bzw. der damit verbundenen Integrationsdebatte erlangt diese Position ungebrochene Aktualität und Bedeutung.

Die Antwort auf die Tödlichkeitserfahrung der konfessionellen Bürgerkriege:

Odo Marquard weist darauf hin, dass die konfessionellen Bürgerkriege hermeneutische Bürgerkriege waren,

"weil man sich dort totschlug um das eindeutig richtige Verständnis eines Buchs: nämlich der Heiligen Schrift, der Bibel; und diese Antwort kam spät, denn sie wurde unausweichlich erst durch die Tödlichkeitserfahrung der neukonfessionellen Bürgerkriege, die die modernen Revolutionen seit 1789 sind, die hermeneutische Bürgerkriege blieben, weil man sich dort totschlug und totschlägt um das eindeutig richtige Verständnis der einen einzigen eindeutigen Weltgeschichte. Wenn zwei Menschengruppen kontrovers behaupten: dieses Buch - das absolute, um das es einzig geht - und diese Geschichte - die absolute, um die es einzig geht - lassen nur eine einzige alleinrichtige Deutung zu, und diese Deutung haben wir und nur wir: dann kann es zum hermeneutischen Totschlag kommen."

Für Odo Marquard sind es die Geisteswissenschaften, die auf das Traum des hermeneutischen Bürgerkriegs die angemessen Antwort geben. Sie - so sein Argument - entschärften potentiell tödliche Deutungskontroversen, indem sie das rechthaberisch eindeutige in das interpretierende und uminterpretierende Verständnis verwandelten und entdeckten: "das Bücher nicht nur eine Deutung haben un dass es nicht nur ein Buch gibt; und: dass Geschichten nicht nur eine Deutung haben und dass es nicht nur eine Geschichte gibt [...] und so ist die Vieldeutigkeit keine wissenschaftliche Übeltat, sondern eine lebens- und sterbensweltliche Wohltat [...]

Diese Kultur der Vielfalt und Vieldeutigkeit wird gerade modern - und zwar wachsend - unvermeidlich."

 

Wie sehr Odo Marquard damit auch ein Kernmotiv Niklas Luhmanns reflektiert, soll abschließend in einer Bewertung Sloterdijks deutlich werden, dass nämlich die Intellektuellen, die für sich einen höheren Ernst reklamierten, weil sie sich als Fürsprecher einer Realität ersten Grades, einer unmittelbaren Not oder einer unabgekühlten Wut aufträten, genau diese Einsicht verweigerten. Die Entbindung der ungeheuerlichen Gewaltexzesse im 20. Jahrhundert und ihre Fortsetzung bis in die Gegenwart hinein schreibt Sloterdijk in Anlehnung an die Luhmannsche Haltung der „Selbstdesinteressierung“ dem allen Weltbeschreibungen erster Ordnung inhärenten Paranoia-Potential und dem von ihm gebundenen und entbundenen Gewaltpotential zu: „Wo immer Menschen anfangen, ihre Weltbilder distanzlos zu bewohnen und ihre Einteilungen des Seienden im ganzen als eine Arena realer Kämpfe zu erleben, dort sind sie der Versuchung ausgesetzt, für ihre Identitätskonstrukte bis zum bitteren Ende zu kämpfen und für ihre Fiktionen zu töten (Luhmann-Lektüren, Berlin 2010, S. 153).“

 

 

 

   
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