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(M)ein Adventskalender (2022) - Heute öffnen wir das erste Türchen (1)

Auch in den nächsten 24 Tagen werde ich hier im Rahmen meines Blogs - wie schon 2021 - meinen ganz persönlichen Adventskalender präsentieren. Ich erinnere mich gerne an die Zeit, als sich im Südwestrundfunk vor vielen, vielen Jahren in der Adventszeit jeden Morgen knarrend und schliepsend ein Törchen öffnete, um uns in erster Linie zu erfreuen und frohgestimmt in den Tag gehen zu lassen - ein reines Amüsement wird mein Kalender sicherlich auch in diesem Jahr nicht sein können. Apropos:

Wenn ich sage - persönlich - dann meine ich damit, dass die Auswahl der Themen und ihre Kommentierung innerhalb meiner persönlichen Vorlieben liegt. Dabei bin ich mir schon allein deshalb gewiss, dass er meinen persönlichen Horizont deutlich übersteigt, weil ich mir - wie fast immer in meinem Blog - schwergewichtige Zeitzeugen und Mitstreiter zur Seite stelle. Heute gestatte ich mir – wie schon in meinem letzten Blog-Beitrag – Peter Sloterdijk zu bemühen. Es wird um Grauzonenkunde gehen. Wenn wir unter die Röcke der GroßmeisterInnen kriechen oder uns – vermessen – auf ihre Schultern stellen, um  unseren Horizont zu weiten, dann halte ich dies im Übrigen nicht für eine Form des Diebstahls, wie Peter Sloterdijk geneigt ist anzumerken; im Gegensatz zu einem Dieb, der die Herkunft des Erworbenen (präziser des Gestohlenen) zu verschleiern sucht, betonen und belegen wir akribisch, aus welchen Quellen wir schöpfen.

Der allerletzte Satz in Peter Sloterdijks aktuellem Werk Wer noch kein Grau gedacht hat – eine Farbenlehre (Berlin 2022) lautet:

„Wer noch kein Grau gedacht hat, dem ist die Frage unde bonum, Woher das Gute?, die das Herz der Seinsfrage bildet, noch nicht begegnet (Seite 286).“

Michael Maar, der Peter Sloterdijk zu seinem aktuellen Buch interviewt hat, meint zu diesem Schlusssatz, er sei der Hammer! Die nun von mir im Folgenden platzierte lange Passage, die mit diesem Schlusssatz endet, wird – wie wir sehen werden – aber erst so richtig scharf gestellt, durch Peter Sloterdijks profane Umdeutung – oder besser Zurechtrückung – des Jüngsten Gerichts. Wer – um alle Welt – mag dafür empfänglich sein? Derjenige, der getrost seine letzten Tage im hellen Licht von Erlösungsphantasien verbringt? Derjenige, der den Qualen der Rückschau nur in der Konsistenz einer dichten Grauzone entgeht? Oder vielleicht derjenige, der – im Gewahrsam aller Inkonsistenz – dem letzten taschenlosen Hemd doch noch Erinnerungslitzen aufnähen möchte? Peter Sloterdijk schreibt:

„Um zum Schluss zu kommen: Das Farb- oder Unfarbwort Grau, einmal aus der Latenz geweckt, verfolgt das Denken über Selbst, Gott und Welt bis in die letzten und am meisten entzogenen Dinge. Kein Selbst, das nicht vor der Wahl stünde, sich in der Drift der Verhältnisse aufzulösen – grau durch Demission – oder sich ins tätige Mittlere zurückzuziehen – grau durch Unscheinbarkeit im Dienste am größeren Geschehen (Hervorhebung, FJWR).Kein Weltbegriff, in dem nicht Hell und Dunkel, An und Aus, Eigen und Fremd zum Grau neutraler Daten zusammenlaufen. Kein Begriff von Gott, der nicht ein von etwas überformtes Nichts hervorkehrt. Keine menschliche Handlung, die nicht in unüberschaubare Folgenreihen ausläuft, keine Unterlassung, die nicht die Welt durch fehlende Effektfolgen mitgestaltet. Kein Mitmensch, der nicht in das Zwielicht seiner Situation eingetaucht ist, umgeben von den wenigen nahen und den unzähligen fernen anderen in ihren eigenwüchsigen Zwielichtfeldern. Hervorhebung, FJWR).
Ist Lebenskunst nicht mehr als ein leicht gesagtes Wort für die schwer zu erwerbende Disziplin der Grauzonenkunde? […] Es ist die Nuance von Grau-in-Grau, die immerzu in allem entscheidet, woran wir uns zu halten haben. Je heller die Nuance, desto stärker die Evidenz, daß im Experiment der Welt nicht ohne die Mitwirkung des Hellen und Guten gelingt, während die Alleinherrschaft des Lichts nur eine plane weiße Wüste ergäbe. Wer noch kein Grau gedacht hat, dem ist die Frage unde bonum, Woher das Gute?, die das Herz der Seinsfrage bildet, noch nicht begegnet (Seite285f.).“

Es geht mir um die lapidare Randbemerkung, wonach es keine menschliche Handlung (gibt), die nicht in unüberschaubare Folgenreihen ausläuft, (wonach es) keine Unterlassung (gibt), die nicht die Welt durch fehlende Effektfolgen mitgestaltet. Dazu gehört die Einsicht, wonach es keinen Mitmensch (gibt), der nicht in das Zwielicht seiner Situation eingetaucht ist, umgeben von den wenigen nahen und den unzähligen fernen anderen in ihren eigenwüchsigen Zwielichtfeldern.

Es ist zweifellos auch das eigene Wüten in dieer Welt, das diese Einsichten in meine eigene Erfahrungs- und Erinnerungswelt eingebrannt hat (siehe Kurz vor Schluss I sowie Kurz vor Schluss II). Und diese Einsicht gewinnt nicht nur Brisanz mit Blick auf das eigene Handeln und Unterlassen, sondern seine Sprengkraft gewinnt es aus der Verantwortung für diejenigen, die nach uns kommen; die nach uns gekommen sind und die zuerst Säugling, dann Kleinkind, Kind und Jugendliche waren und irgendwann ihr Leben als Erwachsene aus eigener Einsicht und Verantwortung heraus gestalten (wollen). Alle Kompetenzen, alle Unfähigkeiten, alle Liebe und alle Missachtung, alle Aufmerksamkeit und das vollständige urvertraulich relevante Gesamtkunstwerk, das wir als Partnerin und Partner, als Vater und Mutter, als Opa und Oma, Onkel und Tante, Bruder und Schwester, Freund und Freundin abgeliefert haben, bilden den mächtigen Urgrund, aus dem die Individuationsbemühungen der Kinder und Kindeskinder Gestalt annehmen. Und erst in diesem Licht gewinnen die Ausführungen Peter Sloterdijks zum Jüngsten Gericht ihre besondere Qualität!

„Das Jüngste Gericht hat nicht die Form der von Johannes und vernichtungslüsternen Eiferern seines Schlages erträumten und geforderten synchronen Schlußkatastrophe. Es findet kontinuierlich statt, entlang den vereinzelten Fäden der Endlichkeit (Hrevorhebung, FJWR). Die Kandidaten treten je für sich, einzeln, fallweise, im taschenlosen Hemd vor die Schranken in Erwartung des Urteils, bis sie begreifen: Es geschieht nichts. Das Gericht ist das jüngste, weil beim Erlöschen einer Welt die Verfahren gegen ihre Bewohner eingestellt werden. Hat nicht jeder einzelne Tod das Ausmaß eines Weltuntergangs? Alles, was war, wird von Fall zu Fall in die graue Hülle des Gewesenseins eingeschlagen und so zum Granit des So-und-nicht-anders-Gewordenen hinzugelegt (Hervorhebung, FJWR).Was als unerledigte Hoffnung weiterlebt, wird Teil der schwachen messianischen Kraft, die jeder nicht ganz verlorenen Generation eigen ist, um an der Schaffung einer nächsten, etwas verbesserten Welt mitzuwirken (Seite 282f.).“

Die graue Hülle des Gewesenseins und der Granit des So-und-nicht-anders-Gewordenen sind damit zwar von den Toten nicht mehr zu ändern, aber sie wirken fort im Sinne der Sloterdijkschen – ich möchte es Mahnung nennen -, wonach es eben keine menschliche Handlung (gibt), die nicht in unüberschaubare Folgenreihen ausläuft, (und wonach es) keine Unterlassung (gibt), die nicht die Welt durch fehlende Effektfolgen mitgestaltet.

Alexander Kluge hat uns schon vor zehn Jahren aus der gleichen Einsicht zugerufen:

Wir müssen uns auf die Socken machen, der Schnee schmilzt weg. Wach auf du Christ - und was noch nicht gestorben ist, macht sich auf die Socken!"

Den Hinweis zum Interview Michael Maars mit Peter Sloterdijk verdanke ich Rudi Krawitz.

Hier geht es zum zweiten Türchen (2)

   
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