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Wie gehen wir durch die Geschichte - wie geht Geschichte durch uns hindurch?

Dieses Jahr gibt es von mir keinen Adventskalender - der Advent 2023 hat mir aber eine der schönsten Geschichten der letzten Jahre geschenkt!

Was sind Diskurse? fragt Peter Sloterdijk in seinem dritten Band von Zeilen und Tage (Notizen 2013-2016, Suhrkamp 2023). Seine Antwort: "Schemata des Aussagens von Sachverhalten. Floskelsysteme, Formulierungsroutinen." Anfang November erwischte mich covid19 zum zweiten Mal (zumindest meiner Kenntnis nach - validiert durch einen tatsächlich durchgeführten Test). Noch ein wenig reduzierter in meinen Außenkontakten kam mir eine merkwürdig schlichte, aber gleichermaßen faszinierende Idee. Seit meinem ersten Umzug (1974) trage ich mit mir anwachsende Kartons mit Bilderfluten in die Welt - seit gut zwanzig Jahren nicht mehr so sehr materialisiert (auf Fotokarton), sondern eher als digitale Friedhöfe, in denen sich sichtbare Zeugnisse unseres Driftens durch diese Welt manifestieren. Aber auch in den besagten Kartons mögen es weit mehr als mehrere tausend belichtete Fotoleichen sein, die hier ein merkwürdig invariantes Dasein fristen. So kam ich also auf die Idee diese Kartons zu öffnen und mir eine aufmerksame bis ängstliche Auseinandersetzung mit einer Unzahl aufs Papier gebannter Augenblicke zuzumuten. Sekündlich war klar, dass Fotos in erster Linie Papiermüll darstellen, gestattet man ihnen nicht eine sinnerzeugende - zumindest sinnahnende - Belichtung gewissermaßen durch Erinnerungsarbeit. Schreibintensive und -gebundene Versuche meinerseits sind inzwischen Legende. Auch in diesen Versuchen haben Fotos einen Kontext gefunden; erst durch Kontextualisierung werden Zugänge möglich.

Der letzte - bald vorletzte - Versuch (weil ich immer noch nicht aufgebe und vom Schreiben nicht lassen mag) kommt möglicherweise einer radikalen Selbstentblößung am nächsten, wobei die Anteile von Selbstverhüllung - bis hin zur Selbstverleugnung weit mehr Gewicht auf die Waagschale bringen. Niklas Luhmann spricht von Inkonsistenzbereinigungsprogrammen und hat damit einen fast euphemistischen Begriff dafür geprägt, dass man sich selber nicht in allseitiger und alltiefenscharfer Transparenz begegnen kann. Und wer kann das schon wollen? Nimmt man das hier scharfgestellte Beispiel einer Selbstbegegnung in Form nicht aus der Welt zu schaffender Fotografien, beginnt es schon mit dem  unvermeidbaren Vorgang der Selektion. Es gibt Fotos mit hohem und allerhöchstem Identifikationspotential, und es gibt Fotos die wir nahezu schreikrampfartig von uns weisen, möglicherweise in situ zerreissen oder eben wieder im kartonierten Mausoleum verschwinden lassen; dazwischen eine Unzahl von Fotos, die uns vielleicht noch amüsieren, die wir aber meist mit Desinteresse zur Seite legen. Es ist wohl keine Frage, welche Fotos die bedeutsameren sind(:-)

Der (innere) Diskurs, den Fotofriedhöfe anstoßen, läuft nach dem vielzitierten Bonmot ab: Wer bin und war ich, und wenn ja wie viele? Wie die Wachstumsringe eines Baumes lassen sich die Fotografien in Gestalt konzentrischer Kreise ordnen. Dabei geben wir einer biografisch ausgewiesenen Chronologie den Vorrang. Wir werden geboren - das dazu passende Fotobuch hieß in der analogen Welt: Unser Baby oder Unser Kind - Kindheit liefert im Sippenkontext milliarden- und abermilliardenfach gesuchte und gefundene Motive vom Wochenbett bis zur Einschulung und darüber hinaus. Wir sind vielfach das gesuchte und begehrte Objekt im Belichtungswahn unserer Eltern und Verwandten. Irgendwann tauscht man dann die Rollen und wird selbst zum Beobachter seines Umfelds. Bereits beim ersten Sichten und einer faszinationsgeschuldeten Selektion des Bildmaterials beginnen wir dies zu realisieren und beginnen zu unterscheiden zwischen inszenierten Fotoshootings und dem, was wir Schnappschüsse nennen. In der Wahrnehmung lange unbeachteter Fotodokumente spüren wir sofort, wo wir neben der Inszenierung die Idee des Beobachters vermuten - eben von diskreten Schnappschüssen bis hin zu voyeuristisch anmutenden Motivationen und Motiven. Beim Fotografieren - sieht man einmal ab von didaktisch ambitionierten Text-Bild-Collagen - geht es nicht um die Klärung oder Dokumentation von Sachverhalten. Hingegen kommt die Mehrheit der hinterlassenen Fotos in der Tat floskelhaft daher - auf Fotopapier gebannte Routinen, begleitet von Ameisenscheisse oder Cheese-Orgien.

Konzentrische Kreise bieten in jeder Hinsicht präzise Unterscheidungsmöglichkeiten dem (auch spontan beim Betrachten von Fotos) entstehenden Resonanzraum nachzuspüren, in dem Abstand und Nähe in zeitlicher wie in sozialer Hinsicht aufscheinen und nachklingen (siehe dazu: Kindheit im Spiegel von Fotografien). Heute Morgen erlaubte mir Harald Martenstein dies noch einmal fundamental zu erfahren. Neben seiner Kolummne finde ich im aktuellen ZEIT-Magazin (7.12.2023 N° 52) einen Beitrag: Wann ist Versöhnung möglich? Die eigene Familie, aber auch die Weltgeschichte zeigen: Selbst die schwersten Konflikte sind nicht ganz ohne Hoffnung. Ganz am Ende dieses Beitrages, in dem er unter anderem seine extrem schwierige und belastete Beziehung zur Mutter thematisiert, schreibt er (Jahrgang 1954):

"Es ist auch ganz ohne skandalöse Enthüllungsstory klar, dass fast alle nach einer gewissen Zahl von Lebensjahren etwas auf dem Kerbholz haben, vor allem, behaupte ich jetzt einfach mal, die gnadenlosen Moralapostel."

Und Martenstein stellt nach langen Ausführungen zu politischen und privaten Konflikten und ihren Lösungen bzw. Lösungsperspektiven die grundlegende Frage, warum sich, so viele von uns nach Versöhnung sehnen. Seine Antwort ist gleichermaßen simpel wie schlagend:

"Man muss damit klarkommen, dass man manchmal andere ablehnt und selbst abgelehnt wird. Aber schön ist es nicht. Wir sind Rudeltiere, ist das der Grund? Hass und Streit tun weh. Niemand fühlt sich wohl, der brüllt und um sich schlägt, egal, ob verbal oder mit Fäusten. Ganz im Gegenteil. Ein Teil des Schmerzes, den du anderen zufügst, strahlt immer auf dich selbst zurück. Die wenigsten - außer die ideologisch völlig Verhärteten - empfinden Glück bei dem Gedanken: Das ist mein Feind, und ich bin dessen Feind. Versöhnung ist deshalb ein Art Erlösung. Sie tut gut."

Ein Telefonat heute Morgen hat mir diese Einsicht auf so besondere Weise vermittelt, dass ich die dahinter stehende lange Geschichte und ihren Ausgang mitten im Advent als vorgezogenes Weihnachtsgeschenk betrachte: Vor wenigen Tagen besuchten wir - Claudia und ich - eine Feier, mit der wir den 86sten Geburtstag eines mir seit meiner Kindheit vertrauten und verbundenen Menschen würdigten. Er lebt seit mehr als 25 Jahren in zweiter Ehe. Trennung und Scheidung seinerzeit hatten - auch im Nachgang - lange, lange Jahre den Charakter von Krieg und wechselseitiger Missachtung. Als Eltern hatten es die Geschiedenen vor allem in diesem Nachgang nicht gut gemacht. Nun war an diesem Abend zum ersten Mal seit vielen Jahren seine ganze Familie anwesend. Es war eine kleine, bescheidene Feier, die in angenehmer und gelöster Atmosphäre stattfand. Über die letzten Jahre hatten die ehemals ehelich Verbundenen und Zerstrittnen zur Aussöhnung gefunden; ein langer Prozess, wenig synchronisiert, aber in der langen Weile doch so beharrlich und letztlich erfolgreich, dass Harald Martensteins Appell, den er uns im letzten Satz seiner Ausführungen zuruft, bei beiden ehemaligen Kontrahenten nachhaltige Resonanz gefunden hat:

"Wenn wir miteinander gut leben wollen, sollten wir einander vergeben können, und wir sollten uns versöhnen. Sofern es sich irgendwie machen lässt."

Es hat sich machen lassen. Und die von mir in meine kommentierten Fotobücher eingeklebten Fotos, die die Beteiligten in biografisch so unterschiedlichen Kontexten zeigen, erscheinen auf einmal in einem anderen Licht - ein Licht, das auch mich wärmt.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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