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Joachim Meyerhoff: Alle Toten fliegen hoch - auch unsere Toten?

Wir haben uns bereits als Meyerhoff-Fans geoutet -allerdings mit ordentlichem zeitlichem Verzug. Alle Toten fliegen hoch - Teil I, bereits 2011 erschienen, habe ich erst in der 61. Auflage 2024 erstanden - 61 Auflagen; ist das zu fassen!? Die Zweisamkeit der Einzelgänger - Alle Toten fliegen hoch Teil 4 ist in der ersten Auflage 2017 erschienen. Unsere Freundin Marisa, die - wie keine zweite - mit geschärfter Lese-Machete feine Schneisen in den Bücherdschungel liest, hat es uns als Vorleselektüre vor 14 Tagen ausgeliehen. Als Vorleser bin ich kein Schnellleser, sondern ein akribischer Wörterfresser, der das Gelesene nicht nur konsumiert, sondern nach allen Regeln der Kunst verdaut (zum Beispiel: Michael Kleeberg oder Kleeberg Michael oder Erik Schulman oder Peter Härtling oder Härtling Peter oder Wolf Biermann oder Max Frisch oder Peter Sloterdijk oder Benedict Wells oder Bernhard Schlink oder Erich Kästner oder - und - und - und. So blieb mir natürlich nicht verborgen, dass die letzten vier Worte in Die Zweisamkeit der Einzelgänger lauten: Alle Toten fliegen hoch. Auf den letzten drei Seiten seiner Erzählung entwirft Joachim Meyerhoff ein Szenario, das mich häufig im schleichenden Übergang vom Wachsein hinein in einen Dämmerzustand begleitet - eine kostbare, bewusstseinstrübende Schliere im Dahinschlummern; ein Zustand, in dem sich gleichermaßen etwas löst und verdichtet. Joachim Meyerhoff schreibt: "Etwas in mir wurde lose, gelöster, wühlte herum und wollte herauf und hinaus." Und in dieser eigenwertbasierten Dynamik verlieren wir die Kontrolle über das Geschehen. Es löst sich von uns ab und macht was es will:

"Da kam jemand in den Gastgarten, und ohne auch nur den Hauch eines Erstaunens erkannte ich meinen toten Bruder. [...] Ich konnte ihn mir in aller Ruhe ansehen. Gut, dachte ich, dass du da bist. Aber so allein wollte ich ihn da nicht sitzen lassen. Die Zusammensetzung der Luft und des Lichts, meine gleichermaßen fragile wie stabile Gemütslage, die vertrauten Hintergrundgeräusche - das alles war perfekt aufeinander abgestimmt, um die Toten anzulocken. ich musste schmunzeln, denn kaum hatte ich an meinen Vater gedacht, saß er auch schon am Tisch. [...] Und dann großer Auftritt mit Seidenschal, im rosa Hosenanzug und Duftwolke: Meine Großmutter setzte sich aus Hunderten Schatten zusammen und so, als wäre ihr diese Inkarnation selbst ein wenig zu dramatisch, riss sie den Arm in die Höhe und rief >Moooaahhh<. Ich hörte es ganz deutlich. Mein Großvater kam sommerlich gekleidet zwischen den Tischen hindurchgetippelt, bog kurz vor mir ab und setzte sich. Sie tranken Champagner. Jeder für sich. Unser Hund schnüffelte am Boden herum und legte sich zu Füßen meines Bruders."

Alle stellen sich in der Folge ein, die wohl (auch) wichtig waren für Joachim Meyerhoff. So kommen noch Wencke und der Glöckner und die Frage: "Waren wir vollzählig? Nein noch nicht" drängt sich die Antwort auf. Joachim Meyerhoff lässt nun jemanden auf die Bühne gelangen, der vermutlich vielen, vielen seiner Leser:innen ein unverhofftes, vollkommen unerwartetes, überraschendes, ja gewiss in manchen Fällen schockartiges bis traumatisches Deja vu bereitet:

"Nein noch nicht. Ich dachte an das unsichtbare Kind. Wie etwas heraufbeschwören, dem kein Gesicht gewährt wurde? Dieses Kind war sogar zum Verdrängen zu winzig gewesen und spurlos verschwunden. Tatsächlich: Ohne eine Spur zu hinterlassen, war es nach nur wenigen unsichtbaren Wochen sang- und klanglos wieder zu nichts zerstäubt worden. Mehr als einen grauen in sich zusammengekrümmten Klumpen, der auf dem Boden lag, brachte meine Imaginationskraft nicht zustande. Die maximale Lebensspanne der Großeltern und die minimale des Kindes erstaunten mich. Weniger und mehr gingen nicht. Da saßen sie alle versammelt. Meine Toten."

Wie wird man die denn wieder los? Meyerhoff erzählt, er sei ja durchaus daran gewöhnt, seine Verstorbenen heraufzubeschwören und mit ihnen Zeit zu verbringen:

"Aber alle auf einmal und dazu noch in Farbe? Diese Séance musste dringend beendet werden. Vielleicht war es genau das, was sie von mir wollten? Waren sie meiner Zuwendung müde? War das der tiefere Grund ihres Herkommens? Wollten sie endlich in Frieden gelassen werden von mir und sich ausruhen?

Lest selbst: Joachim Meyerhoff trommelt und schnippt sie weg - er entlässt sie in einem Trommelwirbel, streckt seine beiden Zeigefinger in die Luft und ruft: "Alle Toten fliegen hoch." Es sind unterdessen sechs Bände erschienen, die er allesamt mit dem Untertitel versehen hat: "Alle Toten fliegen hoch." Ich bin schon der Überzeugung, dass Joachim Meyerhoff - jedenfalls mir - eine Anregung gibt, dem Umgang mit unseren Toten vielleicht nicht nur eine schlierenhafte, eigenmächtige traumgeschuldete Dimension zuzugestehen, sondern durchaus eine sehr bewusste, explizit wertschätzende - vielleicht gar eine so grundierte, dass wir nie vergessen, dass wir ohne unsere Toten - zumal wenn es um Vater und Mutter, wenn es um Großväter und Großmütter geht - nicht annähernd die wären, die wir sind!

Selten hat sich jemand so radikal und schonungslos ausgesetzt, wie Joachim Meyerhoff in seinen Büchern. Ohne dabei auch nur in Ansätzen scham-, würde- oder respektlos zu erscheinen, dekonstruiert Meyerhoff - ähnlich wie Heinrich der Böll -, das, was wir Familie nennen. Er gibt auf seine Weise eine Antwort auf die Frage: Was ist eine Familie und was macht sie besonders? Und all das, um am Ende - wie Monika Betzler und Jörg Löschke - auf seine Weise zu sagen:

"Familie ist ein sozialer Verband, der denjenigen, die Mitglied dieses Verbands sind, aus ihrer erstpersonalen Perspektive praktische Gründe (oder Pflichten) gibt, sich um die Familie und ihre Mitglieder um ihrer selbst willen zu sorgen und mehr zu tun als für Fremde oder Mitglieder anderer Gruppen.“

Joachim Meyerhoffs (Jg. 1967) Resümee in: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war (auch bei Kiepenheuer & Witsch - 41. Auflage 2020) gibt dieser These jedenfalls eine Menge Nahrung:

"Es kommt mir mehr und mehr so vor, als wäre die Vergangenheit ein noch viel ungesicherterer, weniger verbürgter Ort als die Zukunft. Das, was hinter mir liegt, soll das Gesicherte sein, das Abgeschlossene, das Gewesene, das nur darauf wartet, erzählt zu werden, und das vor mir soll die sogenannte zu gestaltende Zukunft sein?
Was, wenn ich auch meine Vergangenheit gestalten muss? Was, wenn nur aus einer durchdrungenen, gestalteten Vergangenheit so etwas wie eine offene Zukunft entstehen kann? Es ist ein bedrückender Gedanke, aber hin und wieder kommt mir das Leben, das noch vor mir liegt, wie eine für mich maßgeschneiderte, unumgänglich zu absolvierende Wegstrecke vor, eine Linie, auf der ich vorsichtig bis zum Ende balancieren werde. 
Ja, daran glaube ich: Erst wenn ich es geschafft haben werde, all diese abgelegten Erinnerungspäckchen wieder aufzuschnüren und auszupacken, erst wenn ich mich traue, die scheinbare Verlässlichkeit der Vergangenheit aufzugeben, sie als Chaos anzunehmen, sie als Chaos zu gestalten, sie auszuschmücken, sie zu feiern, erst wenn alle meine Toten wieder lebendig werden, vertraut, aber eben auch viel fremder, eigenständiger, als ich mir das jemals eingestanden habe, erst dann werde ich Entscheidungen treffen können, wird die Zukunft ihr ewiges Versprechen einlösen und ungewiss sein, wird sich die Linie zu einer Fläche weiten
."

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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