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Maximilian Probst: Verbindlichkeit -
Plädoyer für eine unzeitgemäße Tugend (Teil I)
Maximilian Probst: (Verbindlichkeit, Hamburg 2017) hat mir vermittelt, dass ich in meiner Mittelmäßigkeit und Langweiligkeit möglicherweise zum Prototypen des Verbindlichkeit verkörpernden Menschen geworden bin. Seine zentrale Frage – konfrontiert mit postmoderner Beliebigkeit – lautet: Worauf kann ich mich verlassen? Verbindlichkeit – Verlässlichkeit als Ankerbegriffe in der Spätmoderne?
Ich versuche es selbst zunächst einmal mit Sprachspielen, da mir beispielsweise mit Arnold Retzer die anspruchsvolle Vorstellung dessen geläufig ist, was unter dem Begriff der Freundschaft verhandelt wird. Freundschaft wiederum – wer würde das bezweifeln – geht nicht in Freundlichkeit auf. Vielmehr schwingen in ihr Vorstellungen von Treue – auch Verbindlichkeit – mit, wie sie nur dem ehelichen Treugelöbnis vergleichbar sind. Nimmt man aber Freundlichkeit, dann gelangt man zu einer Haltung, die durchaus mit Unverbindlichkeit einhergehen kann: Sei freundlich, dann ist man freundlich zu dir! Während Freundlichkeit ein Oberflächenphänomen im Blick hat, geht es bei Freundschaft um alles. Hingegen erwächst – nimmt man Verbindlichkeit näher in den Blick - nicht wie aus der Sprachwurzel des Freundens (Retzer), die zu Freundschaft und Freundlichkeit gleichermaßen hinführen mag, eine ähnliche Differenzierung, die man mit Verbindlichkeit einerseits und "Verbundschaft" andererseits vornehmen könnte. Es gibt kein entsprechendes Substantiv auf Augenhöhe mit der Tiefendimension der Freundschaft. Aber Verbindung, Verbundenheit lassen sich ableiten. Um Verbindlichkeit den Rang einer sinn- und orientierungsstiftenden Idee oder Tugend zuzubilligen, greift Maximilian Probst zu folgender Definition. Er beschreibt Verbindlichkeit als ein Verhalten,
„bei dem sich jemand einer Absichtserklärung unterwirft und sich verpflichtet fühlt, diese, so gut es geht, umzusetzen. Die Verbindlichkeit knüpft ein Band zwischen zwei Menschen, oder auch, wenn mehrere derselben Absicht folgen, einen Bund (Seite 24).“
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Erich Kästner in memoriam - Spielerei mit Worten
Die Großeltern haben Besuch (Erich Kästner)
Für seine Kinder hat man keine Zeit.
(Man darf erst sitzen, wenn man nicht mehr gehen kann.)
Erst bei den Enkeln ist man dann soweit,
dass man die Kinder ungefähr verstehen kann.
Spielt hübsch mit Sand und backt euch Sandgebäck!
Ihr seid so fern und trotzdem in der Nähe,
als ob man über einen Abgrund weg
in einen fremden bunten Garten sähe.
Spielt brav mit Sand und baut euch Illusionen!
Ihr und wir Alten wissen ja Bescheid:
Man darf sie bauen, aber nicht drin wohnen.
Ach, bleibt so klug, wenn ihr erwachsen seid.
Wir möchten euch auch später noch beschützen.
Denn da ist vieles, was euch dann bedroht.
Doch unser Wunsch wird uns und euch nichts nützen.
Wenn ihr erwachsen seid, dann sind wir tot.
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Familie-soziologisch-therapeutisch-alltäglich
In die neue Rubrik des ZEIT-Magazins Was ich gern früher gewusst hätte schau ich sporadisch hinein. Ian Mc Ewan hat mich beeindruckt, aber vermutlich nur, weil ich ähnlich denke und fühle wie er. Im aktuellen ZEIT-Magazin hat Marina Abramovic Gelegenheit uns ihre Erkenntnisse mitzuteilen. Die ersten beiden Auslassungen lauten:
"Du kannst die Familie, in die du heineingeboren wurdest, hinter dir lassen" bzw.
"Die wahre Familie ist die, die du dir selbst schaffst".
Es stehen auf dieser Seite einige durchaus bedenkenswerte Anregungen. Und man mag mit der 1946 geborenen, weltweit aktiven und aufgrund ihrer aufsehenerregenden Performances beachteten Künstlerin Nachsicht üben, ihr meinetwegen eine gewisse Altersblindheit zugestehen. Und es kommt eben nicht von ungefähr, dass Marina Abramovic wenige Zeilen später meint:
"Physische Schmerzen zu ertragen und sie zu überwinden ist verhältnismäßig leicht, psychische Schmerzen sind eine weitaus größere Herausforderung."
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Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte (Jorge Luis Borges)
Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte,
im nächsten Leben würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen.
Ich würde nicht so perfekt sein wollen,
ich würde mich mehr entspannen,
ich wäre ein bisschen verrückter, als ich es gewesen bin.,
ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen,
ich würde nicht so gesund leben,
ich würde mehr riskieren,
würde mehr reisen,
Sonnenuntergänge betrachten,
mehr bergsteigen,
mehr in Flüssen schwimmen.
Ich war einer dieser klugen Menschen,
die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten;
freilich hatte ich auch Momente der Freude,
aber wenn ich noch einmal anfangen könnte,
würde ich versuchen, nur mehr gute Augenblicke zu haben.
Falls du es noch nicht weißt,
aus diesen besteht nämlich das Leben.
Nur aus Augenblicken;
vergiss nicht den jetzigen.
Wenn ich noch einmal leben könnte,
würde ich von Frühlingsbeginn an barfuß gehen.
Und ich würde mehr mit Kindern spielen,
wenn ich das Leben noch vor mir hätte.
Aber sehen Sie… ich bin 85 Jahre alt und weiß,
dass ich bald sterben werde.
Eine Wiederentdeckung – entnommen: Diana Drexler, Gelassen im Stress – Bausteine für ein achtsames Leben, Klett-Cotta – Stuttgart 2006, Seite 158 (Das Buch von Diana Drexler werde ich an gesonderter Stelle vorstellen).
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Paulina Czienskowski - Das ist mutig
Ich bin ein langsamer Wegwerfer. Deshalb umgibt mich auch immer die bedrohliche Aura des Zeitungsmessis. Im Zeitungsmüll entdecke ich Entdecken vom 23. Februar ZEIT (9/23) - schon wieder Zeitungsgalaxien entfernt.
Paulina Czieskowski – das ist mutig, denke ich, sehr mutig. Eine langer Titel: 52% aller Mütter haben laut einer Umfrage das Gefühl, im ersten Jahr mit ihrem Baby zu versagen. Hier erzählt eine, was das bedeutet. Schon der erste Satz enthüllt den ganzen Irrsinn eines selbstbildbezogenen Wahnsinns in der Postmoderne, wenn die Mutter schreibt:
„Jetzt schreibe ich darüber ein Baby zu haben, weil ich ein Baby habe. Manche werden sagen, ich hätte nichts anderes zu erzählen.“
Mir fällt dazu nur ein: Jede Mutter, jeder Vater, jede Großmutter, jeder Großvater sollte darüber schreiben, was es bedeutet, Mutter, Vater, Großmutter, Großvater zu werden, zu sein. Allein schon, um sich und anderen Rechenschaft zu geben darüber, was im Leben zählt. In einem Leben, das im Übrigen zu kostbar, zu aufwendig, zu lebenszehrend ist, um es auf Schlachtfeldern zur Schlachtbank zu führen. Die Unfassbarkeit, der Wahnsinn, der in Akten beruht, das zu zerstören, was Paulina Czienskowski – ohne dass ich ihr diese Absicht hier explizit unterstelle – stellvertretend für alle Mütter (und für so manchen Vater) in die Welt schreit. Dabei schreit sie doch nur ihre Versagensängste in die Welt! Aber dieser Schrei springt uns alle an, weil er offenbart, was es wohl (heute) bedeutet, Kinder in diese Welt zu befördern.