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Peter Härtling: O’BÄR AN ENKEL SAMUEL III
Eine Erzählung mit fünf Briefen (P.H. im Interview) (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008)
Der zweite Brief (hier geht's zum zweiten Brief)
„Liebster Samuel, mein Kleiner Herr,
Deine Mama hat Euren Besuch angesagt. Zwei Wochen werdet Ihr zu Gast sein. Dein Papa, der dienstlich nach Indien Reisen muss, kommt Euch nach den Feiertagen holen. Unser Garten bereitet sich aufs Fest mit gelben Osterglocken und einem frischen Erbsengrün vor. Bloß das Wetter passt nicht. Gestern schneite es, und ich fürchtete, dem Osterhasen würde der Pommelschwanz als Frostbeule abfallen. Wenn es schneit oder hagelt, können wir uns neuerdings zurückziehen, denn uns steht ein Dach zur Verfügung, ein richtiges Häuschen, eine Hütte, die zwar noch aufgebaut werden muss. Von O’Bär! Er hat sich vorgenommen, Zimmermann und Baumeister zu werden. Oder Dachdecker und Zementgießer. Denkt sich alle die zusammen, bekommt er das große Fracksausen. Weißt Du, was das ist? Es ist die Angst, die man nur heimlich hat, die man nicht zeigt. Vielleicht heißt die so, weil Dirigenten, die laute Musik mit vielen Musikern machen, eine lange schwarze Jacke tragen, den Frack, und vor jedem Konzert saust ihnen die Angst in den Frack, ohne dass es das Publikum merkt.
Auch Dir soll meine Angst nicht auffallen. Ich will nicht, dass Du sie mit mir teilst. Obwohl ich weiß, dass Kinder- und Greisenangst einander gleich sind. Kinder wie Alte sind nämlich nicht imstande, sich ihre Angst zu erklären. Sie überfällt sie unmittelbar und ohne Voraussetzung.
Manchmal, tagsüber, höre ich Deine helle durchdringende Stimme durchs Haus wandern, Du hast sie mir hinterlassen und redest und redest. Ich höre Dir nicht zu, verstehe Dich nicht, weiß aber, mein Kleiner Herr begleitet mich.
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Peter Härtling: O’BÄR AN ENKEL SAMUEL II
Eine Erzählung mit fünf Briefen (P.H. im Interview) (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008)
Der zweite Brief (hier geht's zum ersten Brief)
O’Bär und den Kleinen Herrn trennen einige hundert Kilometer voneinander. O’Bär – so mitten in den Siebzigern – ist nicht mehr ganz fit. Im ersten Brief konnten wir davon eine Ahnung bekommen. Briefe sind eine Möglichkeit schriftlich nachvollziehbaren Kontakt zu halten – im Übrigen nicht nur über erhebliche räumliche Distanz, sondern auch die Zeiten überdauernd. Wie O’Bär bereits im ersten Brief andeutet, manche Botschaft wird der Kleine Herr erst später verstehen. Und dennoch mischen sich in den Briefen des alten, dicken Opas Episodisches mit Grundsätzlichem, wie der zweite Brief dann auch zu erkennen gibt (Hervorhebungen, FJWR):
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Peter Härtling: O’BÄR AN ENKEL SAMUEL I
Eine Erzählung mit fünf Briefen (P.H. im Interview) (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008)
Der erste Brief
Peter Härtling ist ja meinerseits eine späte Entdeckung. Der 1933 geborene Jungvolk- und HJ-Angehörige hat uns Nachgeborenen mit seiner Nachgetragenen Liebe ein Lehrstück geliefert darüber, wie total und radikal sich die Eingriffe eines Terrorregimes in die Biografien Heranwachsender (qua Sozialisation und Manipulation) auswachsen können. Er zeigt uns dann aber auch gleichermaßen, dass selbst ein hirn- und seelenverbrannter 13jähriger einen Weg findet – hinein in die Welt der Bundesrepublik, um dort Wegbereiter und Schrittmacher einer Demokratiekultur zu werden, und der im Verein mit anderen (dann irgendwann) alten weißen geistes- und seelenverwandten Männern und Frauen Bastionen baut gegen einen erneut Raum greifenden Rechtsextremismus. Bei alledem zeigt uns Peter Härtling seine Grenzen, seine Zerrissenheit beispielsweise in: Brief an meine Kinder (Stuttgart 1986).
Heute möchte ich an Peter Härtling erinnern mit meiner späten Entdeckung: O’BÄR AN ENKEL SAMUEL – nicht zuletzt weil ich seit geraumer Zeit selbst Opa-Bär bin aus der Perspektive meiner bislang zwei EnkelInnen, Leo und Jule und am 5. Januar 2024 ist Anouk hinzugekommen! Für sie schreibe ich – seit sie sich ankündigten – Kladden mit Einträgen, Erzählungen, Erinnerungen und Briefen, die sie irgendwann vielleicht einmal interessiert zur Kenntnis nehmen. Es könnte ein Schatz sein. Peter Härtling – ein Schriftsteller von Rang – hält auf jeden Fall sprachlich eine Menge Anregungen bereit. Deshalb hier der erste Brief an Samuel, den kleinen Herrn (Seite 21-23):
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Wenn Du noch eine Mutter hast II
Ein Nachtrag
Von Putzerfischen und Schmeißfliegen "Viele Frauen sind zu leicht zu beeindrucken. Sie umschwirren die Männer wie Putzerfische den Hai" von Sabine Rückert (ZEIT 6/2016, Seite 50)
In ihrem Beitrag aus 2016 liest Sabine Rückert ihren Geschlechtsgenossinnen die Leviten. Ich greife von ihren zehn Punkten heute – am Muttertag – noch einmal den achten heraus. Selten habe ich das Bekenntnis zu einer (späten) Mutterschaft mit so viel Selbstironie und entwaffnender Ehrlichkeit wahrgenommen. Auch wenn Männer in ihrer nach wie vor ungebrochenen Hybris – nehmen wir Robert de Niro mit seinen fast 80 Lebensjahren zum Beispiel – in beträchtlicher Anzahl dafür sorgen, ihren verspäteten Kindern schon früh eine väterlich begründete und damit in allernächster Zukunft bereits verbürgte Halbwaisenschaft ins Stammbuch zu schreiben, halte ich es – auch als Mann – mit Sabine Rückert. Sie schreibt unter Punkt acht ihrer Abrechnung:
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Wenn Du noch eine Mutter hast I*
Es ist - mal wieder - Muttertag
Was ist eine Mutter? Eine einfache, große Frage zum Muttertag an eine EU-Kommissionspräsidentin, eine Hirnforscherin, eine Soldatin und andere „entbindende Personen“ VON TINA HILDEBRANDT UND ELISABETH RAETHER – in der ZEIT 20/23, Seite 6
Viele, die meine Blog-Beiträge lesen, kennen mich irgendwie von irgendwann und irgendwo. Ich bin 71 Jahre alt, männlich, habe nicht entbunden, habe aber viel geschrieben, vor allem inspiriert von Karl Otto Hondrich über Bindung, Geborgenheit und Entschiedenheit – zuletzt auch angeregt von Maximilian Probst über Verbindlichkeit. Ich habe auch schon die steile These vertreten, dass wir unser soziales Zusammenleben und die Art und Weise, wie wir Konflikte lösen, auf andere Weise gestalten würden, wenn Männer die Entbindenden wären. Andererseits spricht aber letztlich wenig für diese Annahme, da eine soziale Missgeburt wie Adolf Hitler vor allem unter Frauen den stärksten Rückhalt fand. Gleichwohl hätten bei militärischen Auseinandersetzungen die Kinder von Mördern – wie beispielsweise Wladimir Putin (samt seiner Führungsclique) an vorderster Front zu stehen. Eine Sensibilität oder schlichte Vorstellung davon, was es bedeutet, Raketen auf wehrlose Männer, Frauen, Kinder, alte Menschen, beeinträchtigte Menschen – im Übrigen auch entbindende Personen – abzufeuern, ist bei sozial debilen Menschen, wenn überhaupt, nur durch unmittelbare eigene Betroffenheit zu erzeugen. Es fällt mir schwer, solche Sätze zu schreiben und den dahinter stehenden Sinn als Option in Erwägung zu ziehen. Dies scheint mir auch ein Reflex auf die Enttäuschung zu sein, dass - anders als infolge der sowjetischen Intervention in Afghanistan - die Mütter ganz offenkundig im Zuge der russischen Aggression gegen die Ukraine keine Rolle zu spielen scheinen.