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Von einem närrischen Unternehmen

Auch für meinen Neffen, dessen Geburtstag unmittelbar vor uns liegt

Seit etwa zwei Monaten widme ich mich einer diskreten, kaum bemerkten Art, mich mit dem Vergehen der Zeit auseinanderzusetzen. Wir begreifen und erleben uns in einer streng habitualisierten Form des Zeitgeschehens: hinter uns Weihnachten, der Jahreswechsel, der dritte Geburtstag meiner ältesten und der Geburtstag meiner jüngsten Enkelin, vor uns der 62ste Geburtstag meines Neffen, mein eigener Geburtstag und der meiner Cousine (in Reich- und Sichtweite), der fünfte Geburtstag meines Enkels und die erneute Furcht vor einem Heißjahr – möglicherweise heißer als der vergangene Rekordjahr.

Nun stört mich der jung aus dem Leben geschiedene Jean Amery (1912-1978) auf, indem er sich auf den – Amery schreibt im Sommer 1968 (ja er markiert und schreibt sein Schreiben in die uns gewohnte Chronifizierung ein) – „in diesen Tagen (1968) schon uralten, vogelköpfigen Engländer“ bezieht und ein von ihm „aufgegebens, erheiterndes Paradoxon“ erneut in den Raum stellt (gemeint ist Bertrand Russell <1872-1970>):

„Existiert die Vergangenheit? Nein, denn sie ist schon dahin. Existiert die Zukunft? Nein, denn sie ist ja noch nicht da. Gibt es also nur die Gegenwart? Gewiß. Aber ist es denn nicht so, daß diese Gegenwart gar keinen Zeitraum enthält? Es ist so. Nun, so gibt es denn die Zeit wohl überhaupt nicht. Richtig: es gibt sie nicht. Man kann das Paradoxon Russells auflösen. Manche Fragen nach der Zeit lassen sich beantworten, hinlänglich scharfe und durchtrainierte Köpfe haben sich ja daran versucht. Aber was sie herausbekamen, geht uns wenig an.
Im Nachdenken über die Zeit, wenn wir nicht sprechen von der Zeit der Physiker, mit der es andere Bewandtnis hat, sondern von unserer Zeit, die immer nur unsere ist, der gelebten Zeit, der >temps vécu< - in solchem Nachdenken schreiten wir aus zwischen zwei Gefahrenzonen, die beide gleichermaßen tödlich sind. Auf der einen Seite sind wir bedroht vom dumpfen Sinnieren und dilettantischen Grübeln. Auf der anderen haben wir die gelehrt klingenden, aber nicht durch den mindesten Erkenntniswert sich ausweisenden Kunstsprachen der Fachphilosophen. Und doch müßten wir vorzudringen versuchen, denn es ist die Zeit, die gelebte, oder wenn man will, die subjektive, unser allerdringlichstes Problem. Problem? Noch so ein Wort aus der Zeitung, ungut riechend nach Druckerschwärze! Die Zeit ist unser Erzfeind und unser innigster Freund, unser einziger totaler Alleinbesitz und das, was wir niemals zu fassen bekommen, unsere Pein und unsere Hoffnung. Es ist schwer von ihr zu sprechen. Vom Zauberberg herunter hören wir: Kann man die Zeit erzählen, diese selbst, als solche, an und für sich? Wahrhaftig nein, das wäre ein närrisches Unternehmen. Eine Erzählung, die ginge: die Zeit verfloß, sie verrann, es strömte die Zeit, und immer so fort – das könnte gesunden Sinnes wohl niemand eine Erzählung nennen. Es wäre nicht nur, wie der Zauberer gemeint hat, keine Erzählung, sondern hätte auch mit der Zeit nicht mehr zu tun, als daß eben Zeit, wenn auch ganz kurze, darüber hinausginge. Verfließen, verrinnen, strömen, dergleichen tut die Zeit nicht, dergleichen ereignet sich im Raum, sichtbar oder zumindest durch Ableitungen erfahrbar. Wenn wir von der Zeit reden, gebrauchen wir Gleichnisse aus der Welt des Raumes, >spatiomorphe Metaphern<, wie man sagen könnte, wollte man sich gelehrtes Ansehen geben. Die Zeit ist kaum erzählbar. Kaum, sagen wir, nicht: unerzählbar, denn sonst müßten wir uns ja Schweigen auferlegen, statt im Raum zwischen den beiden Gefahrenzonen doch schließlich etwas zu sagen, wie wir zu tun uns bemühen. Die Gleichnisrede mag brauchbar sein, wenn sie sich ihrer Gleichnishaftigkeit nur ständig bewußt ist. Und Überlegungen, auch ohne Erkenntniswert, dürfen wir anstellen, wenn uns vielleicht ein Beschreibung gelingt, in der andere sich wiederfinden.“ (Jean Améry: Über das Altern Revolte und Resignation, Klett-Cotta, Stuttgart 1968, Seite 16f.)

Jean Améry gehört ganz sicher zu den scharfen und durchtrainierten Köpfen. Aber er bedient sich, um das Problem der Zeit zu begreifen einer unterkomplexen, eindimensionalen Begriffswahl: er spricht von gelebter Zeit. Wir sind im Rückgriff auf Niklas Luhmann und die von ihm begründete Begriffswelt ein wenig weiter, ohne auch nur den Eindruck erwecken zu wollen, es deuteten sich Lösungen für das von Améry benannte Problem an. Aber immerhin verhilft uns die Unterscheidung von gelebtem, erlebtem und erzähltem Leben zumindest die subjektive Dimension noch einmal stärker einzuhausen. In den bewusstseinsfrei operierenden sozialen Systemen (Familien, Gesellschaften z.B.) bleibt der Mensch – so er es denn will (und auch in der digitalen Flutung von Kommunikation Vorsicht walten lässt) geschützt. Hinter seiner Schädelkalotte bleiben die Gedanken (das erlebte Leben) frei (ja, immer noch frei – wenn Ihr wüsstet, was ich über Putin denke – pardon, das könnt Ihr ja nachlesen! Aber wenn Ihr wüsstet, was ich über manchen von Euch denke…).

Im gelebten Leben (Bios) und dem, was es an Empfindungen und Lust und Schmerz und und und… in uns auslöst, findet all das ein Pendant, worüber Jean Améry zu schreiben vorgibt:

„Es wird gehandelt vom alternden Menschen in seinem Verhältnis zur Zeit, zum eigenen Körper, zur Gesellschaft, zur Zivilisation, schließlich zum Tode […] Eine solche Bemühung um die annähernd getreue Aufzeichnung der Verläufe, in die der alternde Mensch verstrickt ist, war wesentlich mittels der Methode der Introspektion zu bewerkstelligen; dazu kam noch das Trachten nach Beobachtung und Einfühlung. Jede Hoffnung aber auf Wissenschaftlichkeit, ja sogar auf logische Stringenz mußte aufgegeben werden.“ (ebd. Seite 9)

Und damit gehört Jean Améry – ob er es will oder nicht – zu den großen Erzählern. Auf der Ebene des erzählten Lebens begegnen wir uns, und ich kann mir noch heute – 2024 – Gedanken darüber machen, was Jean Améry 1968 zu Papier gebracht hat. Ich kann die narrative Atrophie – wie Odo Marquard bemerkt – durchbrechen, indem ich dann meinen eigenen Gedanken Raum gebe im Rauschen des www.

Und eine Nummer kleiner: Mikroskopisch klein geraten dann meine Gerinnungshemmer und Abwehrschlachten gegenüber dem, was Marquard narrative Atrophie nennt: Ich suche aus einem schier unendlichen Fundus von Fotoleichen jene aus, die Erzählimpulse in mir wachrufen. Ich nehme Fotos in die Hand – manchmal die Lupe in der anderen – und klebe (ja, Ihr lest richtig: klebe) sie in ein Fotoalbum, nehme einen Stift und erzähle im Aufschreiben, was mir einfällt – mit Beobachtungsgabe und Einfühlung. Mit der Einfühlung mag es zuweilen nicht so weit her sein. Es ist schon eine unmäßige Deutungssucht und gewissermaßen auch –hoheit in mir. Denn was geklebt ist, ist geklebt; und was aufgeschrieben ist, ist aufgeschrieben. Für wen? Für die Nachwelt! Hoho, nein ich überhebe mich nicht. Ich meine ja nur meine kleine Nachwelt. Meine Vorwelt, alle meine Vorfahren haben zwar erzählt, aber außer ihren Erzählungen nichts hinterlassen, nichts Schriftliches! Manche weigern sich geradezu auch nur ein Wort zu Papier zu bringen – stellt man sich doch damit (nolens volens) bloß und greift in die Deutungshoheit anderer ein. Denn wer waren denn Mama, Papa, Opa und Oma und all die anderen bedeutsamen Anderen? Wer sind sie heute? Nur diejenigen, die wir erinnern, denen wir Seele einhauchen, deren Bedeutung wir für uns und von uns heute (und in alle Zukunft) andeuten und aussprechen – so lange wir leben! So rudere ich immer auch zurück und betone: Meine Erinnerungen, meine Sichtweisen, meine Worte (in Gedichten, in Erzählungen und Fotocollagen).

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, ruft mir Hermann Hesse zu – und: wer bereit zum Aufbruch ist und (innerer) Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen. Wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde!

Eine Fundstelle - im Internet unter dem Namen Rudolf Suesske nachzulesen. Er hat lange Jahre als Psychotherapeut am Christlichen Krankenhaus Quakenbrück e.V. gearbeitet (Balint-Gruppen mit Pflegepersonen): "Entgegen der vorherrschenden Verwendung substantivierender, »spatiomorpher Metaphern« in der Beschreibung psychotherapeutischer Gespräche, versucht der Autor, den Blick auf die Intentionalitätsmodi der Erfahrung zu lenken. Wahrnehmen, Vergegenwärtigen, Erinnern und Phantasieren sind weniger Vorgänge »im« psychischen Apparat, sondern Vollzugsformen des Selbst-und Weltbezuges (wie sehen wir uns selbst, die Welt und uns in der Welt, Anm.: FJWR). Speziell geht es aber um die unbewusste Verkennung von Erinnerung und Phantasie, von Wirklichkeit und Möglichkeit, die bei bestimmten Patienten dazu führt, im Vergangenen noch die Erfüllung einer möglichen Zukunft zu intendieren. Diese Menschen leiden an der Unabänderlichkeit der »verlorenen Kindheit«, dem Vergangenheitscharakter damals Zukünftigen, was ihnen gegenwärtige Zukunft verschließt."

Das zentrale Motto des Beitrags: Überlegungen, auch ohne Erkenntniswert, dürfen wir anstellen, wenn uns vielleicht ein Beschreibung gelingt, in der andere sich wiederfinden.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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