<<Zurück

 
 
 
 

Peter Sloterdijk - Ekel als politische Evaluationskategorie?

Kleine Kostprobe vorweg - Peter Sloterdijk am 5. April 2015: "Im Ernst gefragt: Wer würde heute gern ein Teil Rußlands werden? Worin besteht der kulturelle Charme des dubiosen Landes? Was könnte Nicht-Russen zu einem russischen modus vivendi hinziehen? Die Antwort ist eindeutig: Rußland ist als Magnetpol für kleinere despotische Systeme und Länder auf autokratischen Abwegen attraktiv – fast alles übrige an seiner Erscheinung erregt Abwehr und zivilisatorischen Ekel. Der ideologiebasierte Komplottstaat >Sowjetunion< hat sich nach einer labilen Übergangsphase in den postsowjetischen Komplottstaat Russische Föderation verlängert. Als einzigen Attraktor hat sie Bündnisangebote für Staatsfiktionen mit analogen Komplottregierungen zu bieten. Wer wissen will, was Rußland ist und will, braucht nur die Nachrichten über die Bombardierung von Kliniken in Syrien durch die russische Luftwaffe zu konsultieren. Die Führung Rußlands hat nie aufgehört, sich als in einem Krieg befindlich zu denken – vor allem im Krieg mit der USA-geführten Nato, was zur Konsequenz hat, das zivilethische Kriterien außer Kraft gesetzt bleiben. Wer immer Krieg führt, kommt aus der moralischen Enthemmung nie heraus.“

Jean Améry: Über das Altern Revolte und Resignation

und das lebensbegleitende Damoklesschwert des mors certa - hora incerta, ergänzt durch aktuelle literarische Befassungen

Im Vorwort zur vierten Auflage seines Versuchs Über das Altern – Revolte und Resignation (Klett-Cotta, Stuttgart, erstmals 1968) wendet sich Jean Améry gegen die Kritik eines bei der Erstauflage schon recht betagten Herrn, der ihm ungefähr dies vorhielt: „Was könne denn, so meinte er, dieser >junge< Mensch von 55 Jahren, J.A., vom Altern und dem Alter verstehen? Was nehme er sich da heraus?“

Jean Améry meint 10 Jahre später – beim Wiederlesen des Textes, dass er dem frohgemuten Greis zu seinem eigenen tiefen Leidwesen unrecht geben müsse:

„Wenn ich etwas erfahren habe in den vergangenen zehn Jahren, dann führt es mich eher zur Akzentuierung des damals Gesagten als zur Einschränkung. Es war alles um eine Spur schlimmer als ich es voraussah: das physische Altern, das kulturelle, das täglich lastvoller verspürte Heranrücken des dunklen Gesellen, der an meiner Seite herläuft und mich dringlich anruft, wie den Valentin Reimunds mit dem unheimlich intimen Wort: Freunderl, komm ...“

Von einem närrischen Unternehmen

Auch für meinen Neffen, dessen Geburtstag unmittelbar vor uns liegt

Seit etwa zwei Monaten widme ich mich einer diskreten, kaum bemerkten Art, mich mit dem Vergehen der Zeit auseinanderzusetzen. Wir begreifen und erleben uns in einer streng habitualisierten Form des Zeitgeschehens: hinter uns Weihnachten, der Jahreswechsel, der dritte Geburtstag meiner ältesten und der Geburtstag meiner jüngsten Enkelin, vor uns der 62ste Geburtstag meines Neffen, mein eigener Geburtstag und der meiner Cousine (in Reich- und Sichtweite), der fünfte Geburtstag meines Enkels und die erneute Furcht vor einem Heißjahr – möglicherweise heißer als der vergangene Rekordjahr.

Nun stört mich der jung aus dem Leben geschiedene Jean Amery (1912-1978) auf, indem er sich auf den – Amery schreibt im Sommer 1968 (ja er markiert und schreibt sein Schreiben in die uns gewohnte Chronifizierung ein) – „in diesen Tagen (1968) schon uralten, vogelköpfigen Engländer“ bezieht und ein von ihm „aufgegebens, erheiterndes Paradoxon“ erneut in den Raum stellt (gemeint ist Bertrand Russell <1872-1970>):

Navid Kermani: Kapitel 17 - Die Geburt der Enkel

und ganz nebenbei: die Geburt der Großväter

Enkel scheinen eine Spezies aus eigenem Recht zu sein. So erfahre ich es in Navid Kermanis neuem Roman das alphabet bis S. Es ist Winter, Tag 17 in einem langen Jahr. Ich selbst stehe noch - mitten im Winter, der kein Winter ist - unter dem Eindruck der Dämmerung, in der der Erzähler (Michael Kleeberg) seinem Protagonisten Charly (Karlmann Renn) zuletzt attestiert, er sei halt "ein Produkt dieser Zeit gewesen, auf nie wirklich reflektierte, problematisierte Weise, sondern in existenzieller Harmonie mit ihr". Auf diese Weise gelingt ein Leben, dessen Widersprüche und Fragwürdigkeiten (bzw. deren Reflexion) dem Erzähler zur zeit- und individualgeschichtlichen Analyse vorbehalten sind. Navid Kermanis Protagonistin hingegen ist die Intellektuelle, die Zeitgeschichte und eigenes Scheitern minutiöser (Selbst-)Analyse unterzieht. Dabei werden mir Reflexionen geschenkt, die ich heute hier unter dem Titel Die Geburt der Enkel anmerke:

Michael Kleeberg - Dämmerung oder Sonnenfinsternis?

So wie am 21. Juni eines jeden Jahres Melancholia – aus einem gleichermaßen naheliegenden wie individuell nachvollziehbaren Grund – das Zepter übernahm, so durchströmte mich am 21. Dezember eines jeden Jahres ein verhaltenes, gleichwohl belebendes Aufatmen. Der längste Tag und die längste Nacht begründeten ein homöostatisches Schwebegefühl; die Illusion einer Balance verbunden mit der Suggestion, in den unvorhersehbaren Wellenbewegungen im Ozean des Lebens übers ganze Jahr gesehen, doch ein vermeintlich erträgliches Gleichgewicht aufrecht erhalten zu können.

Dies ist seit dem 21. Dezember 2023 anders – so grundlegend anders, dass ich nun in der Gewissheit leben muss, die Sonne niemals mehr in meinem Leben zu erblicken. Gleich einem neuen Himmelsgestirn verdeckt seither – ganz offenkundig in einer noch kaum fassbaren Endgültigkeit - Michael Kleebergs Dämmerung die Sonne. Nur noch das schwache Leuchten der Korona nährt die Illusion, man habe es vielleicht doch nur mit einem zeitweiligen Ereignis, wie bei einer totalen Sonnenfinsternis zu tun. Am 21. Dezember 2023 las ich Kleebergs Epilog, mit dem Charly endgültig in den Glutofen des Krematoriums geschoben wurde, den Michael Kleeberg auf den letzten der 477 Seiten zu seiner endgültigen Betriebstemperatur hochfährt.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.