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Jonathan Lear: Dankbar? Wofür?

Bei meiner nach 13 Jahren erneuten, kommentierten online-Präsentation von Hildes Geschichte ist Halbzeit - in Kapitel 15/16 erleben wir, wie das Leben von Hildes Tochter angestoßen wird. Da kommt mir - sozusagen als Reflexionsimpuls die - Anregung Jonathan Lears gerade recht. Denn es stellt sich natürlich die Frage, warum diese erneute Auseinandersetzung? Warum gerade jetzt? Nun: der Todestag meiner Mutter hat sich am 27. Juli zum 22sten Mal gejährt. Meine Schwester, Hildes Tochter, ist am 5. Juni 83 Jahre alt geworden, und sie hat sich in dieser Woche erfolgreich einem Eingriff am Herzen unterzogen - da darf man auch schon einmal nachdenklich werden und dankbar zurückschauen. Hinzu kommt die fulminante Auseinandersetzung Henning Sußebachs mit seiner Urgroßmutter, in der er den zentralen Begriff der Vorleistung einführt. Dies hat mich noch einmal zutiefst in der schon lange habitualisierten Haltung bestärkt, dass der Mensch ist, weil er sich verdankt. Und dazu hält in der Tat Jonathan Lear interessante Anregungen bereit:

Jonathan Lear, geboren 1948 in New York, hat über Aristoteles promoviert, ist heute Professor für Philosophie an der Universität Chicago und praktiziert als Psychoanalytiker. So stellt ihn die ZEIT 35/25 vor. Der Untertitel des Interviews, dass Elisabeth von Thadden mit ihm führt, lautet: Jonathan Lear ist Philosoph und Psychoanalytiker. Jetzt denkt der 76jährige über einerstaunliches Thema nach: DankbarkeitElisabeth von Thadden stellt zu Beginn die Frage, was denn für den Analytiker an Dankbarkeit interessant sei. Lear antwortet, dankbar zu sein, habe zentral mit der Natur des Menschen zu tun:

Danke für Hildes Geschichte (16)

Henning Sußebach hat mich auf die Idee gebracht, meinen Blog zu nutzen und Hildes Geschichte noch einmal Kapitel für Kapitel zu erzählen - ganz im Sinne seiner Überzeugungen, die er mit dem Aufschreiben der Geschichte seiner Urgroßmutter verbindet. Hilde, meine Mutter ist inzwischen auch Urgroßmutter, und ich stelle mir vor, dass sie ihre Hand nicht nur über mich hält, sondern über alle, die aus ihr hervorgegangen sind. Bert Hellinger macht uns noch einmal darauf aufmerksam, dass zu diesem Hervorbringen unter Umständen - und Hilde hat solche Umstände erlebt - auch die schlimmen Gesellen gehören. Aber werden wir beispielsweise dem Vater meiner Schwester tatsächlich gerecht, wenn wir ihn als schlimmen Gesellen sehen. Der Ausschluss, das beharrliche Weigern auch jenen Ahnen zu sehen und anzunehmen, dem meine Mutter, die Mutter meiner Schwester, die Großmutter meines Neffen, meiner Kinder und meiner Nichten und die Urgroßmutter aller Enkel:innen in Hingebung und Liebe begegnete, verhindert dort anzukommen, wo ich mich wähne - als jemand der irgendwann die Augen öffnet, sich noch einmal umblickt, aufsteht und geht - im Einklang mit sich selbst und seiner Geschichte.

Danke für Hildes Geschichte (15)

Henning Sußebach hat mich auf die Idee gebracht, meinen Blog zu nutzen und Hildes Geschichte noch einmal Kapitel für Kapitel zu erzählen - ganz im Sinne seiner Überzeugungen, die er mit dem Aufschreiben der Geschichte seiner Urgroßmutter verbindet. Hilde, meine Mutter ist inzwischen auch Urgroßmutter, und ich stelle mir vor, dass sie ihre Hand nicht nur über mich hält, sondern über alle, die aus ihr hervorgegangen sind. Bert Hellinger macht uns noch einmal darauf aufmerksam, dass zu diesem Hervorbringen unter Umständen - und Hilde hat solche Umstände erlebt - auch die schlimmen Gesellen gehören. Aber werden wir beispielsweise dem Vater meiner Schwester tatsächlich gerecht, wenn wir ihn als schlimmen Gesellen sehen. Der Ausschluss, das beharrliche Weigern auch jenen Ahnen zu sehen und anzunehmen, dem meine Mutter, die Mutter meiner Schwester, die Großmutter meines Neffen, meiner Kinder und meiner Nichten und die Urgroßmutter aller Enkel:innen in Hingebung und Liebe begegnete, verhindert dort anzukommen, wo ich mich wähne - als jemand der irgendwann die Augen öffnet, sich noch einmal umblickt, aufsteht und geht - im Einklang mit sich selbst und seiner Geschichte.

Die beiden Kapitel 15 und 16 bilden den essentiellen und den existenziellen Kern von Hildes Geschichte - allein, weil aus meiner bescheidenen Perspektive die ganze Erzählung ihren Sinn und ihre Berechtigung allein aus der Tatsache beziehen, dass am 9. September 1941 eine Leben angestoßen wurde, das sich in diesem Jahr 2025 zum 83sten Mal gejährt hat. Lange habe ich sinniert über Henning Sußebachs Formulierung, dass jemand für uns in Vorleistung gegangen ist. Selbst wenn sich Scham, Schuld, Lust, Begierde - meinetwegen Verantwortungslosigkeit - zusammentun in einem einvernehmlichen Akt, aus dem neues Leben entsteht, will ich genau dies - ex post factum - als Vorleistung begreifen. So unfassbar trivial prozessiert der Bios, beginnt Zellteilung, die wiederum zu einem vollkommen neuen Kosmos von Möglichkeiten führt, aus dem Kinder und Kindeskinder hervorgehen, und ein jedes muss für sich jene sinnkonstituierende Leistung vollbringen, die aus der trivialen und gleichermaßen so faszinierenden voranschreitenden Zellteilung schließlich ein ganzes Leben konstituiert und schöpft.

Und es ist an dieser Stelle - exakt mit Blick auf die Trivialität, mit der sich milliardenfach Leben auf den Weg (ge-) macht (hat), zu konstatieren, dass Franz schon zwei Jahre und zwei Wochen nach diesem Akt sein Leben verwirkt haben wird. Und ich habe immer dafür geworben, genauer hinzuschauen, was es für Hilde bedeutet haben mag, ihre Tochter auszutragen, zu gebären, zu hegen und zu pflegen, zu umsorgen und nach Bad Neuenahr zurückzukehren. Wir werden noch genügend Gelegenheit haben, dies genauer zu betrachten.

Danke für Hildes Geschichte (14)

Henning Sußebach hat mich auf die Idee gebracht, meinen Blog zu nutzen und Hildes Geschichte noch einmal Kapitel für Kapitel zu erzählen - ganz im Sinne seiner Überzeugungen, die er mit dem Aufschreiben der Geschichte seiner Urgroßmutter verbindet. Hilde, meine Mutter ist inzwischen auch Urgroßmutter, und ich stelle mir vor, dass sie ihre Hand nicht nur über mich hält, sondern über alle, die aus ihr hervorgegangen sind. Bert Hellinger macht uns noch einmal darauf aufmerksam, dass zu diesem Hervorbringen unter Umständen - und Hilde hat solche Umstände erlebt - auch die schlimmen Gesellen gehören. Aber werden wir beispielsweise dem Vater meiner Schwester tatsächlich gerecht, wenn wir ihn als schlimmen Gesellen sehen. Der Ausschluss, das beharrliche Weigern auch jenen Ahnen zu sehen und anzunehmen, dem meine Mutter, die Mutter meiner Schwester, die Großmutter meines Neffen, meiner Kinder und meiner Nichten und die Urgroßmutter aller Enkel:innen in Hingebung und Liebe begegnete, verhindert dort anzukommen, wo ich mich wähne - als jemand der irgendwann die Augen öffnet, sich noch einmal umblickt, aufsteht und geht - im Einklang mit sich selbst und seiner Geschichte.


In diesem Kapitel habe ich dem lieben Gott ins Handwerk gefuscht und lasse Theo, der 1952 mein Vater werden würde, auf die Bühne treten. Zugegebenermaßen völliger Quatsch. Es gefiel mir aber den galaktischen Wahnsinn, der hier in diesem Kapitel sein Vorspiel findet, noch aufzupeppen. Es war ja faktisch so, dass Hilde (mit ihrer Schwester Annemie) und Theo (mit seiner Schwester Agnes) als Nachbarskinder aufgewachsen sind. Auf dem ersten Foto sind die beiden Elternhäuser im Hintergrund (links das noch halbe Haus der Lahnsteins - die Kreuzstraße 111 und rechts das fast 12 Meter hohe Haus der Familie Witsch - die Kreuzstrße 113) zu erkennen (das Halbprofil - zweiter von rechts - exakt vor seinem Elternhaus zeigt Theo).

Als gesichert kann gelten, dass Franz seinerseits und Hilde ihrerseits mit gesonderten Zügen nach Remagen gefahren sind. Franz hatte dort vor Ort alles organisiert, ein Zimmer gemietet. Hilde ist ihm gefolgt, und bei werden sich um die Mittagszeit getroffen haben. Alles in allem wird hiermit ein Zeitrahmen aufgespannt, der - auf der Fahrt nach Remagen - beim Betreten des Bahnhofs - erst recht beim Verlassen des Bahnhofs - beim Überbrücken der Zeit des Wartens Hilde immer noch die Option offenließ, sich zu entziehen; also wieder zurückzufahren, Franz zumindest auszuweichen, angesichts des Wahnsinns zu kollabieren, in Schreikrämpfe zu verfallen, was auch immer.

Aber Hilde geht schnurstracks ihren Weg; in ihr obsiegen diffuse Zukunftsphantasien, Neugierde, Begierde. Sie befindet sich offenkundig in einem Ausnahmezustand, der alle roten Haltelinien und Stoppschilder zu ignorieren vermag. Wie dünn mag andererseits das Eis gewesen sein, auf dem Hilde geschlafwandelt ist. Mehrfach habe ich schon angedeutet, dass die Art Vorleistung, die Hilde hier zu verkörpern beginnt, letztlich zur Geburt ihrer Tochter, meiner Schwester führt. Und dies auf eine so simple und triviale Weise, dass sich eigentlich alle Mystifizierung verbietet - ist man gesund und engt die Biologie das Zeitfensterchen auf zielsichere Weise so ein, dass sich Empfängnisbereitschaft und Leidenschaft begegnen, dann braucht es eben nicht mehr als diesen einen - diesen einen einzigen - Beischlaf. Ich spreche hier schon bewusst von meiner Schwester, weil - so unwahrscheinlich ihre Zeugung auch erscheinen mag - die Tatsache, dass die beiden Nachbarskinder, Theo und Hilde, am 21. August 1948 heiraten und in der Folge eine Familie gründen würden, sich vollkommen aller Vorstellungskraft entzieht. So lande ich wieder bei dem verehrten Odo Marquard und bin geneigt seiner Grundannahme zu folgen, dass wir alle weit mehr unsere Zufälle als unsere Wahl sind.

Danke für Hildes Geschichte (13)

Henning Sußebach hat mich auf die Idee gebracht, meinen Blog zu nutzen und Hildes Geschichte noch einmal Kapitel für Kapitel zu erzählen - ganz im Sinne seiner Überzeugungen, die er mit dem Aufschreiben der Geschichte seiner Urgroßmutter verbindet. Hilde, meine Mutter ist inzwischen auch Urgroßmutter, und ich stelle mir vor, dass sie ihre Hand nicht nur über mich hält, sondern über alle, die aus ihr hervorgegangen sind. Bert Hellinger macht uns noch einmal darauf aufmerksam, dass zu diesem Hervorbringen unter Umständen - und Hilde hat solche Umstände erlebt - auch die schlimmen Gesellen gehören. Aber werden wir beispielsweise dem Vater meiner Schwester tatsächlich gerecht, wenn wir ihn als schlimmen Gesellen sehen. Der Ausschluss, das beharrliche Weigern auch jenen Ahnen zu sehen und anzunehmen, dem meine Mutter, die Mutter meiner Schwester, die Großmutter meines Neffen, meiner Kinder und meiner Nichten und die Urgroßmutter aller Enkel:innen in Hingebung und Liebe begegnete, verhindert dort anzukommen, wo ich mich wähne - als jemand der irgendwann die Augen öffnet, sich noch einmal umblickt, aufsteht und geht - im Einklang mit sich selbst und seiner Geschichte.

Gewaltig hallt der letzte Satz im nachstehenden Kapitel heute in mir wider: "Franz und Hilde sahen sich nicht mehr bis zum 9. September." Und mehr noch wird mir selbst heiß und kalt, wenn ich lese, was ich da 2012 aufgeschrieben habe:

"Aber aus dem, was zaghaft und unverhofft, ebenso unwahrscheinlich wie schicksalhaft am 15. August seinen Anfang genommen hatte, und was heute, am 3. September seinen vorläufigen Höhepunkt erfahren würde, aus alledem erwuchs Franz Streit eine Zwickmühle, deren Auswüchse ihn von dem Franz Streit meilenweit unterschieden, der im Wüten der ganzen Welt einfach spurlos verschwunden wäre. Und niemals hätte es jemanden gegeben, der so sehr seine Spuren verfolgt hätte, weil er in der Verkörperung seines Blutes diese Spur aufnehmen würde; die Spur, deren Herkunft und Wurzel für diese Nachgeborene für so viele Jahrzehnte unter dem Staub der Geschichte unwiederbringlich verloren schien. Von alledem wusste Hilde nichts. Der Blutzoll, den sie bezahlen sollte, war so ganz anderer Natur. Er sollte nicht in der Steppe Russlands versickern, sondern er sollte im Herzen eines zarten Mädchens und einer starken Frau weiterfließen, einer Frau, in der – wie in ihren Brüdern – jener Franz Streit weiterleben würde, der 1941 im September nur einen Weg fand aus der ihm gestellten Zwickmühle."

[Heute morgen - am 12. August 2025 - ist meiner Schwester in dieses Herz eine neue Herzklappe implantiert worden. Wir alle drücken ihr die Daumen und hoffen, dass der Blutfluss nun wieder einen ungehinderten Weg finden kann und dass Ullas Herz noch lange schlagen möge.]

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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