<<Zurück

 
 
 
 

Jean Améry: Über das Altern Revolte und Resignation

und das lebensbegleitende Damoklesschwert des mors certa - hora incerta, ergänzt durch aktuelle literarische Befassungen

Im Vorwort zur vierten Auflage seines Versuchs Über das Altern – Revolte und Resignation (Klett-Cotta, Stuttgart, erstmals 1968) wendet sich Jean Améry gegen die Kritik eines bei der Erstauflage schon recht betagten Herrn, der ihm ungefähr dies vorhielt: „Was könne denn, so meinte er, dieser >junge< Mensch von 55 Jahren, J.A., vom Altern und dem Alter verstehen? Was nehme er sich da heraus?“

Jean Améry meint 10 Jahre später – beim Wiederlesen des Textes, dass er dem frohgemuten Greis zu seinem eigenen tiefen Leidwesen unrecht geben müsse:

„Wenn ich etwas erfahren habe in den vergangenen zehn Jahren, dann führt es mich eher zur Akzentuierung des damals Gesagten als zur Einschränkung. Es war alles um eine Spur schlimmer als ich es voraussah: das physische Altern, das kulturelle, das täglich lastvoller verspürte Heranrücken des dunklen Gesellen, der an meiner Seite herläuft und mich dringlich anruft, wie den Valentin Reimunds mit dem unheimlich intimen Wort: Freunderl, komm ...“

Von einem närrischen Unternehmen

Auch für meinen Neffen, dessen Geburtstag unmittelbar vor uns liegt

Seit etwa zwei Monaten widme ich mich einer diskreten, kaum bemerkten Art, mich mit dem Vergehen der Zeit auseinanderzusetzen. Wir begreifen und erleben uns in einer streng habitualisierten Form des Zeitgeschehens: hinter uns Weihnachten, der Jahreswechsel, der dritte Geburtstag meiner ältesten und der Geburtstag meiner jüngsten Enkelin, vor uns der 62ste Geburtstag meines Neffen, mein eigener Geburtstag und der meiner Cousine (in Reich- und Sichtweite), der fünfte Geburtstag meines Enkels und die erneute Furcht vor einem Heißjahr – möglicherweise heißer als der vergangene Rekordjahr.

Nun stört mich der jung aus dem Leben geschiedene Jean Amery (1912-1978) auf, indem er sich auf den – Amery schreibt im Sommer 1968 (ja er markiert und schreibt sein Schreiben in die uns gewohnte Chronifizierung ein) – „in diesen Tagen (1968) schon uralten, vogelköpfigen Engländer“ bezieht und ein von ihm „aufgegebens, erheiterndes Paradoxon“ erneut in den Raum stellt (gemeint ist Bertrand Russell <1872-1970>):

Michael Kleeberg - Dämmerung oder Sonnenfinsternis?

So wie am 21. Juni eines jeden Jahres Melancholia – aus einem gleichermaßen naheliegenden wie individuell nachvollziehbaren Grund – das Zepter übernahm, so durchströmte mich am 21. Dezember eines jeden Jahres ein verhaltenes, gleichwohl belebendes Aufatmen. Der längste Tag und die längste Nacht begründeten ein homöostatisches Schwebegefühl; die Illusion einer Balance verbunden mit der Suggestion, in den unvorhersehbaren Wellenbewegungen im Ozean des Lebens übers ganze Jahr gesehen, doch ein vermeintlich erträgliches Gleichgewicht aufrecht erhalten zu können.

Dies ist seit dem 21. Dezember 2023 anders – so grundlegend anders, dass ich nun in der Gewissheit leben muss, die Sonne niemals mehr in meinem Leben zu erblicken. Gleich einem neuen Himmelsgestirn verdeckt seither – ganz offenkundig in einer noch kaum fassbaren Endgültigkeit - Michael Kleebergs Dämmerung die Sonne. Nur noch das schwache Leuchten der Korona nährt die Illusion, man habe es vielleicht doch nur mit einem zeitweiligen Ereignis, wie bei einer totalen Sonnenfinsternis zu tun. Am 21. Dezember 2023 las ich Kleebergs Epilog, mit dem Charly endgültig in den Glutofen des Krematoriums geschoben wurde, den Michael Kleeberg auf den letzten der 477 Seiten zu seiner endgültigen Betriebstemperatur hochfährt.

Navid Kermani: Kapitel 17 - Die Geburt der Enkel

und ganz nebenbei: die Geburt der Großväter

Enkel scheinen eine Spezies aus eigenem Recht zu sein. So erfahre ich es in Navid Kermanis neuem Roman das alphabet bis S. Es ist Winter, Tag 17 in einem langen Jahr. Ich selbst stehe noch - mitten im Winter, der kein Winter ist - unter dem Eindruck der Dämmerung, in der der Erzähler (Michael Kleeberg) seinem Protagonisten Charly (Karlmann Renn) zuletzt attestiert, er sei halt "ein Produkt dieser Zeit gewesen, auf nie wirklich reflektierte, problematisierte Weise, sondern in existenzieller Harmonie mit ihr". Auf diese Weise gelingt ein Leben, dessen Widersprüche und Fragwürdigkeiten (bzw. deren Reflexion) dem Erzähler zur zeit- und individualgeschichtlichen Analyse vorbehalten sind. Navid Kermanis Protagonistin hingegen ist die Intellektuelle, die Zeitgeschichte und eigenes Scheitern minutiöser (Selbst-)Analyse unterzieht. Dabei werden mir Reflexionen geschenkt, die ich heute hier unter dem Titel Die Geburt der Enkel anmerke:

Markus Deggerich: Fast hätte ich meine Mutter umgebracht (SPIEGEL 52/23, S.94-95)

Wie mir am Heiligen Abend noch eine Weihnachtsgeschichte geschenkt wurde(:-)) - oder: Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott

Vorbemerkung: Nach der gestrigen kurzen Würdigung der lebenslangen Forschungsbemühungen des Forscher- und Ehepaares Karin und Klaus Grossmann blieb als ein Schlüsselbegriff  vermeidendes Verhalten im Gedächtnis, das entsteht, wenn ein Kind keine Schwäche zeigen darf und negative Gefühle mit sich ausmachen muss. Seit langem leistete ich mir gestern die aktuelle Ausgabe des SPIEGEL, weil sie aus gegebenem Anlass mit dem Titel aufwartete: Für immer Sohn – Wie Mütter das Leben von Männern prägen

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.